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Fünf Jahre Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland

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Seit dem 1. Mai 2011 können Menschen aus den acht mittelosteuropäischen EU-Beitrittsländern ohne Einschränkungen in Deutschland arbeiten. Ob in Deutschland arbeitende EU-Bürger auch Anspruch auf Sozialleistungen haben, wird kritisch diskutiert.

Rumänische und polnische Erntehelfer ernten auf einem Gurkenflieger in Brandenburg Einlegegurken. (© picture-alliance/dpa)

Als letzte der ehemaligen EU-15-Länder öffneten Deutschland und Österreich am 1. Mai 2011 ihre Arbeitsmärkte für Bürgerinnen und Bürger aus den acht mittelosteuropäischen Staaten (MOE-Staaten), die im Jahr 2004 der Union beigetreten waren. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die EU-Bürgerinnen und -bürgern den Zutritt zu Arbeitsmärkten in anderen Ländern der EU erlaubt, galt damit auch für Menschen aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Slowenien, der Tschechischen Republik und Ungarn (sogenannte EU-8-Staaten). Am 1. Januar 2014 wurde die Arbeitnehmerfreizügigkeit auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Bulgarien und Rumänien und am 1. Juli 2015 auf Menschen aus Kroatien ausgeweitet.

Politische Debatten im Vorfeld

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist in den Artikeln 45-48 des Externer Link: Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) festgelegt. Bei der Interner Link: EU-Osterweiterung im Jahr 2004 war die Arbeitnehmerfreizügigkeit umstritten. Insbesondere Deutschland und Österreich hatten Bedenken geäußert. So hatte etwa die deutsche Regierung befürchtet, dass eine vollständige Öffnung der Arbeitsmärkte den heimischen Arbeitsmarkt übermäßig belasten und zu sinkenden Löhnen führen würde. In der Beitrittsakte der MOE-Beitrittskandidaten wurde daher eine Übergangsregelung für die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeführt. Den damaligen EU-15-Staaten wurde die Möglichkeit eingeräumt, ihre Arbeitsmärkte für die Neumitglieder bis zu sieben Jahre lang einzuschränken.

Die EU-Mitgliedstaaten wendeten die Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit unterschiedlich an. Während Großbritannien, Irland und Schweden ihre Arbeitsmärkte zeitgleich mit dem Beitritt der neuen EU-Mitglieder im Jahr 2004 geöffnet hatten, schöpften Deutschland und Österreich die geltenden Übergangsfristen von maximal sieben Jahren (Übergangsregelung 2+3+2 Jahre) voll aus. Im Falle Kroatiens verzichtete Deutschland zwei Jahre nach dem Beitritt des Balkanstaats darauf, die Einschränkung zu verlängern.

Studien waren davon ausgegangen, dass nach der vollständigen Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes die Zahl der Zuwanderinnen und Zuwanderer aus MOE-Staaten zwischen 160.000 und 380.000 Personen im Jahr liegen werde. Die tatsächliche Zuwanderung aus den EU-8-Staaten nach Deutschland war nach Angaben des zur Bundesagentur für Arbeit gehörenden Externer Link: Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ein Jahr nach Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit jedoch mit rund 79.000 Neuzuzügen wesentlich geringer. Besonders hoch war und ist die Nettozuwanderung (sie berechnet sich aus der Differenz von Zu- und Fortzügen) nach Deutschland aus Rumänien, Polen, Bulgarien, Kroatien und Ungarn.

Sozialleistungen für EU-Ausländer

Zu den temporären Einschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit hatten auch Bedenken beigetragen, eine übermäßige Zuwanderung würde die Sozialsysteme der Zielländer belasten. Staatsangehörige anderer EU-Länder haben laut EU-Recht in Deutschland grundsätzlich einen Anspruch auf Sozialleistungen, eines der wichtigsten ist dabei das Kindergeld. Leistungen gemäß Interner Link: Sozialgesetzbuch (SGB) XII für die Sozialhilfe sowie des SGB II für das Arbeitslosengeld II (ALG II) stehen EU-Ausländern aber nicht bedingungslos zu.

So fügte der deutsche Gesetzgeber bereits im Jahr 2007 eine Ausschlussklausel in das Sozialgesetzbuch ein, nach der das Interner Link: ALG II nicht gewährt wird, wenn sich Ausländerinnen und Ausländer ausschließlich zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland aufhalten. Weil deutsche Sozialgerichte dies jedoch in der Folge unterschiedlich werteten, prüfte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Klausel. Im September 2015 entschied der EuGH auf Vorlage des Bundessozialgerichts, dass der Leistungsausschluss mit dem EU-Recht vereinbar ist und EU-Bürgerinnen und -bürger von Hartz-IV-Leistungen generell ausgeschlossen werden können, wenn sie keine Arbeit suchen oder noch auf der Suche nach einer Erstbeschäftigung seien. Für EU-Bürger, die weniger als ein Jahr in Deutschland gearbeitet haben, könne der ALG II-Anspruch auf sechs Monate begrenzt werden. Laut einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom Dezember 2015 können die von der Regelung betroffenen Menschen dennoch Sozialhilfeleistungen und bei einem Aufenthalt von mehr als sechs Monaten zumindest regelmäßig Hilfe zum Lebensunterhalt bekommen.

Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) sind EU-Ausländerinnen und -ausländer aus den neuen osteuropäischen Mitgliedsländern seltener (13,2 Prozent) auf SGB-II-Leistungen als in Deutschland lebende Ausländerinnen und Ausländer insgesamt (17,6 Prozent) angewiesen, jedoch häufiger als deutsche Staatsangehörige (6,9 Prozent) (Stand Januar 2016). Ein ähnliches Verhältnis gilt auch für die Arbeitslosenquoten. Die Beschäftigung von Personen aus einem der neuen EU-Mitgliedstaaten lag Anfang 2016 um 177.000 oder 21 Prozent höher als vor einem Jahr. Die Zahl der Arbeitslosen in dieser Gruppe ist im letzten Jahr um 16.000 oder 16 Prozent und der Leistungsbezug im SGB II um 51.000 oder 24 Prozent angestiegen.

Ausbeutung von Beschäftigten aus den MOE-Staaten

Untersuchungen von arbeitnehmernahen Stiftungen und Gewerkschaften weisen darauf hin, dass in einigen Branchen die Situation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus den mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten ausgenutzt werde, um Mindeststandards der Arbeitsbedingungen sowie herrschende Tarifverträge zu umgehen.

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