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Vor 80 Jahren: Beginn der NS-"Euthanasie"-Programme | Hintergrund aktuell | bpb.de

Vor 80 Jahren: Beginn der NS-"Euthanasie"-Programme

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Mit einem Runderlass vom 18. August 1939 begann der systematische Massenmord der Nationalsozialisten an tausenden Kindern, wenig später unter der "Aktion T4" auch an Erwachsenen. Insgesamt wurden unter dem NS-Regime hunderttausende kranke und behinderte Menschen ermordet.

Beschriftete Steine erinnern auf dem Friedhof der Gedenkstätte Hadamar (Hessen) am 22.11.2013 an die hier bestatteten Opfer der NS-Euthanasie-Morde. Während der NS-Zeit wurden in Hadamar 15.000 Menschen ermordet und verbrannt. (© dpa)

Bereits im Juli 1933, also rund ein halbes Jahr nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, erließ die Regierung im Juli 1933 das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Es trat am 1. Januar 1934 in Kraft und erlaubte erstmals in Deutschland die Zwangssterilisation. Menschen, die nicht den nationalsozialistischen Rasseidealen entsprachen, sollte so die Möglichkeit verwehrt werden, Kinder zu zeugen. Rund 350.000 bis 400.000 Menschen wurden auf Grundlage dieses Gesetzes während der Interner Link: NS-Herrschaft zwangssterilisiert. Betroffen waren Menschen mit psychischen Krankheiten oder mit körperlichen und geistigen Behinderungen sowie Menschen, die als "asozial" oder "minderwertig" stigmatisiert wurden, wie etwa Alkoholiker.

Einordnung von Menschen als "lebensunwert"

Schon vor den 1930er Jahren kursierten Forderungen, Menschen mit Behinderungen zu töten: Die 1920 von dem Juristen Karl Binding und dem Psychiater Alfred Hoch veröffentlichte Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" sorgte in der Weimarer Republik für teils auch kritische Debatten, fand allerdings später bei den NS-Ideologen Anklang. Das Werk prägte die Vorstellung, Menschen als "lebensunwert" einzustufen zu können. Es regte auch Überlegungen an, menschliches Leben an wirtschaftlicher Rentabilität zu messen und damit die Ermordung von kranken oder behinderten Menschen zu rechtfertigen.

Mit ihren Thesen lieferten Hoch und Binding die zentrale programmatische Grundlage für die NS-"Euthanasie". Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff bedeutet eigentlich "schöner Tod", und wurde von den Nationalsozialisten als Umschreibung der systematischen Ermordung von Menschen mit Behinderungen, psychischen Krankheiten und sozialen Stigmata gebraucht.

"Kanzlei" des Führers und Ärzte als Organisatoren der Massenmorde

Die "Euthanasie"-Mordaktionen der Nationalsozialisten an verschiedenen Gruppen fanden parallel zueinander statt. Ihr Planungszeitraum ist wissenschaftlich umstritten. Als ein möglicher Auslöser gilt, dass Hitler im Frühjahr 1939 das Schreiben eines Vaters erhalten habe, der um die Tötung seines behinderten Kindes bat. Hitler ermächtigte zu diesem Anlass den Leiter der "Kanzlei des Führers", Philipp Bouhler, und seinen Leibarzt, Karl Brandt, das Kind zu töten und in ähnlichen Fällen genauso zu verfahren.

Vorbereitet und organisiert wurde der kommende systematische Massenmord von dieser Führungselite der "Kanzlei des Führers" und Ärzten. Zur Tarnung wurde der "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden" gegründet, unter dessen Namen sie die Morde erfassen und verüben ließen.

Runderlass vom 18. August und Beginn der "Kinder-Euthanasie"

Ein zentrales Dokument für die "Kinder-Euthanasie" war der streng vertrauliche Runderlass des Reichsinnenministeriums vom 18. August 1939. Er verpflichtete Ärzte und Hebammen, Kleinkinder und Säuglinge mit bestimmten "schweren, angeborenen Leiden" bei dem Reichausschuss zu melden. Meldepflichtig waren vorerst Kinder bis drei Jahre, später wurde das Alter auf 16 Jahre hochgesetzt. In sogenannten "Kinderfachabteilungen" in Heilkliniken wurden die Kinder anschließend für Experimente missbraucht und durch eine Injektion oder Verhungern getötet. Die Zahl der Opfer dieser "Kinder-Euthanasie" wird bis 1945 auf ca. 5.000 geschätzt. Jedoch fielen auch anderen "Euthanasie"-Morden im Deutschen Reich und besetzten Gebieten tausende Kinder zum Opfer.

Parallel dazu liefen Vorbereitungen, um auch kranke oder behinderte Erwachsene gezielt zu töten. Bouhler und Brandt baten Hitler um eine Interner Link: schriftliche Ermächtigung, die er im Oktober 1939 erteilte. Um den Zusammenhang mit dem Krieg deutlich zu machen, wurde dieser Mordbefehl auf den 1. September 1939, den Tag des Interner Link: Kriegsbeginns, zurückdatiert. Auch diese Ermordungen organisierte die "Kanzlei des Führers", die verschiedene Tarnorganisationen gründete, um das Programm zu verschleiern. Aufgrund des offiziellen Sitzes der verwaltungsintensiven Organisationszentrale mit sechs Abteilungen in der Berliner Tiergartenstraße 4 erhielt die Aktion den Namen "T4".

Aktion T4

Die Leitungen von Krankenanstalten und psychiatrischen Kliniken wurden aufgefordert, auch ihre volljährigen Patienten zu melden. In Berlin überprüften Gutachter die Meldungen und entschieden über das weitere Schicksal. Mit einem "+"-Zeichen auf dem Meldebogen vermerkten sie, wer getötet werden sollte. Die Betroffenen wurden in Krankenanstalten, etwa nach Bernburg, Hadamar, Hartheim und Sonnenstein verlegt und umgebracht.

Dr. Albert Widman, Referent des Kriminaltechnischen Instituts des Reichskriminalpolizeiamtes, entwickelte die Strategie, die Menschen nicht nur durch Injektionen, sondern auch durch giftiges Kohlenmonoxidgas zu töten. Die Ermordung erfolgte in eigens eingerichteten Gaskammern. Das Gas lieferte die IG Farben, also die heutige BASF. Die Leichen wurden eingeäschert und die Angehörige über erfundene Todesursachen in Kenntnis gesetzt.

Widerstand von Geistlichen

Die Interner Link: Nachrichten über die Tötungen blieben nicht geheim, sondern verbreiteten sich innerhalb der Bevölkerung. Einige Familienangehörige wandten sich Hilfe suchend an die Polizei. Richter und Geistliche äußerten ihre Empörung und verlangten ein Ende der Tötungen sowie Aufklärung über das Geschehen. Auf Interner Link: allgemeine gesellschaftliche Proteste stieß die Aktion "T4" jedoch nicht. Anfang August 1941 predigte schließlich der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen öffentlich gegen die Morde. Die darauf entstehende Unruhe führte dazu, dass die Aktion "T4" an Erwachsenen im Deutschen Reich auf Weisung Hitlers offiziell eingestellt wurde. Fortgesetzt wurde sie verdeckt an Kindern, in den Konzentrationslagern und in den besetzten Gebieten.

Die systematische Verfolgung und Ermordung von kranken, behinderten oder sozial stigmatisierten Menschen im Rahmen von "T4" legte den Grundstein für weitere Interner Link: systematische Massenermordungen während des Nationalsozialismus. Einige der Beteiligten setzten ihre Erfahrungen beim Töten mithilfe von Gas anschließend in den Vernichtungslagern ein.

Hunderttausende Opfer

Die Schätzungen der Todeszahlen durch die Euthanasie-Programme der Nazis gehen weit auseinander – als gesichert gilt, dass die Opferzahl sechsstellig war. Alleine die Aktion "T4" kostete bis zu ihrer Einstellung im September 1941 Schätzungen zufolge etwa 70.000 Menschen das Leben. In den folgenden Tötungsaktionen starben wohl mindestens 30.000 weitere behinderte und kranke Menschen. Auch kranke Zwangsarbeiter und Häftlinge in Konzentrationslagern wurden gezielt getötet. Insgesamt wurden im Rahmen der "Euthanasie"-Aktionen in ganz Europa etwa 200.000 bis 300.000 Menschen getötet, die als nicht rentabel oder nützlich für die Gesellschaft galten. Opfervertreter gehen von einer noch größeren Zahl aus.

Die Aufarbeitung der Euthanasie-Morde im Nachkriegsdeutschland verlief aus Sicht der Opfervertreter unbefriedigend. Der Großteil der Prozesse gegen die Täter fand kurz nach Kriegsende unter alliierter Gerichtsbarkeit statt. So wurden im Nürnberger Ärzteprozess zwei Hauptverantwortliche und in anderen Verfahren auch medizinisches Personal und Verwaltungskräfte zum Tode verurteilt. In späteren Verfahren fielen die Urteile deutlich milder aus. Das Gesetz zur Zwangssterilisation wurde 1988 vom Bundestag zum NS-Unrecht erklärt und die Urteile der "Erbgesundheitsgerichte" 1998 aufgehoben. Bis heute haben Zwangssterilisierte und Euthanasie-Opfer allerdings keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz.

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