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Proteste in Iran

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Seit Ende Dezember protestieren Menschen in Iran. Zunächst gingen sie vor allem gegen Armut, Arbeitslosigkeit und die schlechte Versorgungslage auf die Straße. Doch längst richtet sich die Unzufriedenheit gegen das politische System und seine religiöse Ordnung.

Eine Studentin protestiert am 30. Dezember 2017 in der Universität Teheran gegen das politische System. (© picture-alliance/AP)

Es waren Arbeiter und Arbeitslose, die in mehreren Städten Irans Ende Dezember 2017 als erste auf die Straßen gingen und protestierten. In den Monaten zuvor hatten sich die Preise für Benzin und Nahrungsmittel massiv erhöht. Neben den prekär beschäftigten Arbeitern, die teils keinen oder nur verspätet Lohn erhalten hatten und den am Existenzminimum lebenden Arbeitslosen, schlossen sich viele Rentner den Protestaufrufen an.

Iran leidet unter hoher Jugendarbeitslosigkeit

Schätzungen der iranischen Wohlfahrtsorganisation Khomeini Relief Foundation zufolge lebten Ende 2017 bis zu 40 Prozent der Bevölkerung in Iran unter der Armutsgrenze, die Weltbank ging 2014 von rund 10 Prozent aus. "Vor allem die Armen gehen auf die Straße. Es sind jene, die entweder nahe dem Verhungern sind oder ihre bescheidenen Existenzen in akuter Gefahr sehen", sagt Behrouz Khosrozadeh, Politologe und Iran-Experte an der Universität Göttingen. Arbeitslosigkeit, Armut und fehlende soziale Gerechtigkeit sind für ihn die Hauptgründe für die derzeitigen Proteste. Im Gegensatz dazu seien die Massenprotesten gegen die vermuteten Manipulationen bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2009 im Wesentlichen von der Mittelschicht ausgegangen.

Diese Sichtweise teilt auch der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Offiziellen Zahlen zufolge ist derzeit jeder vierte Jugendliche in Iran als arbeitslos registriert. Fathollah-Nejad geht von 40 Prozent aus. "In einem Land, in dem ein großer Teil der Bevölkerung unter 25 ist, sorgt das natürlich für enormen Frust", sagt er. Dennoch hat die Regierung im Dezember für den Haushalt weiterhin immense Summen für den Sicherheitsapparat und religiöse Stiftungen bewilligt.

Das politische System der Islamischen Republik Iran

Zuverlässige Schätzungen zu der Zahl der Protestierenden sind kaum möglich. Da der iranische Rundfunk fest in staatlicher Hand ist und die sehr wenigen eher reformorientierten Zeitungen einer weitgehenden Zensur unterliegen, dringen zu der aktuellen Lage nur wenige verifizierbare Informationen nach außen. Die Führung des Landes bemüht sich zunehmend um eine Einschränkung des Informationsflusses. Vizegeneralstaatsanwalt Abdul-Samad Chorramabadi forderte am Mittwoch, die sozialen Medien komplett zu blockieren.

Das politische System Irans

Iran hat gut 84 Millionen Einwohner und wird seit 1979 als Islamische Republik regiert. Etwa 90 Prozent der Einwohner Irans sind schiitische Muslime, ungefähr 10 Prozent sind sunnitsche. Das politische System des Landes beinhaltet formal sowohl republikanisch-demokratische als auch theokratisch-autoritäre Elemente.

Die Macht des Parlaments und der Regierung sind eng begrenzt. An der Spitze des iranischen Staats steht gemäß der Verfassung der oberste Religionsführer, auch "Revolutionsführer", Rahbar genannt – auf ihn konzentriert sich eine erhebliche Machtfülle. Seit 1989 ist Ajatollah Ali Chamenei „Rahbar“ und damit auch oberster Rechtsgelehrter. Der "Rahbar" kontrolliert die Streitkräfte sowie das Justizsystem, auch ist er die entscheidende Instanz beim Festsetzen der Leitlinien der Innen- und Außenpolitik.

Der Klerus kontrolliert auch die in Iran als eine Art Staat im Staate besonders mächtigen paramilitärischen Milizen. Einflussreich sind etwa die Revolutionsgarden, die Pasdaran, eine der geistlichen Führung verpflichtete Elitegarde. Manche Milizen wie die Bassidsch fielen in der Vergangenheit durch ihr äußerst brutales Vorgehen gegen Oppositionelle oder Protestierende auf. Ein Expertenrat hat die Aufgabe, die Arbeit des obersten Religionsführers zu kontrollieren. Dessen Mitglieder werden zwar formell vom Volk gewählt. Ein Wächterrat bestimmt jedoch, wer kandidieren darf.

Der Wächterrat untersteht wiederum direkt dem Rahbar – die sechs geistlichen Mitglieder bestimmt er selbst. Bei der anderen – aus Juristen bestehenden – vom Parlament gewählten Hälfte hat das von ihm kontrollierte Oberhaupt des Justizsystems das Vorschlagsrecht. Eine wirksame rechtsstaatliche Kontrolle des obersten Geistlichen besteht deshalb nicht.

Iran ist seit 1979 als islamische Republik organisiert. An seiner Spitze steht nicht der Präsident, sondern der oberste Religionsführer – Ajatollah Ali Chamenei. Hassan Rohani, der seit 2013 Präsident ist, wurde von vielen westlichen Beobachtern und Medien lange als Reformer im religiösen Staat gesehen. Politologe Fathollah-Nejad sieht das anders: „Er ist Teil der etablierten Elite der Islamischen Republik. Hier hatten Teile des Westens eine falsche Vorstellung. Rohanis Haushaltspläne spotten zudem den von ihm zuletzt lauthals verkündeten Versprechen von sozialer Gerechtigkeit“. Rohanis liberale Reformen erstreckten sich bislang vor allem auf das Wirtschaftssystem. Während ökonomische Kennziffern wie das Bruttoinlandsprodukt vor allem durch den Ölexport ein gutes Bild liefern, halfen die Maßnahmen nicht gegen die hohe Arbeitslosigkeit und die Stagnation anderer Wirtschaftsbereiche.

Proteste richten sich auch gegen geistliche Führung

Die im Dezember aufflammenden sozio-ökonomischen Forderungen wurden schnell mit politischen Appellen verbunden. Längst verlangen viele der Protestierenden weitgehende Reformen oder sogar einen kompletten Wechsel des politischen Systems. Die Wut einiger Protestierenden richtet sich nun auch gegen Chamenei: "Tod dem Diktator", skandierten aufgebrachte Demonstranten und zündeten dessen Bildnisse an.

Die Proteste werden von vielen jungen Menschen getragen, verliefen Experten zufolge bislang aber ohne exponierte Führungsfiguren "Der Protest richtet sich diesmal gezielt gegen das gesamte islamische Regime", analysiert der Journalist und Politikwissenschaftler Kamran Safiarian im "Deutschlandfunk". Die Wissenschaftler Khosrozadeh und Fathollah-Nejad stützen diese Einschätzung. Iran sei kein demokratisches Land, sondern würde von einer „ quasi oligarchische fraktionsübergreifende Elite aus Klerikern, Militärs und Reichen“ beherrscht. Wer demokratische Reformen des politischen Systems wolle, werde vom Klerus nicht zu Wahlen zugelassen. So hatte der von Anhängern des religiösen Oberhaupts Ajatollah Ali Chamenei dominierte Wächterrat im Jahr 2009 bei der Präsidentschaftswahl acht von 1.010 Bewerbern die Eignung als Kandidaten bescheinigt, im Jahr 2013 waren es acht von 686 und 2017 sechs von 1.636. Auch der Einfluss des Parlaments ist begrenzt.

Verlauf der Proteste

Gut 90 Städte, inklusive Teheran, wurden zwischenzeitlich von den Unruhen Ende Dezember und Anfang Januar erfasst. In Teheran und Großstädten wie Kermanschah und Gorgan protestierten Anfang Januar ebenfalls tausende Menschen für die Regierung. Im Gegensatz zu den oppositionellen Protesten wurde über diese gezielte Mobilisierung der Regierungs-Unterstützer im Staatsfernsehen breit berichtet.

Bei Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und regimekritischen Demonstranten gab es eine unbestimmte Zahl an Toten – mindestens zwölf Opfer wurden vom Staatsfernsehen bestätigt, andere Quellen geben 21 Tote und darunter 16 Demonstranten an. Die Nachrichtenagentur des iranischen Parlaments icana.ir berichtete von 3.700 Festnahmen und bezog sich dabei auf Aussagen des Anwalts Mahmoud Sadeghi.

In Konflikt gerieten die Protestierenden nicht nur mit der Polizei, sondern auch mit den Brigadisten der Interner Link: iranischen Revolutionsgarden (IRGC). Das neben der regulären Armee bestehende Heer unter dem Kommando von Generalmajor Mohammad Ali Dschafari besitzt einen hohen wirtschaftlichen Einfluss, agiert weitgehend unabhängig und ist schon 2009 gewaltsam gegen Protestierende vorgegangen.

Fathollah-Nejad sieht "Parallelen zum Arabischen Frühling zu Beginn des Jahrzehnts". Tatsächlich ähneln sich die Kernforderungen der Protestierenden nach sozialer Gerechtigkeit und einem Systemwechsel. "So wie damals in Tunesien ist es durchaus möglich, dass das Regime am Ende gestürzt wird", so der Politologe.

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