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Die Piratenpartei als neue Akteurin im Parteiensystem

Christoph Bieber

/ 16 Minuten zu lesen

Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 schaffte die Piratenpartei erstmals den Sprung in ein deutsches Parlament. Ist ihr Aufstieg nachhaltig oder nur ein Übergangsphänomen?

Einleitung

Mit dem Wahlerfolg vom 18. September 2011 und dem Einzug von 15 Abgeordneten in das Berliner Abgeordnetenhaus hat sich die fünf Jahre alte Piratenpartei in der deutschen Parteienlandschaft etabliert - zu dieser Einschätzung neigen die meisten Beobachter angesichts eines Stimmenanteils von 8,9 Prozent. Ein massiver Mitgliederanstieg bis Ende 2011 sowie vergleichsweise solide Werte oberhalb der Fünfprozenthürde in den Umfragen verschiedener Meinungsforschungsinstitute scheinen diesen Eindruck auch bundesweit zu bestätigen. Aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive ist jedoch eine differenzierte Perspektive notwendig, schließlich folgten auf die ersten Achtungserfolge bei den Europa- und Bundestagswahlen 2009 mehrere erfolglose Auftritte bei Landtagswahlen, wirkt das programmatische Profil der Partei noch unscharf, und es fehlt ein über die engen Grenzen von Mitgliedschaft und netzpolitischer Szene hinaus bekanntes Personal. Zugleich ist unumstritten, dass durch die Piratenpartei eine experimentelle Zone eröffnet worden ist, in der viele Routinen politischer Organisations- und Kommunikationstätigkeit radikal auf die Probe gestellt werden. Darüber hinaus scheinen die Piraten als eine neue Form der "Anti-Parteien-Partei" wahrgenommen zu werden, Vergleiche mit den "frühen Grünen" sind alles andere als selten. Und schließlich ziehen die "Politik-Nerds" offenbar eine junge Klientel an und motivieren als politikverdrossen geltende Alterskohorten nicht nur zum Urnengang, sondern sogar zur aktiven Mitarbeit innerhalb eines verstaubten Organisationsmodells namens "Partei.

Vor diesem Hintergrund entstehen zahlreiche Fragen: Ist der Aufstieg der Piraten nachhaltig oder nur ein Übergangsphänomen? Was sind die Gründe für die hohe Popularität und den elektoralen Erfolg? Wie kann digitale politische Kommunikation in analoge Parteistrukturen überführt werden? Und schließlich: Wie passen die Piraten in das deutsche Parteiengefüge, und gibt es Folgen für das politische System?

Dieser Artikel skizziert die Entwicklung der Piratenpartei seit Frühjahr 2009, die sich in vier Phasen gliedern lässt. Dabei werden die Nutzung unterschiedlichster Formen von Online-Kommunikation sowie die gezielte Verzahnung digitaler sozialer Netzwerke mit den Parteistrukturen als Modernisierungsimpulse für die etablierten Akteure beleuchtet. Vor allem die innerparteilichen Diskussionen um die programmatische Positionierung und das Selbstverständnis der Partei spiegeln hier den Spagat zwischen basisdemokratischem Anspruch und pragmatischer Organisationspolitik wider.

Entwicklung in vier Phasen

Gegründet wurde die Piratenpartei Deutschland im September 2006. Ein wesentlicher Impuls ging dabei von der schwedischen Piratpartiet aus, die sich zu Beginn desselben Jahres formiert hatte. Die erste Teilnahme an einer Wahl in Deutschland datiert auf den Januar 2008, damals waren die Piraten mit einer Liste bei den hessischen Landtagswahlen vertreten und erreichten 0,2 Prozent der Stimmen. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde die Partei jedoch erst im Laufe des Jahres 2009 bekannt - ein Schlüsselereignis war dabei die Europawahl am 7. Juni. Hier erreichten die Piraten in Deutschland einen Stimmenanteil von 0,9 Prozent (229464 Stimmen), was zumindest eine Wahrnehmung als "Kleinstpartei" gewährleistete.

Vor allem die sogenannte #zensursula-Kampagne sowie die im Mai 2009 gestartete E-Petition "Internet - Keine Indizierung und Sperrung von Internetseiten" beim Deutschen Bundestag sorgten dafür, dass die Piraten vermehrt Aufmerksamkeit erhielten. Zwar wurde die Petition weder durch ein Mitglied noch durch ein Gremium der Partei eingereicht, aber durch die Nähe der Debatte um "Internetsperren" zu ihren Zielen und Forderungen fand eine informelle Kopplung an die Parteiorganisation und -kommunikation statt. Ihren Höhepunkt erreichte die gegenseitige Verstärkung von E-Petition, #zensursula-Kampagne und den Aktivitäten der Piratenpartei im Juni 2009. Zunächst endete am 16. Juni die Zeichnungsfrist für die E-Petition, die schließlich von 134015 Personen befürwortet worden war. Zwei Tage darauf stimmte der Bundestag mit den Stimmen der Großen Koalition für das "Zugangserschwerungsgesetz" (ZugErschwG), das die Errichtung der umstrittenen "Internetsperren" beinhaltete. Unter dem Motto "Löschen statt Sperren" gab es daraufhin am 20. Juni in zahlreichen Städten Demonstrationen gegen den Gesetzentwurf, zugleich erklärte an diesem Tag der langjährige SPD-Abgeordnete Jörg Tauss seinen Parteiaustritt und den Wechsel zur Piratenpartei. Damit stellten die Piraten bis zum Ende der Legislaturperiode kurzfristig einen Bundestagsabgeordneten.

Bei einer genaueren Betrachtung der Mitgliederzahlen lassen sich vier wesentliche, aufeinander folgende Entwicklungsphasen der Partei beschreiben: (1) eine längere Gründungsphase von September 2006 bis Juni 2009, (2) eine viermonatige, erste Wachstumsphase bis September 2009, (3) eine einjährige Stagnations- und Stabilisierungsphase bis September 2011 und (4) eine zweite Wachstumsphase, die bis heute andauert.

Für etwa zwei Jahre nach ihrer Gründung blieb die Piratenpartei eine Kleinstpartei mit wenigen Hundert Mitgliedern. Ein schwacher Zuwachs war im Frühjahr 2009 zu verzeichnen; Gründe dafür waren die Solidarisierungswelle mit vier schwedischen Betreibern der Online-Tauschbörse "The Pirate Bay", die wegen Urheberrechtsverletzungen verurteilt wurden, und die Europawahl. Rückblickend wird deutlich, dass die Zustimmung des Bundestags zum "Zugangserschwerungsgesetz" im Juni 2009 der zentrale Auslöser für das explosionsartige Mitgliederwachstum in der zweiten Entwicklungsphase war. In der Folgezeit stand die formale Anmeldung der Partei und ihrer Wahlkreiskandidaten zur Bundestagswahl im Mittelpunkt der Aktivitäten - diese Regelungen trugen zum Strukturaufbau der Gruppierung bei: Das Sammeln von Unterschriften für die Zulassung zur Wahl übertrug die Aktivität vieler Mitglieder aus dem Internet hinaus auf Straßen und Plätze. Dadurch wurde die Partei einer neuen Klientel bekannt, und es konnten erste Erfahrungen für den Straßenwahlkampf gesammelt werden. Angesichts einer vor allem auf Online-Kommunikation basierenden Debattenkultur war dieser "Zwang zur Analogisierung" ein erster wichtiger Schritt in Richtung politischer Organisationswirklichkeit.

Die erste Wachstumsphase endete allerdings rasch nach der Bundestagswahl - bis zum Jahresende 2009 flachte der Anstieg der Mitgliederzahlen ab, das Jahr 2010 ist von einer Stabilisierung bei etwa 12000 Mitgliedern gekennzeichnet. In die dritte Entwicklungsphase fielen mehrere Wahlen auf Landes- und Kommunalebene, bei denen die Piratenpartei nur bescheidenen Erfolg hatte und die Stimmenanteile bei etwa zwei Prozent stagnierten. Die interne Entwicklung spiegelte das gebremste Wachstum wider: Die Rekrutierung von Neumitgliedern gelang vorwiegend jenen Landesverbänden, die in Wahlkämpfen aktiv waren. Die vierte und vorerst letzte Entwicklungsphase wurde mit der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus eingeläutet - in der Wahlkampfzeit stiegen parallel zu den Umfragewerten auch die Mitgliederzahlen des Landesverbandes an. Mit dem in dieser Größenordnung nicht erwarteten Wahlerfolg setzte ein ähnlich sprunghaftes Wachstum ein wie zur Jahresmitte 2009. Bis zum Jahresende 2011 meldeten sich mehr als 8000 Neumitglieder an, so dass die Partei zu Beginn des Jahres 2012 mehr als 20000 Mitglieder zählt und zur siebtgrößten Parteiorganisation in Deutschland geworden ist.

Gerade diese vierte Phase kann als "ungesundes Wachstum" bezeichnet werden, das die bislang noch kaum ausgebaute Organisationsstruktur der Partei ins Wanken bringen könnte. Zwar erlaubt ihre Satzung eine Strukturierung der Landesverbände in verschiedene Untergliederungen, und es existieren auch innovative Formen der Mitgliederorganisation wie die sogenannten Crews. Bestimmend für die Organisationswirklichkeit ist aber das im Parteiprogramm formulierte Bekenntnis zu mehr direkter Demokratie und zur Stärkung einfacher Mitglieder. Konsequenterweise verzichten die Piraten bislang auf die Einrichtung eines Delegiertensystems für die Bundesparteitage als zentrales Parteiorgan, die in der Satzung folgerichtig als "Mitgliederversammlung auf Bundesebene" bezeichnet werden. Das weitgehende Fehlen professioneller Strukturen wie Geschäftsstellen oder Angestellter erschwert das Management der stetig wachsenden Mitgliederorganisation zusätzlich. Eine Ausnahme stellt die Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus dar, die dadurch als Vorreiter und Modernisierungsimpuls für die übrigen Parteistrukturen wirken könnte.

Trotz der Erfordernisse einer funktionierenden Parteibürokratie scheint der "engagierte Amateurstatus" alles andere als dysfunktional zu sein. Beim zweiten Bundesparteitag am 3. und 4. Dezember 2011 in Offenbach diskutierten etwa 1300 Teilnehmer über zentrale Punkte des Parteiprogramms und stimmten darüber ab. Zu den zentralen programmatischen Forderungen gehören seitdem etwa das bedingungslose Grundeinkommen, die Trennung von Staat und Kirche sowie die Legalisierung "weicher" Drogen. Auch ohne ein Delegiertensystem und die vorbereitende Tätigkeit einer Antragskommission verliefen die Diskussionen weitgehend reibungslos und produktiv.

Kommunikation als Partizipation?

Die Entstehung der Piratenpartei in ihrer aktuellen Form als eine zuwachsorientierte Mitgliederorganisation im Gewand der klassischen Parteien mutet unwahrscheinlich an. Schließlich wird der Hauptzielgruppe von internetaffinen Jung- oder gar Erstwählern nicht nur eine besonders politikverdrossene Haltung unterstellt, sondern auch eine Vorliebe für die vielen Möglichkeiten für eine niedrigschwellige Beteiligung an digitalen Politikprozessen wie Mail-Protestaktionen, E-Petitionen oder Website-Blockaden. Dennoch haben sich mehr als 20.000 Menschen als Mitglieder eingeschrieben und setzen ein Ausrufezeichen gegen den Trend: Lediglich die Grünen haben zuletzt Mitglieder hinzugewonnen, die übrigen Parteien kämpfen gegen Überalterung und Mitgliederschwund.

Die Initialzündung während der #zensursula-Kampagne und dem anschließenden Wahlkampf zur Bundestagswahl liefert den wohl wichtigsten Hinweis für das Eintreten dieses unwahrscheinlichen Wachstums: Die Kampagnen-Kommunikation basiert auf den wichtigsten Plattformen und Werkzeugen des auf Beteiligung ausgelegten Web 2.0 - Blogs, Online-Videos, Kommunikation in sozialen Netzwerken und digitale Echtzeitkommunikation. Allerdings ist diese Verwurzelung im Internet nur ein Baustein der "Wachstumsgeschichte", denn in allen Entwicklungsphasen sind Wechselwirkungen mit den Offline-Aktivitäten konstitutiv für die Genese der Piratenpartei.

Im Protest gegen die Einführung von Internetsperren wurde die Verzahnung einzelner Bausteine zu einer reichweitenstarken Online-Kampagne gewissermaßen einstudiert. Im Vorfeld der Bundestagswahl war dadurch eine leistungsfähige Infrastruktur entstanden, die mit einer veränderten Zielsetzung angepasst und reaktiviert werden konnte. Ein wichtiger Grund für das Gelingen einer solchermaßen alternativen Wahlkampagne ohne nennenswertes Budget und mit einer nur schwach ausgeprägten Offline-Komponente war jedoch die Abwesenheit einer zentralen, steuernden Parteibürokratie. Natürlich hatte die Piratenpartei im Herbst 2009 einen Bundesvorstand, doch nahm das Gremium unter dem damaligen Vorsitzenden Jens Seipenbusch keinen nennenswerten Einfluss auf die Wahlkampforganisation. Damit war der Weg frei für eine echte "Mitmach-Kampagne", die das Funktionsprinzip des Web 2.0 auf den Bundestagswahlkampf übersetzte. Das Resultat war ein von den Mitgliedern getriebener Wahlkampf mit niedrigen Einstiegsschwellen und einem dezentralen Netzwerk aus offenen Teilelementen wie einem Wiki (Externer Link: wiki.piratenpartei.de), zahlreichen Blogs (Externer Link: planet.piratenpartei.de), reichweitenstarken Twitter-Accounts (@piratenpartei) und Wettbewerbsformaten zur Ermittlung prominenter Kampagnenbeiträge.

Grundsätzlich lässt sich hier eine offene Kampagnenführung skizzieren, die sich maßgeblich von den klassischen, parteigesteuerten Marketingkampagnen unterscheidet. Der erzielte Stimmenanteil von zwei Prozent bei der Bundestagswahl war in dieser Perspektive im Grunde nur ein Nebeneffekt - der eigentliche Erfolg war die vergleichsweise starke und nachhaltige Mitgliederbindung: Gerade durch "spielerische Unprofessionalität" und Offenheit hat die Piratenpartei einen starken Partizipationsimpuls ausgelöst, dem insbesondere diejenigen folgen konnten, die sich mit den Kommunikationsbedingungen in digitalen, interaktiven Medienumgebungen auskennen. Die multimedial hochgerüsteten Online-Kampagnen der etablierten Parteien mögen zwar für professionellere Oberflächen und komplexere Online-Angebote gesorgt haben, die Piratenpartei hingegen profitierte von der Bereitstellung einer Plattform, auf der sich Neumitglieder und externe Unterstützer gleichermaßen betätigen konnten. In diesem Kontext entsprach die digitale politische Kommunikation tatsächlich einer "echten" Beteiligung am politischen Prozess.

Der Achtungserfolg bei der Bundestagswahl 2009, die damit verbundene öffentliche Sichtbarkeit und die Reaktionen der etablierten Parteien, die sich seitdem intensiver mit den Inhalten einer "Netzpolitik" auseinandergesetzt haben, boten schließlich den Nährboden für die weitere Entwicklung und Konsolidierung der Piratenpartei. Gleichwohl barg die Positionierung innerhalb des Parteienspektrums auch Gefahren: Gerade weil der Aufstieg im Jahr 2009 so rasch vonstatten ging, resultierte daraus eine hohe Erwartungshaltung und die Hoffnung, der Einzug in ein Länderparlament sei lediglich Formsache. Die Landtagswahlen in den Jahren 2010 und 2011 mit Resultaten deutlich unterhalb der Fünfprozenthürde erhielten daher schnell den Charakter von Niederlagen und Misserfolgen - obwohl es sich bei den jeweils antretenden Landesverbänden stets um Wahlkampf-Novizen handelte und die noch im Aufbau befindliche Parteistruktur kaum nennenswerte Impulse geben konnte.

Die personell wie finanziell im Vergleich zu den etablierten Parteien schwach ausgestatteten und zahlenmäßig weit unterlegenen Piraten hatten sich und ihre Ziele nun in der Fläche bekannt machen müssen wie etwa in Nordrhein-Westfalen (Mai 2010), Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg (beide März 2011), wo die Stimmenanteile bei gut zwei Prozent stagnierten. Auch in Regionen mit digitalem Nachholbedarf wie Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern (März/September 2011) blieben die Piraten auf diesem Niveau. Selbst in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen (Februar/Mai 2011) gelang keine Verbesserung, obwohl dort zumindest ein Straßenwahlkampf besser zu organisieren war und man im urbanen, studentischen Milieu neue Piratenhochburgen vermutet hatte.

Für die dezentrale, auf Beteiligung und Mobilisierung zielende Wahlkampfkommunikation waren partizipative Elemente demnach konstitutiv. Zusätzlich zu den nach außen gerichteten Kommunikationsformaten hat die Piratenpartei auch zahlreiche Werkzeuge und Routinen kultiviert, die auf eine Stärkung der Mitarbeit innerhalb der Organisation zielen. Auch hier handelt es sich um Formate der Online-Kommunikation, die mit klassischen Formen der Parteibinnenkommunikation kreativ verbunden wurden. So gilt das Voice-Chat-Format "Dicker Engel" als "der virtuelle Treffpunkt aller Piraten" zum basisdemokratischen Austausch. Typischer Weise finden dort inhaltsorientierte Diskussionen statt, das Forum wird aber zum Beispiel auch für die Vorstellung von Kandidaten für Parteiämter genutzt. Neben reinen Diskussionsformaten existieren auch verschiedene Varianten für Online-Abstimmungen, die der Ermittlung von Meinungsbildern oder der Vorbereitung "echter" Abstimmungen dienen, etwa die "Antrags-" oder "Meinungsfabriken", der "Piratensextant" sowie die "Limesurveys".

Das prominenteste Beteiligungswerkzeug ist jedoch die Plattform "Liquid Feedback", mit deren Hilfe nicht nur Meinungsbilder erhoben und Entscheidungen vorbereitet werden können, sondern zugleich internetbasierte Abstimmungen realisiert werden. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Variante der elektronischen Stimmabgabe, sondern um die Modellierung eines delegate voting, das eine flexible Weitergabe und Häufung von Stimmen im Rahmen eines kollektiven Diskussionsprozesses erlauben soll. Die technologische Realisierung der Idee einer "deliberativen Demokratie" wird insbesondere vorangetrieben durch die Berliner Vereine Liquid Democracy e.V. (Externer Link: http://liqd.net) und Public Software Group (Externer Link: www.public-software-group.org), deren Überlegungen und Vorarbeiten auch für die Adaption der Liquid Feedback-Plattform durch die Piratenpartei gesorgt haben. Diese Form der kollektiven Meinungs- und Willensbildung ist nicht unumstritten und kommt lediglich fallweise zur Anwendung. Dennoch ist die Idee einer "flüssigen Demokratie", die den einzelnen Parteimitgliedern unterschiedliche Beteiligungsoptionen bietet, besonders eng mit dem basisdemokratischen Anspruch und dem technologischen Innovationswillen der Piratenpartei verkoppelt.

Für die Organisationswirklichkeit der Partei erscheint bislang jedoch die Einbindung einfacherer Verfahren (etwa des "Dicken Engels" als virtuelles Vereinslokal) prägender zu sein. Ein vorläufiges Resultat ist die Stärkung dezentraler Diskussionen und einer innerorganisatorischen Offenheit, die beteiligungsfördernd ist und zugleich stilbildend für das Führen parteiinterner Debatten zu wirken scheint. Von der deliberationsorientierten Kommunikationskultur kann die Piratenpartei auch bei Offline-Veranstaltungen profitieren. So etwa beim Bundesparteitag im Dezember 2011: Der egalitäre Ansatz der zahlreichen digitalen Kommunikationsformate erfuhr dort seine Fortsetzung in der offenen Organisation der Plenumsdebatten. Auf der Tagesordnung standen vergleichsweise wenige Reden, stattdessen wurden vor allem Antragstexte diskutiert, die bereits vorab in "Antragsfabriken" oder anderen Foren entwickelt worden waren. Die gesamte Kommunikationssituation - unter anderem mit einem für alle Mitglieder potenziell frei zugänglichen Saalmikrofon - spiegelte die flache Hierarchie der Parteistrukturen wider.

Warum Berlin?

Aufgrund des Fehlens innerparteilicher Flügelstrukturen und einer schon traditionell zurückhaltenden, auf Verwaltung und Organisation ausgerichteten Vorstandstätigkeit dürften in der nächsten Zeit vor allem die Landesverbände als relevante Machtakteure innerhalb der Piratenpartei in den Fokus rücken. Auch die bislang in einer Art "kooperativen Konkurrenz" geführten Landtagswahlkämpfe deuten darauf hin, dass diese Organisationsebene eine wichtige Ressource für persönliche Profilierung und innerparteilichen Aufstieg darstellt.

Insbesondere der Wahlerfolg in Berlin hat gezeigt, dass nun auch die basisdemokratisch orientierte Piratenpartei faktisch über eine Parteielite verfügt - formal sind dies zunächst die 15 Mandatsträger, die in das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt wurden. Als politische Repräsentanten "im Hauptberuf" unterscheiden sie sich deutlich von den bisher ehrenamtlich tätigen "Kommunalpiraten". Und auch innerhalb dieser Spitzengruppe besteht ein Gefälle zwischen der Fraktionsleitung um Andreas Baum und für die Medien besonders interessante Ansprechpartner wie Gerwald Claus-Brunner oder Christopher Lauer einerseits sowie den "einfachen" Fraktionsmitgliedern andererseits. Die mediale Aufmerksamkeit erstreckt sich nach dem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus auch auf bislang eher zurückhaltend agierende Akteure des Bundesvorstands, besonders den Vorsitzenden Sebastian Nerz und die politische Geschäftsführerin Marina Weisband.

Als bisher einzig erfolgreichem Landesverband könnten aus Berlin wesentliche Impulse und Vorlagen für die formale Organisation und inhaltliche Positionierung in den kommenden Wahlkampagnen ausgehen. Allerdings muss der Wahlerfolg in Berlin zunächst als singuläres Ereignis betrachtet werden, der in keinem direkten Zusammenhang mit den bisherigen und voraussichtlich auch nicht mit künftigen Wahlkämpfen der Piraten steht. Beim "Heimspiel" in der Hauptstadt der deutschen Netzpolitik konnte der Berliner Landesverband auf den Vorteil einer vergleichsweise überschaubaren Wahlkampfarena bauen, mit zunehmender Wahlkampfdauer auch auf nervös reagierende Gegner. Dabei grenzt vor allem ein Umstand die Berliner Wahlkampfarena von denen anderer Bundesländer ab: Die bundespolitisch geprägten Diskurse um digitale Bürgerrechte sind beinahe nahtlos mit der Berliner Landespolitik verknüpft. Internet-Enquête, "Freiheit statt Angst"-Demonstrationen, die Internet-Konferenz "re:publica" oder der Chaos Computer Club - zentrale Akteure, Ereignisse und Offline-Schauplätze netzpolitischer Debatten sind in Berlin beheimatet. Diese Situation spielte den Piraten in die Hände, sie genossen als "Partei aus dem Internet" automatisch ein Aufmerksamkeitsplus.

Nächstes Level

Bis zur nächsten Bundestagswahl, die im Herbst 2013 vorgesehen ist, sieht sich die Piratenpartei einer Reihe von Herausforderungen gegenüber. Zunächst einmal muss sich die Berliner Fraktion den Anforderungen des parlamentarischen Alltags gewachsen zeigen und einen Professionalitätsnachweis liefern. Konkret müssen sich die gewählten Piraten mit den Routinen des Abgeordnetenhauses arrangieren, ohne ihre Verwurzelung in einer lebendigen und dezentralen Netzkultur aufzugeben. Eine gute, reibungslose und im besten Falle effektive Parlamentspräsenz würde der Piratenpartei insgesamt nutzen und deren Wahrnehmung als eine seriöse Erweiterung der deutschen Parteienlandschaft stärken.

Die relative Ruhe an der Wahlurne spielt den Piraten in die Hände: Bislang ist für 2012 lediglich eine einzige Landtagswahl angekündigt (Schleswig-Holstein). Dadurch bliebe genügend Zeit für die Konsolidierung und Professionalisierung der Parteistrukturen bis zur Bundestagswahl. Raum gäbe es auch für interne Debatten über die programmatische Ausrichtung. Dabei stünde im Wesentlichen die Klärung der Frage im Mittelpunkt, ob eine Konzentration auf das Politikfeld Netzpolitik oder eine Öffnung und Verbreiterung des Themenspektrums die bessere Option für die Positionierung im Parteienspektrum darstellt. In diesem Prozess nimmt die Entwicklung und Anwendung innovativer Formate zur digitalen Kommunikation und Organisation der Parteiarbeit einen hohen Stellenwert ein, denn hier liegt ein wichtiges Distinktionsmerkmal gegenüber den etablierten Parteien. Somit wird zu einer Schlüsselfrage, ob es der Piratenpartei auch im Schatten eines rasch voranschreitenden Organisationswachstums und einer formalen Professionalisierung gelingt, digitale Kollaborationsplattformen und Deliberationswerkzeuge wie "Liquid Feedback" auch weiterhin produktiv in den Arbeitsalltag zu integrieren. Wird dabei der spezielle Modus einer "digitalen innerparteilichen Demokratie" erfolgreich mit der Etablierung einer neuen Marke im traditionell eher strukturkonservativen Parteiensystem verbunden, dann werden die Piraten gute Chancen haben, auch im Bundestag einige Sitze zu ergattern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bislang ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Piratenpartei noch lückenhaft, für das Frühjahr 2012 sind jedoch zwei Sammelbände angekündigt. Vgl. Oskar Niedermayer, Erfolgsbedingungen neuer Parteien im Parteiensystem am Beispiel der Piratenpartei Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, (2010) 4, S. 838-854; ders. (Hrsg.), Die Piratenpartei, Wiesbaden 2012 (i.E.); Christoph Bieber/Claus Leggewie (Hrsg.), Unter Piraten. Erkundungen einer neuen politischen Arena, Bielefeld 2012 (i.E.). Darüber hinaus existieren einige Positionspapiere und Auswertungen politischer Stiftungen, Kurzanalysen, Materialsammlungen und Kommentare sowie Berichte aus der Innenperspektive. Vgl. Fabian Blumberg, Partei der "digital natives"?, Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin 2010; Udo Zolleis/Simon Prokopf/Fabian Strauch, Die Piratenpartei, Hanns-Seidel-Stiftung, München 2010; Henning Bartels, Die Piratenpartei, Berlin 2009; Friederike Schilbach (Hrsg.), Die Piratenpartei: Alles klar zum Entern?, Berlin 2011; Markus Lewitzki, Das Internet in Parteiform: Wie segelt die Piratenpartei?, 7.1.2011, online: www.regierungsforschung.de (9.1.2012); Tobias Neumann, Die Piratenpartei Deutschland, Berlin 2011; Sebastian Jabbusch, Liquid Democracy in der Piratenpartei. Eine neue Chance für innerparteiliche Demokratie im 21. Jahrhundert?, Magisterarbeit, Greifswald 2011.

  2. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Schwerpunkten bleibt an dieser Stelle zugunsten einer Betrachtung von Struktur und Organisation innerparteilicher Debatten außen vor. Einige Hinweise hierzu finden sich bei F. Blumberg sowie U. Zolleis et al. (Anm. 1).

  3. Für eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Piratenpartei in Schweden und zur Gründung des deutschen Ablegers vgl. online: http://web.piratenpartei.de/Geburtstag/
    Piratenpartei_Schweden sowie www.piratenpartei.de/navigation/presse/
    gründung (9.1.2012).

  4. Der Begriff #zensursula ist ein sogenannter hashtag, der das Suchen von bestimmten Inhalten auf der Kurznachrichten-Plattform Twitter erleichtern soll. Im Zuge der Online-Kampagne gegen die von der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen protegierten "Internetsperren" hatte sich das Kürzel herausgebildet, die griffige "Wortmarke" entwickelte sich jedoch rasch zu einer Chiffre für die Position der Bundesregierung in der Debatte um digitale Bürgerrechte. Vgl. Christoph Bieber, politik digital. Online zum Wähler, Salzhemmendorf 2010.

  5. Vgl. die offizielle Dokumentation der Petition online: https://epetitionen.bundestag.de/index.php?action=petition;sa=details;petition=3860 (9.1.2012).

  6. Vgl. Nicolas Kulish, Pirates' Strong Showing in Berlin Surprises Even Them, in: The New York Times vom 9.9.2011.

  7. Ständig aktualisierte Mitgliederzahlen sowohl für die Gesamtpartei als auch für die Landesverbände finden sich online: http://wiki.piratenpartei.de/Mitglieder (9.1.2012).

  8. Als Crew gilt eine (in der Regel lokale) Gruppe von fünf bis neun Piraten, die sich zu regelmäßigen Diskussions- und Planungstreffen versammelt, um die politische Basisarbeit sicherzustellen. Überschreitet eine Crew die Maximalgröße, so erfolgt eine Teilung in mindestens zwei kleinere Einheiten. Vgl. online: http://wiki.piratenpartei.de/NRW:Crewkonzept (9.1.2012).

  9. Vgl. online: http://wiki.piratenpartei.de/Parteiprogramm
    #Mehr_Demokratie_wagen (9.1.2012).

  10. Vgl. http://wiki.piratenpartei.de/Satzung#.C2.A7_9b_-_Der_Bundesparteitag (9.1.2012).

  11. Vgl. die umfangreiche Zusammenstellung der Presseberichte unter http://wiki.piratenpartei.de/Bundesparteitag
    _2011.2/Pressespiegel (9.1.2012) sowie die Dokumentation der Reden, Anträge und Beschlüsse unter http://piratenpad.de/ep/pad/view/
    ro.EKTgXyr97xze/latest (9.1.2012).

  12. Vgl. Oskar Niedermayer, Parteimitglieder in Deutschland: Version 2011, Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 18, Freie Universität Berlin 2011.

  13. Vgl. als Übersicht die Beiträge in Eva Schweitzer/Steffen Albrecht (Hrsg.), Die Rolle des Internet bei der Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2011.

  14. In eine ähnliche Richtung zielt der Einsatz der "Piratenpads", die zu einem wichtigen Werkzeug für den innerparteilichen Austausch geworden sind. Mit Hilfe solcher kollektiver Texteditoren (allgemein bekannt als "Etherpad") können Parteimitglieder und Unterstützer gemeinsam an Dokumenten arbeiten, etwa zur Vorbereitung von Sitzungen oder Veranstaltungen. Sie können jedoch auch zur externen Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt werden, wie die Dokumentation des Parteitags beweist (Anm. 11).

  15. Vgl. Christoph Bieber, Der Wahlkampf als Onlinespiel, in: Martin Eifert/Wolfgang Hoffmann-Riehm (Hrsg.), Innovation, Recht, öffentliche Kommunikation, Baden-Baden 2010, S. 233-254.

  16. Schon an dieser Stelle findet sich in Grundzügen die Idee der "Plattformneutralität" wieder, die für den Blogger Michael Seemann ein wesentlicher Baustein der Programmatik der Piraten ist. Vgl. Michael Seemann, Das politische Denken der Piraten, 6.10.2011, online: www.ctrl-verlust.net/das-politische-denken-der-piraten (9.1.2012).

  17. Aus dem "Piratenwiki" zum Stichwort "Dicker Engel". Weiter heißt es dort: "Hier treffen sich der Bundesvorstand, die Landesvorstände, Piraten, Freunde und Interessierte. Es wird frei gesprochen, geredet, gestritten, getauscht, gelacht und getrunken. Alle sind gleich. (...) Der 'Dicke Engel' ist der Ort, an dem man sich zwanglos, aber doch ernst in der Sache, engagiert." Online: http://wiki.piratenpartei.de/Dicker_Engel (9.1.2012).

  18. Diese Formate werden nicht bundeseinheitlich, sondern auf Landesverbandsebene erprobt und entwickelt. Die mit der freien Software "Limesurvey" erstellten Umfragen werden vom hessischen Landesverband koordiniert und auch vom Bundesvorstand genutzt.

  19. Zum Konzept der liquid democracy vgl. S. Jabbusch (Anm. 1).

  20. Auch die Enquête-Kommission "Internet und Digitale Gesellschaft" nutzt über die Internetseite www.enquetebeteiligung.deliquid-democracy-Software, was sowohl für eine breitere öffentliche Wahrnehmung des Konzeptes gesorgt als auch auf die Debatte innerhalb der Piratenpartei zurückgewirkt hat.

  21. Der Verfasser hat als Beobachter am Offenbacher Bundesparteitag der Piratenpartei teilgenommen, ein ausführlicher Beitrag über innerparteiliche Kommunikationsprozesse ist in Vorbereitung.

Dr. rer. soc., geb. 1970; Inhaber der Johann-Wilhelm-Welker-Stiftungsprofessur für Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft, NRW School of Governance, Institut für Politikwissenschaft Universität Duisburg-Essen, Lotharstraße 53, 47057 Duisburg. E-Mail Link: christoph.bieber@uni-due.de