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Politische Bildung in einem multireligiösen Europa | Presse | bpb.de

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Politische Bildung in einem multireligiösen Europa Herausforderungen und Perspektiven

/ 9 Minuten zu lesen

Mit welchen Problemen sieht sich politische Bildung zum Thema Muslime und Einwanderung europaweit konfrontiert? Wo sind die Eckpunkte für einen angemessenen Umgang mit dem Thema Islam in der politischen Bildung? Thomas Krüger erläuert anhand dieser Fragen, wie die bpb sich auf dieses Thema einstellt.

Eröffnungsansprache für die Konferenz der Kultusministerkonferenz, des DAAD und der Bundeszentrale für politische BildungLerngemeinschaft.

Das deutsche Bildungswesen und der Dialog mit den Muslimen.

Weimar 13./14. März 2003

Frau Ministerin Schipanski,
sehr geehrte Frau Professor Süssmuth,
sehr geehrter Professor Küng, meine Damen und Herren,

auch ich möchte Sie zunächst ganz herzlich zu dieser wichtigen Konferenz begrüßen. Ich freue mich über die große, ja überwältigende bundesweite und europäische Resonanz auf unsere Einladung. Und ich begrüße die hier sichtbaren neuen Synergien zwischen bildungspolitischen Institutionen und Experten, Expertinnen, zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Die Bundeszentrale für politische Bildung sieht den Dialog mit den Muslimen und Musliminnen in Deutschland und Europa und generell die interkulturelle Öffnung auch der politischen Bildung als zentrale und langfristige Aufgabe an. Wir haben schon im letzten Jahr mit einer großen internationalen Konferenz mit Muslimen und Musliminnen aus Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und England Integrationsfragen erörtert; die Texte hierzu sind ausführlich auf unserer Website dokumentiert. Unsere Beteiligung an der Initiative der Kultusministerkonferenz sehen wir als einen weiteren wichtigen Baustein unserer Arbeit auf diesem Gebiet. Vor einer Woche haben wir mit der Deutschen Vereinigung für politische Bildung einen Kongress in Braunschweig mit über 1000 Teilnehmenden - vorwiegend Lehrer und Lehrerinnen – zum Thema "Dialog der Kulturen" veranstaltet.

Die wichtigen und zentralen Aussagen meiner Vorrednerinnen und meines Vorredners kann ich nur bekräftigen, möchte sie aber nicht mit Wiederholungen ermüden nach dem Motto: Es ist schon alles gesagt worden, aber noch nicht von allen. Ich will mich deshalb auf einige Kernaussagen konzentrieren. Wir stehen vor unbestreitbar schwierig werdender Herausforderungen, die Realitäten von Einwanderungsgesellschaften in Europa über die nächsten Jahrzehnte intellektuell und politisch neu zu bearbeiten. Ich möchte in der gebotenen Kürze auf drei Fragen eingehen.

  1. Mit welchen Problemen sieht sich politische Bildung zum Thema Muslime und Einwanderung europaweit konfrontiert?

  2. Wo sind die Eckpunkte für einen angemessenen Umgang mit dem Thema Islam in der pol. Bildung?

  3. Wie stellt sich die bpb auf dieses Thema ein?

Mit welchen Problemen sieht sich politische Bildung zum Thema Muslime und Einwanderung europaweit konfrontiert?

Meine Damen und Herren, ein realistischer Blick auf das Europa von heute zeigt: Alle Felder politischen Handelns sind dabei, sich neu zu sortieren: auf nationaler Ebene, in der Sozial-, Einwanderungs-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik. Auf globaler Ebene treten neue machtpolitische Weichenstellungen ins Blickfeld. Verunsicherungen – an erster Stelle natürlich zu nennen die Krise um den Irakkrieg - also an allen Fronten.

Wichtig für uns als politische Bildner: die Umbrüche laufen oft schneller und dramatischer ab, als sie vom Bewusstsein der Bürger und Bürgerinnen absorbiert und verarbeitet werden können. Oft reichen die traditionell erworbenen Kompetenzen und Qualifikationen – seien es die von Individuen, seien es die von Institutionen – einfach nicht mehr aus, mit der enormen Komplexitätssteigerung moderner westlicher Gesellschaften angemessen umzugehen. Dies gilt in besonderem Maße für die Fragen der Einwanderung und des Umgangs mit anderen Kulturen. Hier stehen wir vor neuen Problemen und zwar europaweit:

  • denken Sie an die große Skepsis gegenüber den bisherigen Integrationsanstrengungen und den vielen nicht bewältigten Defiziten gerade im Bildungssektor und auf dem Arbeitsmarkt, wie sie hierzulande aber auch europaweit zu spüren ist. Nach wie vor ist das Thema offen für emotionale Reaktionen, für Verunsicherungsstrategien und Ausbeutung durch rechtspopulistische Ideologen aller Art. Das Thema wurde gerade in Deutschland entweder verdrängt oder zur Inszenierung politischer Abgrenzungsrituale missbraucht.

  • Obwohl mit der Debatte um das neue Zuwanderungsgesetz ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat und inzwischen ein Bewusstsein dafür besteht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, haben wir bis jetzt keine differenzierte, vielschichtige und tabufreie Debatte über das Thema. Nach wie vor werden Einwanderer in den öffentlichen Debatten entweder als Bedrohung oder als Opfer konstruiert.

  • Über das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland wird ebenso wenig gesprochen wie über die Strukturen, die aus einer Einwanderungsgesellschaft ein vitales zukunftsfähiges Gemeinwesen machen. Auch fehlt eine Diskussion über Strukturen, die das verhindern und Konflikte und ethnische Abgrenzungen hervorbringen. Die bpb will in der nächsten Zeit gerade zu diesen Fragen etwas mehr zur grundsätzlichen Orientierung beitragen.

  • Ein Blick über die Grenzen – insbesondere nach Frankreich – zeigt eine gerade in letzter Zeit besorgniserregende Zunahme von antisemitischen und rassistischen Vorfällen insbesondere an den französischen Schulen. Ganz eindeutig steht dies in Zusammenhang mit Versuchen, Schülerinnen und Schüler aus arabischen Herkunftsländern insbesondere seit Beginn der zweiten Intifada zu Aktionen gegen jüdische Mitschüler und Mitschülerinnen–mit welchen pseudoreligiösen und pseudopolitischen Argumenten auch immer – anzustacheln. Die banlieus französischer Städte bieten offensichtlich einen Resonanzboden für derlei Anstrengungen.

  • Erst vor 10 Tagen hat nun der französische Erziehungsminister Luc Ferry zu einer nationalen Anstrengung gegen die "kommunitären Abweichungen" an den französischen Schulen aufgerufen und die Tendenz (ich zitiere) "unsere Schüler in pseudo-kommunitäre Gemeinschaften einzusperren" problematisiert. Zu den Dringlichkeitsmaßnahmen gehören: Neue Konfliktmediatoren für alle Schulen, Konferenzen mit über 100 Schuldirektoren aus "sensiblen Zonen", die Herausgabe neuer Leitfäden und Handreichungen zum Umgang mit interkulturellen Konflikten, Einrichtung einer Expertenkommission mit bekannten französischen Intellektuellen aus den jüdischen und arabischen Milieus. Explizit sieht man in Frankreich diese Maßnahmen als Prävention gegen eine mögliche Verschärfung der Konflikte im Falle eines Irakkrieges.

Meine Damen und Herren, noch haben wir in Deutschland nicht französische Verhältnisse, keine banlieues und kommunitäre Ghettos, wie sie Luc Ferry beklagt hat. Aber täuschen wir uns nicht: auch in deutschen Schulen ist die angestrebte Lerngemeinschaft und interkulturelle Partnerschaft noch nicht Realität – auch gerade in Schulen mit einem hohen Anteil muslimischer Schüler. Angesichts einer höchst instabilen internationalen Situation, angesichts mangelnder sprachlicher, sozialer und wirtschaftlicher Integration ist das Einfallstor für Rassismen und neue und alte Antisemitismen auch bei uns nicht gerade kleiner geworden.

"Kulturelles Babylon oder interkulturelle Partnerschaft? Szenen aus der Schule", hieß eine Sendung des Deutschlandfunks im Februar diesen Jahres, die mich - offen gestanden - erschreckt hat, angesichts der massiven Vorurteile und Unkenntnisse, die in den Äußerungen von Hauptschülern und -schülerinnen mit Migrationshintergrund zutage traten. Kurz: ich plädiere unbedingt für einen realistischen und keinen blauäugigen Blick auf die Probleme einer multireligiösen Bildungslandschaft und unbedingt dafür, zielgruppengerecht Wissen bereitzustellen und zu vermitteln.

Wo sind die Eckpunkte für einen angemessenen Umgang mit dem Thema Islam in der pol. Bildung?

Was ist zu tun, meine Damen und Herren?

Diesen Tendenzen von Seiten staatlicher politischer Bildung ein primär moralisch begründetes antirassistisches/antixenophobes Programm entgegenzusetzen, wird nicht zur Bewältigung politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen: ja, der erhobene Zeigefinger politischer Korrektheit kann durchaus kontraproduktiv wirken und Pauschalreaktionen zuweilen erst provozieren. Ebenso allergisch wie auf die Defizite offizieller Institutionen reagieren insbesondere jugendliche Bürgerinnen und Bürger, die ernst genommen werden wollen, auf ex-cathedra verkündete Losungen politischer Bildung.

Worauf kommt es an?

Erstens, wir müssen die Ängste und Unsicherheiten ernst nehmen, Konflikte und reale Defizite, sei es der demokratischen Institutionen, sei es konkreter Politikfelder anerkennen und offen benennen. Wir dürfen das Ansprechen und Benennen konkreter Probleme nicht den populistischen Interessen überlassen. Wir sollten Ängste und Wahrnehmungen nicht von vornherein in politisch korrekte Bahnen zwingen. Und: Wir können es uns nicht leisten, gebetsmühlenartig zu beklagen, dass die herkömmlichen Erklärungsmuster und Problemlösungsstrategien nicht mehr greifen, noch dürfen wir die politischen Grabenkämpfe mit ihren abgenutzten Worthülsen weiter inszenieren. Wir brauchen lösungsorientierte Ansätze, zukunftsoffene Haltungen, Argumente statt Betroffenheit. Kurz: wir wollen eine offene intellektuelle Auseinandersetzung ohne Tabuisierung und Selbstzensur. Dialog darf nicht die kritische Diskussion ersetzen. Eine Lerngemeinschaft sollte Widersprüche und Konflikte nicht unter den Teppich kehren.

Zweitens sollten wir uns in der Auseinandersetzung um eine Anerkennung und Integration muslimischer Minderheiten in Europa stärker als bisher bemühen, kulturalistische, essentialistische Ansätze zu vermeiden. Kultur sollte in ihrer Vielfalt wahrgenommen und zelebriert werden: vielfach aber scheint mir der Kulturbegriff als politische Waffe missbraucht zu werden. Die Freunde eines rein kulinarischen Multikulturalismus vernachlässigen und relativieren politische Standards moderner Demokratien und produzieren im Endergebnis multikulturelle Ghettos, die niemanden etwas nützen. Der deutsch-türkische Schriftsteller Feridun Zaimoglu hält unserer deutschen Debatte recht drastisch den Spiegel vor. Ich zitiere: "

"Nicht nur von Politpopulisten und Fremdenskeptikern, sondern auch von denen, die das Meinungsmonopol halten, wird noch immer behauptet, wir müssten uns über Identität, Kultur und Wurzeln unterhalten. Von meinem Selbstverständnis bin ich Deutscher mit türkischen Eltern. (..) Was ist damit gewonnen, wenn dauernd die Identitätskarte gespielt wird? Wir in Deutschland schwanken zwischen einer gewissen Kleinbürgernarkose und einer MultikultiLustigkeit die mit meinen Verhältnissen nichts zu tun hat. Etwas Neues ist entstanden, das mit dem Türkenklischee gebrochen hat und sich nicht so einfach festlegen lässt."

In diesem Sinne sollten wir auch die bunte Vielfalt der Jugendlichen aus muslimischen Ländern nicht a priori islamisieren und Identitäten zuweisen, die vielleicht gar nicht existieren.

Ich spreche mich also ganz deutlich gegen selbsternannte Identitätswächter auf welcher Seite auch immer aus. Lassen Sie uns ganz im Sinne der hier angestrebten Lerngemeinschaft gemeinsam zu Integrationslotsen werden. Oder wie es der muslimische Parlamentsabgeordnete Cörüz auf unserer Konferenz im Juli ausdrückte: INTECREATION ist angesagt.

Wie stellt sich die bpb auf dieses Thema ein?

Last but not least lassen Sie mich noch auf einige Maßnahmen der bpb hinweisen, die schon in den letzten Jahren angelaufen respektive in der unmittelbaren Planung sind.

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat insbesondere zur Verwendung im Unterricht zum Thema "Islam" Ende 2002 die ausführlichen "Arbeitshilfen zur politischen Bildung" herausgegeben; Materialien die über ein Jahr lang in Zusammenarbeit mit Didaktikern und Islamexperten und -expertinnen erarbeitet wurden. Wir wollen gerade für die Schulen weiter Material und Standards für den Umgang mit interkulturellen Themen erarbeiten.

Wir wollen mit Veranstaltungen direkt in die Schulen gehen, die als open space formatiert sind. Hier soll es nicht um theologische Fragen gehen, sondern muslimische und nichtmuslimische Schülerinnen und Schüler sollen – unter Anleitung – Alltagsfragen des Zusammenlebens diskutieren.

In Zusammenarbeit mit dem German Marshall Fund und der Humboldt-Universität zu Berlin geben wir den Newsletter "Migration und Bevölkerung" heraus.

Mit Polizeipräsidien in u.a. Essen und Berlin beginnen wir das Modellprojekt "Kooperation zwischen Polizeidienststellen und Moscheevereinen". Hier wird es um die Kombination politischer Bildung mit sozialer und kultureller Kompetenz gehen. Ziel ist u.a. die präventive Kriminalitätsbekämpfung in Brennpunktvierteln.

Dieses Projekt ordnet sich ein in weitere Maßnahmen, in denen wir Standards zur interkulturellen Öffnung der Verwaltung auf kommunaler und Bundesebene entwickeln wollen - u.a. gemeinsam mit dem Bundesamt für Migration und Projektpartnern.

Vor allem aber wollen wir dazu beitragen, dass Musliminnen und Muslime stärker als bisher als Träger politischer Bildung In Erscheinung treten. Langfristig angelegte Projekte wie eine mögliche Annemarie-Schimmel-Stiftung in Nordrhein-Westfalen oder das Islamische Forum demokratischer Bildung in Berlin werden daher von uns intensiv begleitet und unterstützt. In diesem Kontext wird auch unser internationales Fachgespräch über "Realitäten und Perspektiven eines europäischen Islam" im Juni diesen Jahres verstanden werden.

Und ich weise natürlich auf die von uns angekauften Bücher zum Thema "Islam". Im Online-Bereich haben wir das Islam-Portal "Quantara.de" gemeinsam mit dem Goethe-Institut Inter-Nationes, der Deutschen Welle und dem Institut für Auslandsbeziehungen aufgebaut. Mit diesem offenen und interkativen Instrument wollen wir den Dialog und den Informationsfluss zwischen der arabisch-muslimischen und der westlichen Welt befördern. Das mehrsprachige Portal ist seit heute im Netz zu besichtigen.

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat sich, wie Sie sehen, auf breiter Ebene auf neue Aufgaben eingestellt: dass dieses Engagement für uns langfristiger Natur ist und sein wird, brauche ich hier nicht nochmals zu unterstreichen. Aber betonen möchte ich, dass wir für unser Vorhaben Partner brauchen und hoffentlich auch in Ihnen finden. Wir brauchen einen langen Atem und nachhaltige komplexe Konzepte und keine kopflosen Schnellschüsse.

Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen spannenden und anregenden Verlauf dieser Konferenz.

Fussnoten