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Vor 80 Jahren: Einmarsch der Wehrmacht in Österreich – Wie heute dort an den "Anschluss" erinnert wird | Hintergrund aktuell | bpb.de

Vor 80 Jahren: Einmarsch der Wehrmacht in Österreich – Wie heute dort an den "Anschluss" erinnert wird

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Am 11. März 1938 befahl Adolf Hitler den Einmarsch nach Österreich. Damals bejubelten viele Österreicher den „Anschluss“ an das Deutsche Reich. Nach Kriegsende präsentierte sich die neu gegründete Zweite Republik hingegen als Opfer. Wie wird heute an die Rolle des Landes während des Nationalsozialismus erinnert?

Deutsche Truppen am 12. März 1938 in Österreich. (© picture alliance/Heritage Images)

Seit dem Ende des Interner Link: Ersten Weltkriegs hofften große Teile der Bevölkerung im Deutschen Reich und in der Republik Österreich auf die Vereinigung beider Staaten – die alliierten Siegermächte untersagten dies aber. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich am 30. Januar 1933 versuchten auch Nationalsozialisten in Österreich am 25. Juli 1934 einen Putsch. Dieser wurde von Interner Link: Hitler unterstützt, war aber erfolglos.

1938, im Rahmen der Expansionspläne der deutschen Nationalsozialisten nach Ost- und Mitteleuropa, war Österreich das erste Land im Visier der NSDAP. Am 12. Februar 1938 traf Hitler den österreichischen Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg und wollte ihm eine Vereinbarung aufzwingen, durch die die österreichischen Nationalsozialisten, die in Österreich seit 1933 verboten waren, wieder zu gelassen und zudem an der Regierung beteiligt werden sollten.

Widerspruch von Schuschnigg

Doch Schuschnigg wehrte sich. Er wollte seine diktatorische Macht, in dem von ihm 1934 eingeführten austrofaschistische "Ständestaat" – ein autoritäres, an den italienischen Faschismus angelehntes, Ein-Parteien-System, das ständestaatlich organisiert war - nicht aufgeben. So kündigte er eine Volksabstimmung für die Unabhängigkeit Österreichs an. Hitler setzte daraufhin ein militärisches Ultimatum: Schuschnigg sollte sein Amt dem Anführer der österreichischen Nationalsozialisten, Arthur Seyß-Inquart, übergeben. Ansonsten erfolge der Einmarsch deutscher Truppen. Schuschnigg versuchte vergeblich, Unterstützung von den Westmächten zu erhalten. Am 11. März 1938 trat er schließlich zurück. Als sich am selben Tag Österreichs Bundepräsident Wilhelm Miklas weigerte, Seyß-Inquart zum österreichischen Bundeskanzler zu ernennen, erließ Hitler den Interner Link: Einmarsch-Befehl.

Judenverfolgung in Österreich

Am Morgen des 12. März 1938 überquerte die Wehrmacht die Grenze zu Österreich – und stieß auf keinerlei Widerstand. Im Gegenteil: Die deutschen Truppen wurden begeistert begrüßt. Drei Tage später verkündete Hitler vor über hunderttausend jubelnden Menschen auf dem Heldenplatz in Wien den "Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich. In einer "keinesfalls nach freien und demokratischen Grundsätzen vollzogenen Volksabstimmung“, wie Claudia Prinz für das Externer Link: Deutsche Historische Museum schreibt, stimmten am 10. April 1938, nach offiziellen Angaben, 99,73 Prozent der österreichischen Bevölkerung und 99,01 Prozent der Deutschen für den "Anschluss". In der "Ostmark", wie Österreich nun genannt wurde, kam es zu massiven Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. In den ersten sechs Wochen nach dem '"Anschluss" wurden über 70.000 Juden und Jüdinnen verhaftet. Am 1. April 1938 begannen die Transporte in das Interner Link: Konzentrationslager Dachau.

Alliierte: "Opfer Österreich"

Während des Interner Link: Zweiten Weltkrieges erklärten Großbritannien, die USA und die Sowjetunion in der sogenannten Moskauer Deklaration von 1943 die Besetzung Österreichs für "null und nichtig“. Österreich sei "das erste freie Land“, das Hitlers Angriffspolitik "zum Opfer“ gefallen sei. In der Deklaration steht aber auch, dass Österreich "für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung" trage. Doch die Klausel zur Verantwortung Österreichs geriet schnell in Vergessenheit. Das Narrativ, dass Österreich das erste Opfer Hitlers war, war zunächst weitaus dominanter als die Frage der Mitschuld. Als das Land mit dem Staatsvertrag von 1955 seine Souveränität wiedererlangte, gelang es dem österreichischen Außenminister Leopold Figl, den Hinweis zu Österreichs Mitverantwortung aus dem Dokument zu streichen. "Erst mit der Waldheim-Affäre 1986 geriet diese [Opferthese] ins Wanken, und 1991 bekannte sich mit Bundeskanzler Vranitzky erstmals ein offizieller Vertreter zur Mitschuld Österreichs", schrieb Meret Baumann, Österreich-Korrespondentin der "Neuen Zürcher Zeitung", im Mai 2015. Als Waldheim-Affäre wird die internationale Debatte um die Beteiligung des damaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheims an nationalsozialistischen Kriegsverbrechen in der Wehrmacht, bezeichnet. Seine Wehrmachtvergangenheit bewirkte eine erste größere öffentliche Auseinandersetzung mit der österreichischen NS-Vergangenheit.

Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018

Im österreichischen Jubiläumsjahr 2018 – in dem unter anderem die Gründung der Republik vor 100 Jahren gefeiert wird – steht auch der "Anschluss" im Fokus des öffentlichen Interesses. Bereits 2016 wurde von Österreichs Bundesregierung ein "Beirat für das Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018" unter dem Vorsitz von Altbundespräsident Heinz Fischer eingerichtet. Dieser hat die Website Externer Link: www.oesterreich100.at initiiert, auf der neben Informationen zum "Anschluss“ und zum Novemberpogrom von 1938 auch zahlreiche Veranstaltungen zum Thema aufgeführt sind. Eines der innovativsten Projekte ist die Externer Link: "Zeituhr 1938“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Ab 11. März, 18 Uhr, werden 220 Schlüsselereignisse des "Anschlusses" in chronologischer Abfolge dargestellt – als Projektion auf die Fassade des Bundeskanzleramts, als Liveticker im Internet und als digitale Ansichtskarten für das Smartphone. Diese multimediale Aufbereitung des "Anschlusses“ soll vor allem junge Menschen erreichen und sie zu einer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit Österreichs anregen.

ÖVP-FPÖ-Regierung: "Paradigmenwechsel"

Hinsichtlich der "kollektiven Erinnerung“ des "Anschlusses“ gibt es in Österreich aus Politik und Wissenschaft ähnliche Einschätzungen. Die seit Dezember 2017 amtierende ÖVP-FPÖ-Regierung diagnostiziert "in der österreichischen Politik der letzten Jahrzehnte einen Paradigmenwechsel“ – wie das Bundeskanzleramt auf Nachfrage mitteilt. Es bestehe heute die "Einsicht, dass Österreich nicht nur Opfer der nationalsozialistischen Aggression war, sondern dass auch Österreicher in die NS-Verbrechen und in die Shoa involviert“ gewesen seien.

Historikerin: "Mehrdimensionales Geschehen"

Aus Sicht der Historikerin Heidemarie Uhl von der Externer Link: Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist der Opfermythos "kaum noch relevant“. Der "Anschluss“ werde mittlerweile als "mehrdimensionales Geschehen“ gesehen. Heute stehe die "Mitverantwortung der Österreicherinnen und Österreicher“ im Vordergrund. Zum überwiegenden Teil werde der "Anschluss“ sicherlich nach wie vor als deutsche Invasion erinnert, ergänzt der Politologe und Historiker Florian Wenninger von der Universität Wien. "Anders als früher ist es aber kein Tabu mehr, darüber zu sprechen, dass dieser militärische Einmarsch frenetisch bejubelt wurde.“ Es gebe ein gestiegenes Bewusstsein, dass die Schuschnigg-Regierung "kein hehres Abwehrprojekt gegen den Nationalsozialismus war, sondern eine in weiten Teilen der Bevölkerung reichlich unpopuläre, gegenüber Hitler stümperhaft agierende Diktatur“.

Zu erforschen: "Innerer Anschluss" und Pogrom

Sowohl Uhl als auch Wenninger stimmen darin überein, dass zwei Punkte noch aufzuarbeiten seien. "Was uns am ehesten fehlt, ist einerseits eine Auseinandersetzung mit dem ‚inneren Anschluss’, also mit dem Umstand, dass bei der Ankunft deutscher Truppen vielerorts ja bereits lokale Nazis die Macht übernehmen konnten“, so Wenninger. "Wie das austrofaschistische System implodierte und Nazis so schnell das Zepter des Handelns übernehmen konnten, sollte mehr Aufmerksamkeit verdienen.“ Andererseits schockiere "die unmittelbar einsetzende Jagd auf die jüdische Bevölkerung“ nach wie vor massiv, hebt Uhl hervor. "Das ‚Anschluss’-Pogrom wurde nicht von oben angeordnet.“ So wurden Jüdinnen und Juden im März 1938 gezwungen, Wiens Straßen zu "reinigen". Sie sollten Plakatwände, Litfaßsäulen und Schaufenster von Werbung, für die von dem abgesetzten Bundeskanzler Kurt Schuschnigg geplante Volksbefragung über die Selbständigkeit Österreichs am 13. März 1938, entfernen. Ganz normale Wiener hätten die Juden verhöhnt und gezwungen, die Straßen zu säubern. Die Säuberungsaktion "wurde zur Volksbelustigung“.

"Anschluss" im Schulbuch präsent

Im österreichischen Bildungswesen sei seit den 1970er Jahren eine intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Verantwortung Österreichs als verpflichtender Lehrstoff im Unterricht verankert, heißt es aus dem österreichischen Bundesbildungsministerium. Zum "Anschluss“-Gedenken 2018 sei für Schulen eine Externer Link: Lern-Website entwickelt worden. Im Zentrum des Projekts stehen Auszüge aus Video-Interviews mit sieben österreichischen Zeitzeugen und Zeitzeuginnen. Darin berichten sie, wie sie den Terror der NS-Zeit überleben konnten. "Das Thema ‚Anschluss’ ist in jedem österreichischen Geschichtsbuch enthalten“, bestätigt Professor Wolfgang Buchberger, Leiter des Bundeszentrums für Gesellschaftliches Lernen an der Pädagogischen Hochschule Salzburg. "Besonders werden die politischen Ereignisse im Jahr 1938 rund um den sogenannten Anschluss beschrieben, die Massenbegeisterung bei Hitlers Rede am Wiener Heldenplatz, die nicht als frei zu bezeichnende Volksabstimmung vom 10. April und vor allem im Zusammenhang damit der österreichische Opfermythos.“

Warnung vor personalisierendem Geschichtsbild

Der ministeriell bestellte Schulbuch-Gutachter Buchberger warnt aber auch: In seltenen Fällen sei in Schulbüchern noch eine personalisierte Darstellung des Nationalsozialismus vorhanden – "in dem Sinne, dass Hitler als allesumfassendes politisches Agens auftritt“. Auch wenn der einseitige Hitler-Mythos im Schulbuch gebrochen sei, müsse im Geschichtsunterricht mehr auf die Vermeidung von Personifizierungen geachtet werden. Denn laut einer Salzburger Studie zu "Umgang mit Nationalsozialismus, Holocaust und Erinnerungskultur“ in der Schule von 2017 sollen Schüler und Schülerinnen "tendenziell ein personalisiertes Geschichtsbild an den Tag legen“. Auch der Opfermythos sei demnach unter Schülern und Schülerinnen durchaus präsent, sagt der Geschichts- und Politikdidaktiker Buchberger. "Dem muss klar entgegengewirkt werden.“

Externer Link: In einer Studie der österreichischen Zeitung "Der Standard" von 2013 sahen noch immerhin 42% der Befragten Österreich hinsichtlich des "Anschlusses“ an Deutschland in einer Opferrolle. 61% waren zudem der Ansicht, dass die NS-Zeit in Österreich bereits ausreichend aufgearbeitet wurde. Das Externer Link: Simon-Wiesenthal-Zentrum (jüdische, politische tätige internationale Nicht-Regierungs-Organisation) hatte die österreichischen Behörden zudem bezüglich der Verfolgung von NS-Tätern in einem Bericht von 2017 kritisiert. Sie warfen den österreichischen Behörden mangelnden politischen Willen vor, da in einem Zeitraum von vierzig Jahren kein einziger NS-Kriegsverbrecher vor einem Gericht in Österreich verurteilt wurde.

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