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Vor 75 Jahren: Das Massaker von Kalavrita

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Am 13. Dezember 1943 ermordeten Soldaten der Deutschen Wehrmacht im griechischen Dorf Kalavrita hunderte Zivilisten. Es war nicht das einzige Massaker im besetzten Griechenland. Der Streit um Entschädigungen für die Opfer belastet bis heute das Verhältnis zwischen beiden Ländern.

Oberhalb des Ortes Kalavrita (oder: Kalavryta) wurde eine Gedenkstätte errichtet, die an die Männer und Jugendlichen des Ortes erinnert, die bei einer Vergeltungsaktion für den Tod von 81 deutschen Soldaten am 13. Dezember 1943 exekutiert wurden. (© picture-alliance)

Deutsche und österreichische Soldaten der 117. Jäger-Division fuhren am Morgen des 13. Dezember 1943 mit der Zahnradbahn nach Kalavrita. Darüber, was dann in dem griechischen Bergdorf passierte, gibt es im Detail unterschiedliche Versionen. Klar ist: Die Wehrmacht verübte hier über fünf Stunden hinweg eines der schlimmsten Kriegsverbrechen in Südosteuropa während des Zweiten Weltkriegs. Die Soldaten ermordeten mehrere Hundert Menschen in der heute über 2.000 Einwohner zählenden Ortschaft.

Über die exakten Opferzahlen gibt es bis heute unterschiedliche Angaben. Im Ort selbst töteten die Soldaten wohl zwischen 600 und 800 Menschen – in manchen Berichten ist von weniger, in manchen von noch mehr ermordeten Dorfbewohnern die Rede . Unstrittig ist, dass die Wehrmacht fast alle Männer und Jungen im aus ihrer Sicht wehrfähigen Alter erschoss. "Stadt der Witwen" wird der Ort seither genannt.

Laut dieser Meldung der 117. Jäger-Division vom 31. Dezember 1943 an das Generalkommando des LXVIII. Armee-Korps wurden während des "Unternehmens Kalavrita" 696 Personen erschossen. (© Hermann Frank Meyer: Von Wien nach Kalavryta. Die blutige Spur der 117. Jäger-Division durch Serbien und Griechenland, Mannheim: Peleus, 2002, mit freundlicher Genehmigung vom BIBLIOPOLIS-Verlag / Verlag Franz Philipp Rutzen)

"Die Soldaten sperrten Frauen und Kinder in die Dorfschule", sagt der Geschichtsforscher Hans-Dieter Hammel, der sich intensiv mit dem Massaker beschäftigt hat. Später zündeten die Angreifer die Schule und weite Teile des Dorfs an – durch bis heute nicht abschließend geklärte Umstände konnten die eingepferchten Frauen und Kinder jedoch entkommen.

Rechnet man die Opfer in den ebenfalls niedergebrannten Dörfern und Klöstern der Umgebung hinzu, lag die Zahl der Toten möglicherweise sogar bei über 1.000. " Die Soldaten haben extrem schlimm gewütet", so Hammel. Unter den Toten seien auch viele Mönche gewesen.

Vor den willkürlichen Ermordungen von Kalavrita hatten griechische Partisanen 81 Soldaten gefangen genommen und umgebracht. Das Kalavrita-Massaker war eine gezielte Vergeltungsaktion für die Tötung dieser Kriegsgefangenen.

Die deutsche Besatzung Griechenlands forderte hunderttausende Opfer

Nach der brutalen Eroberung Griechenlands durch die Wehrmacht 1941 beutete das Nazi-Regime das Land systematisch aus. Am 28. Oktober 1940 waren zunächst italienische Einheiten in das Land eingefallen. Den militärtechnisch unterlegenen Griechen gelang es jedoch, die faschistischen Truppen zurückzuschlagen. Im April 1941 griff Italiens Verbündeter Deutschland ein und eroberte das Festland sowie die Inseln innerhalb weniger Wochen. Große Teile Griechenlands überließ die NS-Führung ihren Verbündeten – die strategisch besonders wichtigen sowie mehrere rohstoffreiche Regionen behielten die Deutschen jedoch für sich.

Georgios Dimopoulos, ein Überlebender des Massakers von Kalavrita, zum Zeitpunkt der Aufnahme im März 2015, 85, Jahre alt, vor den Fotografien seines Vaters (vierte Reihen fünfte Spalte) und seines Onkels (fünfte Reihe, dritte Spalte) im Holocaust Museum von Kalavrita. (© picture-alliance/AP)

Nicht nur in den Bergregionen Griechenlands schlossen sich viele Griechen dem kommunistisch dominierten Widerstand an. Wichtigste Organisation war die Nationale Befreiungsfront (EAM), die mit ihrer Partisanenarmee ELAS ab Sommer 1943 operative Bedeutung erlangte. Die extrem brutalen Vergeltungsmaßnahmen der Wehrmacht gegen deren Überfälle verstärkten den Zulauf noch.

Schätzungen zufolge wurden im Partisanenkrieg und bei Vergeltungsaktionen von deutschen, italienischen und bulgarischen Truppen etwa 70.000 bis 80.000 Griechen getötet. Die deutschen Besatzer ermordeten fast 90 Prozent der griechischen Juden. Damit wurden etwa 60.000 Menschenleben ausgelöscht. Zudem fielen als Folge der Besatzung mehrere hunderttausend Menschen Hungersnöten zum Opfer.

Die Liste der Gewaltexzesse ist lang

Die Liste der Gewaltexzesse des deutschen Militärs an griechischen Zivilisten ist lang. Im 1.800-Einwohner-Ort Distomo ermordeten SS-Panzergrenadiere am 10. Juni 1944 über 200 Menschen. Das älteste Opfer war 85, das jüngste zwei Monate alt. Zuvor hatten Partisanen drei Deutsche getötet und 18 weitere verletzt.

In Viannos auf Kreta töteten deutsche Truppen mehr als 400 Zivilisten. Weitere Massaker mit zum Teil mehreren Hundert Toten richtete die Wehrmacht zwischen 1941 und 1944 unter anderem in Kandanos, Paramythia, Klissura, Pyrgi, Mousiotitsas, Kommeno und Kedros an. 1943 massakrierten deutsche Gebirgsjäger im griechischen Dorf Lyngiades 82 Frauen, Greise und Kinder.

In kaum einem Land außerhalb Osteuropas wüteten die deutschen Einheiten und ihre Verbündeten so extrem wie in Griechenland. Auch die beiden weiteren Besatzernationen Italien und Bulgarien gingen brutal gegen die Bevölkerung vor, die Wehrmacht galt jedoch als besonders erbarmungslos.

Zugleich hetzte das NS-Regime ab 1943 in dem Land kommunistische und antikommunistische Bevölkerungsteile mit gezielter Propaganda gegeneinander auf. So begünstigten die Nazis auch den ab 1946 drei Jahre wütenden Bürgerkrieg. Im Jahr 1944 befreiten die Alliierten weite Teile Griechenlands, der Rest folgte 1945.

Reparationsansprüche in Milliardenhöhe

Eine Konferenz der Siegermächte in Paris errechnete im Februar 1946 einen Anspruch Griechenlands auf Reparationen in Höhe von über sieben Milliarden US-Dollar. Zudem sorgt die Diskussion um eine Zwangsanleihe in Höhe von rund 500 Millionen Reichsmark, die die griechische Kollaborationsregierung den NS-Besatzern gewährt haben soll, bis heute für Streit. In den vergangenen Jahren forderten griechische Politiker diese Anleihe und Reparationsforderungen mit Schulden aus dem Euro-Rettungspaket zu verrechnen.

Aufgrund des sich nach dem Zweiten Weltkrieg rasch abzeichnenden Ost-Westkonflikts hatten deutsche Reparationszahlungen an Griechenland für die Alliierten keine oberste Priorität. Bulgarien und Italien wurden schon 1946 gezwungen, 150 Millionen Dollar Entschädigung an Athen zu zahlen – nicht jedoch die Bundesrepublik Deutschland. Mit Bezug auf das "Londoner Abkommen über deutsche Auslandsschulden" und geleitet durch ihre Interessen im Kalten Krieg, billigten die Westmächte den Zahlungsaufschub.

Nach dem Ende des griechischen Bürgerkrieges 1949 stand Griechenland fest im westlichen und antikommunistischen Block. Die Regierung betrieb auch mit Blick auf die geostrategische Bedeutung Westdeutschlands eine Realpolitik der Versöhnung. Die Vergangenheit sei zu vergessen, beide Seiten verbinde nun der gemeinsame Kampf gegen den Kommunismus, hieß es in der Athener Regierung. Diese setzte sich sehr früh für eine Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO und den Europarat ein. Griechenland war das erste Land, das im Jahr 1956 Bundespräsident Theodor Heuss zu einem Staatsbesuch einlud.

115 Millionen D-Mark "Wiedergutmachung"

Wohl im Gegenzug für eine Anleihe von 200 Millionen D-Mark verzichtete Athen 1958 zugunsten Bonns auf das Recht, deutsche Kriegsverbrecher zu verfolgen. In Westdeutschland gab es so gut wie keine strafrechtliche Ahndung des Massakers. Lediglich der befehlshabende General für Südgriechenland, Hellmuth Felmy, wurde 1948 im Zuge der Nürnberger Prozesse zu 15 Jahren Haft verurteilt, weil seine Mitverantwortung an dem Massaker angenommen wurde. 1951 kam er durch eine Weihnachtsamnestie frei. "In dieser Situation waren Repressalien notwendig und auch zulässige völkerrechtsmäßige Mittel, die Gegner, die Partisanen, zur Einhaltung des Völkerrechts zu zwingen", verneinte etwa 1974 ein Bochumer Staatsanwalt mögliche Kriegsverbrechen in Kalavrita. Auch die DDR und Österreich hatten kein Interesse an einer Strafverfolgung.

1961 zahlte die Bundesrepublik an Griechenland pauschal 115 Millionen D-Mark als "Wiedergutmachung". Dieses Geld sei an NS-Opfer zu zahlen, die aus "rassischen" oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden. Die meisten Opfer der Gräueltaten des Militärs gingen leer aus. Über diese Zahlung hinaus verweigert die Bundesrepublik Griechenland bis heute weitere Schadensersatzleistungen. Der Unwillen zu weiteren Entschädigungen beruht nicht zuletzt darauf, dass ein Nachgeben gegenüber griechischen Opfern weltweit viele ähnliche Klagen nach sich ziehen könnte.

In Griechenland gab es in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Klagen von Opfern – doch blieben diese letztlich erfolglos. Zwar verurteilte 1997 ein griechisches Landgericht die Bundesrepublik dazu, eine Schadenersatzzahlung von 28 Millionen Euro zu leisten und wurde darin im Jahr 2000 von Griechenlands Oberstem Gerichtshof bestätigt, doch verweigerte Deutschland die Zahlung. Eine im Raum stehende Beschlagnahmung von Eigentum der Bundesrepublik in Griechenland wurde 2002 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für unzulässig erklärt. Auch das Bundesverfassungsgericht wies 2006 Klagen von Distomo-Opferfamilien ab. Das SS-Massaker sei allgemeines Kriegsschicksal gewesen, lautete die Begründung. 2012 entschied der Internationale Gerichtshof in Den Haag, dass die Bundesrepublik nicht vor ausländischen Gerichten für NS-Verbrechen verurteilt werden könne.

Späte Geste der Versöhnung

In Griechenland wurde der Opfer des Kalavrita-Massakers und anderer Gräueltaten in den vergangenen Jahren wieder intensiver gedacht. In deutschen Medien wird seit Jahrzehnten über die Verbrechen der Wehrmacht in Griechenland berichtet.

Bis ein deutscher Staatschef einen der Erinnerungsorte besuchte, dauerte es mehr als ein halbes Jahrhundert. Im Jahr 2000 legte Bundespräsident Johannes Rau in Kalavrita einen Kranz nieder und sagte: "Ich empfinde hier, an dieser Stätte, tiefe Trauer und Scham." 2014 entschuldigte sich auch Bundespräsident Joachim Gauck im Dorf Lyngiades für die Verbrechen deutscher Soldaten in Griechenland.

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