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Sowjetische Geschichte nach Stalin | Zeitgeschichtsforschung | bpb.de

Zeitgeschichtsforschung Editorial Zwei deutsche Diktaturen im 20. Jahrhundert? Essay Zwischen Abgrenzung und Verflechtung: deutsch-deutsche Geschichte nach 1945 Zeitgeschichte in Europa - oder europäische Zeitgeschichte? Sowjetische Geschichte nach Stalin Weltgeschichte als Geschichte der sich globalisierenden Welt Biographik und Zeitgeschichte

Sowjetische Geschichte nach Stalin

Stefan Plaggenborg

/ 17 Minuten zu lesen

Für eine europäische Perspektive der Zeitgeschichte ist ein Aspekt sinnvoll: Vereinfachungen der sowjetischen Geschichte aufzulösen, indem der Wandel des Systems nach Stalin diskutiert wird.

Einleitung

Stellt man sich, alle politischen Überlegungen beiseite lassend, vor, nicht die Türkei solle der Europäischen Union beitreten, sondern Russland - welche Debatten würden dann hinsichtlich der historischen Traditionen dieses Landes, seiner Fremdheit in Europa und seiner gescheiterten Modernisierung im Projekt des Sozialismus geführt werden? Sicher würde angemerkt werden, Russland liege geographisch größtenteils in Asien, und überhaupt sei es in Politik, Kultur und Zivilisation weitgehend "uneuropäisch". Russland, so hören wir schon die Worte eines Deutschland-Historikers, habe moderne Entwicklungen wie den Parlamentarismus und den Sozialstaat nicht mit vollzogen. Man wird zugestehen, es habe Modernisierung gegeben, aber wie barbarisch habe Stalin sie durchgepeitscht. Gewiss, Erfolge seien eingetreten, aber das Land sei nicht modern genug, nicht zivilisiert genug, es habe nicht genug Vergangenheitsbewältigung betrieben - wobei "genug" heißt: im Vergleich zu "uns". Würden die Deutschen in einer Volksbefragung lieber die Türkei oder lieber Russland in die EU aufnehmen wollen? Oder beide nicht?

Die unter dem Gesichtspunkt einer historischen Selbstvergewisserung Europas notwendige Auseinandersetzung mit der Geschichte Osteuropas stellt die Frage, welchen Beitrag diese für ein Verständnis des 20. Jahrhunderts leisten kann. Die Zeitgeschichte steht vor der Aufgabe der historiographischen Bewältigung des von Eric Hobsbawm so genannten "kurzen" Jahrhunderts, das so lange dauerte wie die Sowjetunion. Die europäische und globale Verflechtung in diesem Zeitraum ist unübersehbar. Auf die Entnationalisierung der Geschichte reagiert die Geschichtswissenschaft naturgemäß mit Verzögerung.

Aber sie reagiert. Es scheint jedoch, dass der Blick aufs Globale so manche historiographische Brache im europäischen Kontext übersieht. Es gibt zwar Vorschläge, wie wir das 20. Jahrhundert zusammen denken können, aber zu einer in der Geschichtswissenschaft theoretisch und methodisch begründeten konzeptionellen Neufassung der Geschichte Europas unter Einschluss des Ostens, d.h. nicht nur der ostmitteleuropäischen Mitgliedsländer der EU, sondern auch Russlands und der anderen europäischen Nachfolgestaaten der UdSSR, ist es bisher nur in Anfängen gekommen. Buchtitel, die auf "... in Europa" enden, behandeln bestenfalls Länder Westeuropas. Die Entnationalisierung der Geschichtswissenschaft muss jedoch auch in jenen Ländern einsetzen, in denen infolge doppelter Fremdherrschaft im 20. Jahrhundert die Tendenz zur nationalen Überformung der Geschichtsverläufe besonders stark ist, wo sich die Geschichtswissenschaft im Selbstauftrag mit emanzipativer Absicht in das nationale Narrativ einbettet.

Selbstverständlich ist es die Aufgabe der professionellen Historie, die öffentlich gezeichneten Geschichtsbilder zurechtzurücken. Sie haben sich längst etabliert, ohne dass sie expliziert worden wären. So hat der Glorienschein der Revolution von 1989 die ostmitteleuropäischen Länder in die EU geführt. In der Öffentlichkeit reduziert sich ihre Geschichte auf die guten europäischen Traditionen, die immer das "Andere" mitdenken lassen, was sich weiter östlich befindet und bis heute nicht nach europäischen Mustern strebt. Die infolge zweifacher militärischer Besetzung aus Gründen der historischen Gerechtigkeit erfolgte Aufnahme der ostmitteleuropäischen Länder in die EU, die mit Demokratie weniger Erfahrung haben als die Türkei, hat dazu beigetragen, dass die Geschichte der Sowjetunion häufig auf die Themen stalinistische Gewaltherrschaft und imperiale Unterdrückung verengt wird.

Für eine europäische Perspektive der Zeitgeschichte scheint es jedoch sinnvoll, Vereinfachungen aufzulösen, die Fokussierung auf die beiden genannten Bereiche abzustellen (was nicht im geringsten ihre Relativierung bedeutet) und stattdessen auch Probleme zu diskutieren, die den Wandel des sowjetischen Systems nach Stalin betreffen. Dazu werde ich erstens die Frage der Bedingungen des Wandels an der Zäsur des Jahres 1953, Stalins Todesjahr, diskutieren, zweitens Veränderungen des sowjetischen Staates skizzieren und drittens die Stellung der UdSSR im osteuropäischen Imperium umreißen. Es handelt sich um an anderer Stelle ausführlicher darzulegende und stärker theoretisch zu untermauernde Vorschläge von Seiten der Sowjethistorie, die Isolierung der Geschichte Westeuropas von der Osteuropas im 20. Jahrhundert durch Skizzierung übergreifender, aber nicht konvergenztheoretisch begründeter Problembereiche zu überwinden.

Wandlungsfähigkeit

Nach wie vor bleibt der Stalinismus das pulsierende Zentrum der sowjetischen Geschichte. In dieser Zeit wurden zentrale Merkmale des sowjetischen Systems geprägt: die kollektivierte Landwirtschaft, die Planindustrie, die Disproportionen zwischen Produktionsmittel- und Konsumgüterindustrie und das daraus folgende niedrige Konsumniveau der Bevölkerung, die "Kollektivierung" der geistigen Arbeit, das ästhetische Konzept des Sozialistischen Realismus, die Übernahme stalinistischer Werte bei den Individuen, die Gewalt, die als Gewaltandrohung auch nach Stalin nicht aufgehoben wurde. Zentralismus und Einparteistaat gab es zwar schon zuvor, doch ist es gerechtfertigt, vom strukturbildenden Stalinismus zu sprechen. Wenn vom Sozialismus sowjetischer Machart die Rede ist, dann ist der stalinistische gemeint. Dazu gehört auch die brutale Modernisierung, die Stalin als Aufholjagd auffasste: "Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in 10 Jahren durchlaufen. Entweder wir bringen das zuwege, oder wir werden zermalmt." Sie wurden zermalmt. Aber nicht vom Kapitalismus, sondern vom Stalinismus, und das Aufholen hat er nicht zuwege gebracht.

Das Jahr 1945 stellte für die Sowjetunion im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern trotz der verheerenden Kriegsverluste an Menschen, Material und Wirtschaftsleistung und trotz des Aufstiegs zur Weltmacht keinen tiefen Einschnitt in der Geschichte dar. Im Innern blieb die stalinistische Herrschaft mit all ihren bekannten Erscheinungen aus der Vorkriegszeit erhalten. Eher schon wäre 1953 als Einschnitt zu kennzeichnen, doch ist diese Zäsur keineswegs unproblematisch. Von der politischen Bühne abgetreten war der Inhaber der personalistischen Herrschaft, ohne dessen Wort keine Entscheidung von Belang fiel. Die wichtigste Veränderung war die Abkehr von den Gewaltverhältnissen des Stalinismus. Das ist das entscheidende Merkmal, das die Perioden der Sowjetgeschichte voneinander trennt. Aber der Befund sollte nicht idyllisiert werden. Chruscev hat aus Begeisterung über den bevorstehenden Übergang zum Kommunismus eine brutale Attacke gegen die "Überbleibsel" des Alten, gegen Religion, Gläubige und Priester, vom Zaun gebrochen, die stalinistische Züge trug.

Das Jahr 1953 stellt auch für die sowjetische Gesellschaft nur bedingt eine Zäsur dar. Eines der Erzübel des Stalinismus, die Lager, wurde nach und nach beseitigt. Gefangene kamen in den Genuss einer Amnestie oder erhielten auf administrativem Weg die Freiheit zu einem stigmatisierten Leben in einer Gesellschaft - von den staatlichen Behörden ganz zu schweigen -, die größtenteils nicht bereit war, die Lagerhäftlinge als Opfer der Gewaltherrschaft anzusehen. Die durch Raumerschließungsmaßnahmen und Rohstoffgewinnung im Zuge der stalinistischen Industrialisierung entstandene Migration setzte sich fort. Auch die mächtige Urbanisierung dauerte nach 1953 an. Seit den sechziger Jahren lebte über die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung in Städten.

Unübersehbar blieb das System erhalten. Wenn auch Chruscev den stalinistischen Sozialismus zu modernisieren suchte, konnte und wollte er an den Strukturmerkmalen nichts ändern. Es ist deswegen gerechtfertigt, von einer stalinistischen Strukturkontinuität bis in die Zeit der Perestrojka hinein zu sprechen. Andererseits haben alle Führungen nach Stalin versucht, sich vom Stalinismus zu lösen. Dies geschah auf den verschiedenen Gebieten zu unterschiedlicher Zeit und mit unterschiedlicher Intensität. Der stalinistischen Strukturkontinuität entspricht deshalb als Parallelerscheinung die asynchrone Entstalinisierung. Die Perestrojka bildete den Höhepunkt der Fundamentalreformen. Zwangsläufig verknüpfte sich in dieser Zeit die Neuorientierung mit der Kritik am überkommenen System. Der Stalinismus und seine Aufarbeitung, die Rehabilitierung der Opfer, die Defizite in der Landwirtschaft und Industrie, das mangelnde Konsumniveau der Bevölkerung, die Verfahren der Sowjetdemokratie und - lange Zeit unterdrückt - die Frage der Nationalitäten verklammerten die Perestrojka mit einer Vergangenheit, die sie letztlich überwältigte. Gorbac ev und seine Anhänger suchten deshalb die Zeit vor Stalin zur Unterstützung ihrer Politik zu mobilisieren: den "guten" Lenin, die Neue Ökonomische Politik der zwanziger Jahre.

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass in der Zeit zwischen 1953 und den späten sechziger Jahren, in der verschiedene Sozialismusreformen in Angriff genommen wurden, ehemalige Stalinisten das Ruder herumwarfen. Chruscev, der in die Geschichte als die Verkörperung der Entstalinisierung eingegangen ist, hatte Stalin treu gedient und Massenmord empfohlen, als er während des großen Terrors im Juli 1937 eine Liste mit 8500 Personen aufstellen ließ, die zu erschießen seien. Stalinisten also begannen die Entstalinisierung, die in den Kompaktreformen Chruscevs zu einem ersten Höhepunkt kam. Stalinisten um Brez nev verfolgten einen moderaten Weg der Dynamisierung des Systems (bevor sie Mitte der Siebzigerjahre in Lethargie verfielen). Das Regime besaß die Fähigkeit zur Selbstkorrektur, aber nur in dem Ausmaß, wie das System nicht in Frage gestellt wurde. Aus diesem Grunde waren alle politischen Führungen nach Stalin Gefangene des Stalinismus. Wer versuchte, daraus auszubrechen, zerstörte das System und entzog die Grundlage des fortgesetzten historischen Handelns im Horizont des bolschewistischen Projekts. In den Parolen der Perestrojka und ihren Ergebnissen lässt sich die Aporie auffinden: "Mehr Sozialismus" führte zu seinem Kollaps, "mehr Demokratie" zum Untergang des politischen Systems, "mehr Wohlstand" zu Armut und "neues Denken" als außenpolitisches Konzept zum Zusammenbruch des Imperiums.

Veränderungen des Staates

Es ist eine sehr bemerkenswerte Tatsache, dass der sowjetische Staat eines der zentralen Merkmale des Systems darstellte und in der Geschichte des Staates im 20. Jahrhundert eine herausgehobene Position einnimmt, dass es aber keine seiner Bedeutung entsprechende Theorie gibt. Es ist weiterhin erstaunlich, dass dieser Staat - nicht zuletzt infolge der in der Sowjethistorie anzutreffenden Tendenz zur kulturgeschichtlichen Abschweifung vom Wichtigen - wenig historiographische Beachtung gefunden hat. Mit den Begriffen Max Webers - rationale, charismatische, traditionale Herrschaft - wird man diesem Phänomen und seinen Wandlungsprozessen zwischen 1917 und 1991 nicht gerecht. Ebenso wenig lässt es sich mit Erziehungsdiktatur, Modernisierungsdiktatur, totalem oder totalitärem Staat charakterisieren. Besonders die marxistische Staatstheorie hat sich selbst blockiert, weil sich die historische Realität dieses Staates mit marxistischen Kategorien nicht angemessen beschreiben ließ.

Mit welchen Kategorien bzw. Begriffen lässt sich der Staat der Sowjetperiode darstellen? Die Bezeichnungen, die ihm von sowjetischer Seite gegeben worden sind, stimmen nicht: Diktatur des Proletariats, Volksstaat, Rätestaat. Das sind Verschleierungen dessen, was Staat war und wie er sich, für manchen Sowjetbürger auf der Haut, fühlbar machte. Das Problem des Staates der Sowjetperiode - nur diese umständliche, aber neutrale Bezeichnung ist gerechtfertigt, weil andere ihn unzulässig verkürzend etikettieren - besteht darin, dass er den Wandlungsprozess mit vollzog, der im vorigen Abschnitt in seinen Dilemmata angedeutet wurde. Vergröbernd gesagt: Aus dem stalinistischen Gewaltstaat, in dem die Rechtlosigkeit der Bürger durch gewaltförmiges Recht und politische Justiz auf die Spitze getrieben wurde, wuchs der sozialistische Wohlfahrtsstaat hervor. Darin lag sowohl ein Wandel zur Geltung von Recht enthalten, d.h. die Inkraftsetzung von Normen, die dem Maßnahmenstaat der stalinistischen Periode entgegenstanden, als auch die Ausrichtung des Staates auf die real existierenden Bedürfnisse der Gesellschaft, was im Stalinismus fehlte.

Skizzieren wir diesen Vorgang in den beiden Bereichen. Kaum war Stalin verblichen, da veröffentlichte die "Pravda" einen Artikel mit der Überschrift "Die sowjetische sozialistische Gesetzlichkeit ist unantastbar". Seit jener Zeit zielten Rechtsreformen darauf, den Sowjetbürgern das vollkommen zerrüttete Gefühl der Rechtssicherheit im Staat zurückzugeben, ergänzt um die politische Funktion, Vertrauen in die neue Führung zu gewinnen. Von großer Bedeutung war die Tatsache, dass die Sowjetunion nach Stalin zu einem formellen Verbrechensbegriff zurückkehrte, d.h., nicht mehr "soziale Gefährlichkeit" bildete den Straftatbestand, sondern die rechtswidrige und schuldhaft begangene Handlung. Wiederum ist festzustellen, dass die Komplizen Stalins diesen Weg eingeschlagen haben.

Aber auch hier zeigten sich die zuvor beschriebenen Aporien. Rechtsstaat war nicht vorgesehen, aber größere Rechtssicherheit schon. Der Staat band sich zwar immer mehr an Normen, aber er gab weder die Gewaltmittel aus der Hand, noch bannte er die Maßnahmen aus seinem Repertoire. Die Dissidenten wussten davon zu berichten. Die Geheimpolizei, auf deren Konto Massenmord in unvorstellbarem Ausmaß ging, sollte auch weiterhin eine feste Säule des Systems bilden. Es blieb dabei, dass der Staat prinzipiell über dem Recht stand und dass auch die Rechtsreformen die Gewalteneinheit nicht aufhoben. Maßnahmen - im Sinne von den Normen entgegengesetzten Willkürhandlungen des Staates - gab es weiter, und die "soziale Gefährlichkeit" fand sich in den "Parasitenparagraphen" wieder.

Wie sehr sich jedoch die Lage verändert hatte, machten die Dissidenten klar, die vom Staat die Einhaltung der von ihm erlassenen Gesetze forderten. Sie hatten seit der Entstalinisierung verstanden, dass im Recht ein Anspruch auf normative Geltung steckte, den das Regime wegen seiner Selbstbindung an das Recht nur um den Preis der Gewaltanwendung außer Kraft setzen konnte. Seit Mitte der sechziger Jahre also wurde Recht nicht mehr als Arkanbereich des Politischen angesehen, sondern als verbindliche Regelungsinstanz zwischenmenschlichen Lebens und der Beziehungen des Bürgers zum Staat. Die vom Regime in entstalinisierender Absicht betriebene, immer weiter fortschreitende Verrechtlichung bedeutete folglich die Selbstbeschränkung der staatlichen Machtmittel. Indem sich der Staat für Gesetzlichkeit entschied, verbaute er sich gleichzeitig mehr und mehr die Anwendung von Maßnahmen.

In der Perestrojka kam der Vorgang zum Abschluss insofern, als nicht nur die Verrechtlichung auf die Tagesordnung kam, sondern auch der politische Charakter des Rechts zur Disposition stand. Jetzt bemerkte auch die politische Führung der UdSSR, dass Rechtsstaat und Demokratie etwas miteinander zu tun hatten. Das Problem lautete: Entwickelte sich die sozialistische Gesetzlichkeit zum Rechtsstaat, so entfiel der Primat des Politischen einschließlich der Parteiherrschaft. Insofern bedeutete Verrechtlichung eine Falle, aus der es nur ein Entrinnen gab. Hatte ein marxistischer Staatstheoretiker orakelt: "Der Sozialismus wird demokratisch sein oder gar nicht", so zeigte sich das Dilemma im Lichte der sowjetischen Geschichte anders: Der Sozialismus war diktatorisch oder gar nicht.

Wie beim Recht, so hat der Staat nach Stalin außerordentlich viel unternommen, Sozialleistungen für die Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Vielleicht stellt dieser Wandel den - bisher weitgehend übersehenen - machtvollsten Veränderungsbestandteil der poststalinistischen Sowjetunion dar. Ob bei der Erhöhung der Realeinkommen, bei der Einführung von Renten - für die Kolchosbauern z.B. erst 1965 - bei der medizinischen Versorgung, dem Wohnungsbau und dem Konsum, bei der Subventionierung von Lebensmitteln, auch beim Erhalt der verfassungsmäßig vorgeschriebenen Vollbeschäftigung - überall setzte der Staat auf sozial politische Maßnahmen. Die Folge der Sozialpolitik war, dass sich sehr rasch eine intersubjektiv geteilte Erwartungshaltung gegenüber dem Sozialleistungen verteilenden Staat einstellte, die innerhalb von wenigen Jahren die UdSSR zu einer Art Sozialprotektorat machten. Darauf ist übrigens ein großer Teil der Sozialnostalgie nach der Wende zum Kapitalismus zurückzuführen. Auch die Sowjetunion hat einen Typ Wohlfahrtsstaat hervorgebracht.

Die Frage, warum sich dieser Wandel vollzog, ist weitaus schwieriger zu beantworten als die empirischen Befunde festzustellen. Die Unruhen in der Bevölkerung, die 1962 in dem blutig niedergeschlagenen Aufstand von Novoèerkassk gipfelten, bildeten sicherlich einen wichtigen Grund. Die Überlegung, wonach der Wohlfahrtsstaat ein unvermeidliches Produkt fortgeschrittener industriegesellschaftlicher Entwicklung darstellt, ist für die Sowjetunion nicht sofort einsichtig. Sie ist wohl eher dem Glauben an Strukturzwang geschuldet, insofern, als der Wohlfahrtsstaat ergebnishaft gedacht wird, ohne das Ausmaß der wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen wie des wohlfahrtsstaatlichen Systems zu berücksichtigen, das ja auch in den westlichen Ländern höchst unterschiedlich begründet und organisiert ist. So kann es - das sowjetische Beispiel ist ein Beleg dafür - einen Wohlfahrtsstaat geben, der die (westliche) Theorie, die in der Kodifizierung von bürgerlichen, politischen und schließlich sozialen Rechten eine aufsteigende Entwicklung der Industriegesellschaften sieht, nicht bestätigt, dennoch aber ein umfassendes System sozialpolitischer Leistungen aufbaut, das erheblich dazu beigetragen hat, Lebensrisiken zu mildern. Das Doppelgesicht aller Sozialpolitik, der Strukturkonservatismus einerseits und die gesellschaftspolitische Emanzipation andererseits, existierte in der UdSSR nicht, wo es um die systemerhaltende Funktion von Sozialpolitik ging.

Unter Stalin wurden - wieder vergröbernd gesprochen - die Probleme der Produktion durch Zwang und Gewalt gelöst. Nach der Abkehr vom Stalinismus war es notwendig, die Bevölkerung vermittelst der Ausschüttung von Sozialleistungen an das Regime zu binden. Das ist weitgehend gelungen, jedenfalls solange der Staat dies durchhalten konnte. In der Perestrojka hat der Kollaps des Sozialprotektorats diese Verbindung von Bevölkerung und Regime zerbrechen lassen. Zusammengebrochen ist das politische und das wirtschaftliche System, und zwar vollständig, während im Westen der Zusammenbruch des Sozialen nach bisheriger Kenntnis zum Kollaps der Demokratie, nicht aber des Kapitalismus zu führen scheint.

Stellung im Imperium

Zu wenig in ihren historischen Folgen gewürdigt worden zu sein scheint mir die Tatsache, dass der Sowjetstaat kein Nationalstaat war, wie er sich sonst in Europa ausgebildet hatte. (Wir lassen die Frage beiseite, ob der Nationalstaat in vielen Fällen, besonders in Osteuropa, nicht eher ein Phantom darstellte.) Es handelte sich um einen multinationalen Staat mit einer universalen Ideologie. Dadurch enthielt die UdSSR als Staatstyp eine expansive Raumkomponente, die dem Nationalstaat per definitionem verbarrikadiert war. Spätestens seit Ende der dreißiger Jahre löste sich die historisch bedingte Beschränkung auf den "Sozialismus in einem Land" auf, bekanntlich in enger Kumpanei mit Hitlerdeutschland. Von nun an begann sich das zu entwickeln, was später "sozialistisches Weltsystem" genannt wurde. Zwar zeigten sich bald Risse (Jugoslawien 1948, später China), aber der Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht kannte nur dort territoriale Grenzen, wo sie ihm von anderen (USA, Großbritannien) gesteckt wurden.

Das Imperium, das die UdSSR in Ostmitteleuropa errichtete, besaß einen eigenartigen Charakter. Einerseits exportierte Stalin sein System, verlangte Systemtreue und Waffenbrüderschaft, andererseits zahlte die UdSSR langfristig einen hohen Preis. Der bestand nicht nur im schrittweisen Verlust jeglicher Glaubwürdigkeit als Hegemon, nicht nur in der historischen Ironie, dass gerade der osteuropäische Teil den Untergang des Imperiums 1989 wesentlich beschleunigte, sondern auch in einer aberwitzigen wirtschaftlichen Verlustrechnung. Nachdem Osteuropa zu einem politischen, militärischen und Wirtschaftsraum unter Führung Moskaus geworden war, begann sich auch hier ein fundamentaler Wandel zu vollziehen.

Während die politische und militärische Verklammerung des Imperiums in Osteuropa hinlänglich bekannt ist, sind die Kenntnisse über den Wirtschaftsraum, auch ein Charakteristikum des osteuropäischen Sowjetimperiums, deutlich geringer. Nur einige Hinweise: In diesem Imperium galten nicht die Gesetze des Marktes; die Kosten-Nutzen-Analyse stellte nicht den Maßstab der Außenwirtschaftsverflechtung dar. Auch kaschierte der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) kein Ausbeutungsverhältnis zugunsten Moskaus.

Seit Chruscev hat der wirtschaftliche "Ostblock" fundamentale Änderungen erlebt. Die Sowjetunion suchte - ganz in der Pose des sozialistischen Förderers - die Industrialisierung in den betreffenden Ländern nach Kräften voranzutreiben. Nach den Aufständen in Polen und Ungarn 1956 und nach dem "Prager Frühling" 1968 leistete die Sowjetunion immer mehr Wirtschaftshilfe in Form von Rohstofflieferungen, besonders Öl, das deutlich unter Weltmarktpreis verkauft wurde.

Wenn man sich die zentrale Bedeutung dieses Energieträgers für die Volkswirtschaften vor Augen führt, so hebt sich der Wirtschaftscharakter des Imperiums hervor: Trotz verschiedener Preisreformen beim Erdöl kamen die Satellitenstaaten fast durchweg in den Genuss von gewaltigen Subventionen in Form von vergleichsweise niedrigen Ölpreisen. Das setzte sich auch nach dem Ölschock in den siebziger Jahren fort, der die westlichen Wirtschaften hart traf, zu einer Zeit also, als die UdSSR Petrodollars in unerwarteter Höhe auf dem Weltmarkt erwirtschaftete.

Die UdSSR wurde so zu einem Gläubiger, der nicht genügend Gegenwerte für seine Güter erhielt. Der Sympathie mit Kommunisten unverdächtige Quellen aus US-Kreisen haben die Handelssubventionen der UdSSR allein auf der Basis von Öl von 1960 bis 1980 auf fast 90 Milliarden US-Dollar errechnet. Die UdSSR habe nach der "Ölkrise" jährlich auf bis zu 18 Milliarden US-Dollar aufgrund der Freundschaftspreise "verzichtet". Während der Krise in Polen 1980/81 betrugen die verschiedenen Subventionen aus der UdSSR rund 4,3 Milliarden US-Dollar. Zum Vergleich: Der umstrittene "Milliardenkredit" der Bundesrepublik an die DDR, den Franz Josef Strauß 1984 einfädelte, belief sich auf 950 Millionen DM. Die Einkommensverluste der Sowjetunion beim Öl überstiegen die Gesamtauslandsverschuldung der Satellitenstaaten 1975 um das Vierfache, zu einer Zeit also, als man im Westen von der Verschuldungskrise der ostmitteleuropäischen Länder sprach.

Dem steht freilich gegenüber, dass die UdSSR ihre Strukturprobleme ebenfalls exportiert hatte. Das Desaster der stalinistischen Modernisierung lastete auf diese Weise auch auf den Satellitenstaaten und ihren Gesellschaften. Aber man wird die Unterscheidung zwischen Transfer- und Struktureffekten kaum empirisch treffen können. Dieses System besaß eine systemtypische Unlogik, wenn man es von der Warte marktförmigen Wirtschaftens aus betrachtet. Historiker nehmen gewöhnlich derlei normative Standpunkte nicht ein. Sie helfen nicht, ein historisches Geschehen zu erschließen.

Kurz: Das imperiale Warenstromgefüge war auf den Kopf gestellt. Das imperiale Zentrum lieferte Roh- und Brennstoffe und erhielt Halb- und Fertigprodukte. Die wirtschaftliche Ausbeutung durch Moskau war eine Legende, die von den Regierungen der kleinen Staaten gerne kolportiert wurde, um günstige terms of trade zu erhalten bzw. zu erzielen. Die riesigen Subventionen waren der enorm hohe Preis, den die UdSSR für den politischen Erhalt des Imperiums zahlte.

Rechnet man die gigantischen Subventionen innerhalb des Imperiums mit den unübersehbar hohen Unterstützungssummen für den sozialistischen Wohlfahrtsstaat auch nur in einer Daumenpeilung zusammen, so stellt sich die Frage, ob hier die Gründe zu suchen sind, die der Sowjetunion finanziell das Rückgrat brachen. Den Wohlfahrtsstaat aufrechtzuerhalten, war die Sowjetunion schließlich nicht mehr in der Lage; sie war sozial überdehnt; das Imperium finanziell in dem skizzierten Ausmaß zu stützen, vermochte sie ebenfalls nicht auf Dauer. Aber war sie zugleich imperial überdehnt, weil das Militär das meiste verschlang? Es deutet alles darauf hin, den Anteil der Militärausgaben an der wirtschaftlichen und finanziellen Überforderung der UdSSR stark zu relativieren. Dieses Regime zahlte gigantische Summen, um sich der Loyalität seiner Bevölkerung zu vergewissern; es zahlte enorme Beträge, um das Imperium zu konsolidieren; es schraubte die Militärausgaben in schwindelerregende Höhen, um den Gegner in Schach halten zu können. Aber durch Totrüsten allein, wie manche glaubten, war die UdSSR nicht in die Knie zu zwingen. Dahinter steckt ein Denken in den Kategorien des Kalten Krieges, dessen Ergebnis diese Denkfigur ihrerseits ist. Von ihr wird in einigen Jahren nichts mehr übrig bleiben. Den Untergang hat die Sowjetunion während einer Phase der kumulierenden Krisen in einem systemischen Kollaps selbst besorgt.

Schlussbemerkung

Die hier skizzierten Problembereiche Wandlungsfähigkeit, Staat und Imperium ließen sich ohne weiteres nicht nur ausführen, sondern auch um andere Gebiete ergänzen. Dazu ist hier nicht der Platz. Sie sollten andeuten, dass die Geschichte der Sowjetunion nicht auf Stalinismus und Fremdherrschaft in Ostmitteleuropa reduziert werden kann - was eigentlich selbstverständlich ist. Das bedeutet nicht die nostalgische Rehabilitierung der UdSSR, sondern ist ein Plädoyer für eine Historisierung der Entwicklungen, welche das bolschewistische Experiment in seiner späten Phase ebenso charakterisieren wie Repression und militärischer Gigantismus.

Es handelt sich um Vorschläge zu einem Gespräch über Probleme der Zeitgeschichte Europas, von dem sich bisher nur eines mit Sicherheit sagen lässt: dass es geführt werden muss, ohne von der Debatte über Europa und die Türkei sowie von der Globalisierung und der sich bereits abzeichnenden historiographischen Konjunktur überrollt zu werden. Etwas mehr "Ostintegration" in der Historiographie, mehr noch im öffentlichen Geschichtsbewusstsein, hinterlässt keinen Schaden. Die Sowjetunion in ihrem letzten Stadium zeigt, was passiert, wenn man sich um die Vergangenheit nicht ernsthaft kümmert: zuviel Geschichte auf einmal. Das ist nicht gut gegangen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995.

  2. Vgl. ebd. sowie Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999.

  3. Vgl. vorerst Stefan Plaggenborg, Sowjetische Geschichte in der Zeitgeschichte Europas, in: Alexander Nützenadel/Wolfgang Schieder (Hrsg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004, S. 225 - 256.

  4. Josef Stalin, Werke. Bd. 13, Berlin (Ost) 1955, S. 36.

  5. Vgl. T. A. C umac enko, Gosudarstvo, pravoslavnaja cerkov', verujus c ie 1941 - 1961 gg., Moskau 1999.

  6. Vgl. grundsätzlich zur Periode 1945 bis 1991 Stefan Plaggenborg (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 5 (2 Teilbde.): 1945 - 1991 - Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, Stuttgart 2002 - 2003.

  7. Vgl. Mark Junge, Rol'f Binner, Kak terror stal "bols im". Sekretnyj prikaz No. 00447 i technologija ego ispolnenija, Moskau 2003, S. 19.

  8. Die Begriffe Normen- und Maßnahmenstaat nach Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Frankfurt/M.-Köln 1974 (erstmals 1940).

  9. Im Folgenden nach Otto Luchterhand, Die Justiz, in: S.Plaggenborg (Anm. 6), S. 971 - 1024.

  10. Nicos Poulantzas, Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, autoritärer Etatismus, Hamburg 2002 (erstmals frz. 1974), S. 294.

  11. Vgl. Stefan Plaggenborg, "Entwickelter Sozialismus" und Supermacht 1964 - 1985, in: ders. (Anm. 6), S. 419 - 429, 497 - 501; ders., Lebensverhältnisse und Alltagsprobleme, in: ebd., S. 787 - 848.

  12. Vgl. Hans-Herrmann Höhmann, Wirtschaftsreformen in anderen sozialistischen Ländern: Modell oder Herausforderung für die Sowjetunion? Köln 1986 (Berichte des Bundesinstituts für internationale und ostwissenschaftliche Studien 27/1986).

Dr. phil., geb. 1956; Professor für Osteuropäische Geschichte an der Philipps-Universität Marburg. Seminar für Osteuropäische Geschichte, Philipps-Universität Marburg, Wilhelm-Röpke- Straße 6 C, 35032 Marburg.
E-Mail: E-Mail Link: oeg@staff.uni-marburg.de