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Verfassungsreferendum in Ägypten | Hintergrund aktuell | bpb.de

Verfassungsreferendum in Ägypten Interview mit Dr. Stephan Roll

Stephan Roll

/ 5 Minuten zu lesen

88,8 Prozent der Ägypter/-innen – bei einer Wahlbeteiligung von 44 Prozent – stimmten in einem Referendum für eine Verfassungsänderung. Mit dieser will Präsident Abdel-Fattah al-Sisi seine Macht festigen, sagt Stephan Roll von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Transparente in Kairo mit der Forderung nach der Zustimmung des Parlaments und die Teilnahme der Bürger am Referendum über die Verfassungsänderung in Ägypten. (© picture-alliance, NurPhoto)

Das Interview wurde vor dem Referendum geführt, welches vom 20. bis 22. April stattfand.

Entscheiden sich die Ägypter/-innen für die Verfassungsänderung, könnte der Staatschef künftig zwei Legislaturperioden von jeweils sechs statt vier Jahren regieren. Der aktuelle Präsident Abdel-Fattah al-Sisi könnte aufgrund einer Sonderregelung theoretisch sogar bis zum Jahr 2030* regieren.

Dr. Stephan Roll: Al-Sisi konsolidiert durch das Referendum seine Macht. Er baut Ägypten sukzessive in eine personalisierte Militärdiktatur um, die sogar totalitäre Züge trägt. Dazu gehört insbesondere das aktive Schüren eines Feindbildes: Alle, die gegen den Präsidenten oder das Militär sind, sind Terroristen und werden verfolgt und zum Tode verurteilt. Das Regime des ehemaligen Armeechefs ist repressiv und seine Politik stark an den Interessen des Militärs ausgerichtet.

Dem Militär soll es durch das Referendum fortan obliegen, "Verfassung und Demokratie zu schützen". Würden die Streitkräfte dadurch auch praktisch weiter an Macht gewinnen?

Die Streitkräfte sind längst der dominante Faktor in Politik und Wirtschaft. In vorangegangenen Verfassungen hatte das Militär bereits eine Sonderstellung – es stand quasi außerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens. Nun soll es explizit über der Verfassung stehen.

Drei Szenarien zur Entwicklung des Sisi‑Regimes nach dem Referendum

In einer Externer Link: ausführlichen Analyse haben Stephan Roll und Luca Miehe von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) die möglichen politischen Auswirkungen eines erfolgreichen Verfassungsreferendums in Ägypten diskutiert. Denkbare Szenarien sind den Autoren zufolge a) eine erfolgreiche Entwicklungsdiktatur, b) eine jahrzehntelange politische und wirtschaftliche Stagnation wie unter Mubarak oder c) ein baldiges Scheitern.

Laut den SWP-Forschern ist die erfolgreiche Verwirklichung einer ägyptischen Entwicklungsdiktatur, in der ein autoritäres System die wirtschaftliche Entwicklung des Landes vorantreibt, unrealistisch. Grund sei vor allem die fehlende Reformbereitschaft der Regierung, da die von Präsident Abdel-Fattah al-Sisi angekündigten Megaprojekte wie zum Beispiel der Ausbau des Suez-Kanals die sozioökonomischen Kernprobleme des Landes wie die marode Infrastruktur, das unzureichende Bildungssystem oder die überbordende Schattenwirtschaft nicht lösen würden. Auch stünde die Machtstellung des Militärs einer Entwicklung des Landes entgegen.

Durchaus realistisch seien jedoch die beiden anderen Szenarien. Sollte es al-Sisi nicht gelingen, Entwicklung und Wirtschaft des Landes voranzutreiben, müsste dies laut SWP nicht unbedingt das Ende seiner Präsidentschaft bedeuten. Husni Mubarak blieb drei Jahrzehnte an der Macht (1981-2011), obwohl er die sozioökonomische Lage in seinem Land nicht verbessern konnte. Ausbleibende Entwicklungserfolge und zunehmende Repressionen könnten aber auch sehr schnell das Ende des Regimes einleiten. Armut und Arbeitslosigkeit lösten in der Vergangenheit bereits in vielen Ländern politische Umstürze aus.

Fast vier Fünftel der Abgeordneten brachten Mitte Februar die Verfassungsänderung im Parlament auf den Weg. Gibt es überhaupt noch eine wirksame parlamentarische Opposition in dem Land?

Nein. Es gibt nur einige wenige Abgeordnete aus dem linken und links-liberalen Spektrum, die sich gegen die Reform gewandt haben. Das sind Einzelstimmen – und sie werden massiv unter Druck gesetzt. Zudem muss man innerhalb der Opposition unterscheiden. So gibt es oppositionelle Stimmen, die dazu aufrufen, bei dem geplanten Referendum gegen die Verfassungsänderung zu stimmen. Angesichts der undemokratischen Rahmenbedingungen, unter denen dieses Referendum stattfinden wird, stellt sich jedoch die Frage, ob hierdurch eine unfaire und unfreie Abstimmung nicht sogar legitimiert wird. Andere oppositionelle Kräfte – insbesondere die im Exil – rufen zu einem Boykott auf.

Wie steht die Bevölkerung zum Referendum? Gibt es Proteste?

Ich sehe nicht, dass es vor dem Referendum noch größere Proteste geben wird. Dafür ist die polizeistaatliche Überwachung und Repression zu groß. Selbst kleinere Symbole von Widerspruch, etwa in Form von kritischen Graffitis, haben Seltenheitswert. Protestierende müssen befürchten, dass sie inhaftiert werden oder Sicherheitskräfte sogar auf sie schießen. Spätestens seit dem sogenannten "Rabaa-Massaker" an Anhängern der Muslimbruderschaft im August 2013 ist klar, dass Demonstrieren in Ägypten lebensgefährlich sein kann. Damals räumten Sicherheitskräfte Protestlager von Sympathisanten des zuvor vom Militär gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi. Al-Sisi hatte damals das Oberkommando. Menschenrechtsorganisationen zufolge wurden dabei über 1000 Demonstranten erschossen. Seit jener Zeit ist die Zahl der Proteste nachweislich eingebrochen.

Was ist aus der der Zivilgesellschaft geworden, die bei der Revolution 2011 für den politischen Umbruch sorgte?

Ob der arabische Frühling tatsächlich gescheitert ist, kann man sicherlich erst in Jahrzehnten, mit deutlich mehr historischem Abstand, beurteilen. Klar ist: Die regierungsunabhängige Zivilgesellschaft ist seit dem Militärputsch 2013 marginalisiert worden. Wer sich engagiert, muss mit Verhaftungen oder Verschleppungen rechnen. Nach Schätzungen von Human Rights Watch sitzen wahrscheinlich über 60.000 politische Gefangene in den überbelegten Haftanstalten des Landes, darunter nicht nur Anhänger der verbotenen islamistischen Muslimbruderschaft, sondern auch zahlreiche Menschenrechtsaktivisten oder Nutzer sozialer Medien, die sich kritisch äußern. Zudem sehen wir eine zunehmende Gleichschaltung der Medienlandschaft. Die Pressefreiheit wurde zuletzt durch den seit 2017 andauernden Ausnahmezustand, das Antiterrorgesetz von 2015 und ein neues Gesetz zur Regulierung sozialer Medien von 2018 massiv eingeschränkt.

Welche Rolle spielt die mittlerweile als Terrororganisation verbotene Muslimbruderschaft, die nach den ersten freien Wahlen 2012 bis zum Militärputsch 2013 mit Mursi den Präsidenten stellte?

Die Interner Link: Muslimbruderschaft ist extrem geschwächt. Sie befindet sich in der schwierigsten Phase seit ihrer Gründung 1928. Ihre Führungskader sind größtenteils im Gefängnis – nur wenige konnten das Land noch rechtzeitig verlassen. Die Bruderschaft kann somit nicht mehr als starker politischer Akteur gesehen werden. Allerdings ist es meiner Einschätzung nach auch nicht gelungen, die Organisation vollständig zu zerschlagen. Dazu verfügt die Bruderschaft über einen viel zu starken Rückhalt in Teilen der Bevölkerung. Auf lokaler Ebene dürften Netzwerke der Organisation nach wie vor bestehen. Ob sich hieraus langfristig auch ein ernstzunehmender politischer Widerstand gegen das Sisi-Regime entwickeln kann, bleibt abzuwarten. Es gibt Hinweise, dass sich einzelne Anhänger und Mitglieder der Bruderschaft radikalisiert haben – für den Großteil der Organisation würde ich das allerdings keineswegs sagen.

Zurück zum Referendum. Wie frei wird die Abstimmung tatsächlich sein?

Das Referendum wird mit Sicherheit weder frei noch fair sein. Der Urnengang wird in einem Klima der Angst stattfinden. Gegner der Verfassungsänderung können keine öffentlichkeitswirksame Kampagne starten, ohne mit Repressionen rechnen zu müssen. Und dass der Staat neutral auftritt kann schon aufgrund der Werbung, die beispielsweise in den Staatsmedien für die Verfassungsänderung gemacht wird, nicht behauptet werden. Zudem wird eine unabhängige Überwachung des Referendums nicht möglich sein. Die einfache Mehrheit, die zur Annahme der Verfassungsänderung nötig ist, wird al-Sisi höchstwahrscheinlich bekommen.

Wer darf an der Abstimmung teilnehmen?

Grundsätzlich sind alle Ägypter, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, wahlberechtigt und dürfen bei dem Referendum abstimmen. Allerdings gibt es Ausnahmen. So haben etwa Angehörige der Streitkräfte und der Polizei kein Wahlrecht. Dass al-Sisi Abstimmungen jedoch auch ohne die Beteiligung der Streitkräfte und Polizei an der Wahlurne dominieren kann, zeigte die Präsidentschaftswahl 2018, die er mit 97 Prozent gewann. Wie sollte Deutschland und die EU mit den Entwicklungen in Ägypten umgehen? Lässt sich eine Diktatur überhaupt noch verhindern? Ägypten ist bereits eine Diktatur. Sie konsolidiert sich nun durch die Verfassungsänderung. Vor diesem Hintergrund sollten Deutschland und die EU mehr als bislang darauf drängen, dass grundlegende Menschenrechte eingehalten werden und eine unabhängige Zivilgesellschaft gestärkt und geschützt wird. Die andauernden Menschenrechtsverletzungen sollten deutlicher und hörbarer angeprangert werden, etwa vor dem Interner Link: Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Bei Projekthilfen sollte deutlich mehr auf die Umsetzung des "Do-No-Harm"-Ansatzes geachtet werden, um zu verhindern, dass die Hilfen für den weiteren Ausbau repressiver Herrschaftsstrukturen genutzt werden. Vor allem aber sollten bei den absehbaren Neuverhandlungen über weitere Budgethilfen Bedingungen gestellt werden, die auch auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage, der Bürgerrechte und der Regierungsführung abzielen.

Das Interview wurde am Montag, den 8. April 2019, geführt und am Mittwoch, den 10. April 2019, autorisiert.

*In einer früheren Version des Interviews wurde die Einschätzung abgegeben, dass al-Sisi sogar bis zum Jahr 2034 regieren könnte. Mit der Verfassungsänderung, die eine Verlängerung der Legislaturperiode auf sechs Jahre festschreibt, steht nun jedoch fest, dass al-Sisi maximal bis 2030 regieren könnte.

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Dr. Stephan Roll ist Leiter der Forschungsgruppe "Naher / Mittlerer Osten und Afrika" der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.