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Versäumte Integrationschancen und nachholende Integrationspolitik | Integration | bpb.de

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Versäumte Integrationschancen und nachholende Integrationspolitik

Klaus J. Bade

/ 16 Minuten zu lesen

Auf dem Weg vom Nebeneinander zum Miteinander in der Einwanderungsgesellschaft gab es Versäumnisse auf beiden Seiten. Zur Gestaltung der gemeinsamen Zukunft gehört deshalb Schadensbegrenzung in Gestalt von nachholender Integrationspolitik.

Einleitung

Migrations- und Integrationspolitik sind Zentralbereiche der Gesellschaftspolitik im Einwanderungsland Deutschland. Das wird heute zunehmend anerkannt. Lange war das Gegenteil der Fall, gab es doch in Deutschland bis zum Vorabend der Jahrhundertwende ein gesellschaftliches Paradox: eine Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland.

Folgenreiche Versäumnisse existierten dabei auf beiden Seiten: Es gab sie bei der so genannten "Aufnahmegesellschaft", die sich in Wirklichkeit in stetem Wandel befand und in der längst auch Millionen von Zuwanderern zu Einheimischen geworden waren. Und es gab sie auf Seiten der vielgestaltigen Zuwandererbevölkerung, die vor dem Eintreffen der Aussiedler/Spätaussiedler in größerer Zahl vor allem aus jenen Arbeitswanderern bestand, die man im Volksmund lange "Gastarbeiter" nannte.

Gast ist freilich nur, wer nicht auf Dauer bleibt. Aber mehr als drei Millionen Arbeitswanderer beiderlei Geschlechts blieben. Sie verlagerten schließlich ihren Lebensmittelpunkt in die Bundesrepublik und zogen ihre Familien nach. Dieser Prozess wurde durch den "Anwerbestopp" von 1973 beschleunigt, der die Fluktuation zwischen Herkunftsländern und Zuwanderungsland beendete. Unter den meist nur in der männlichen Form adressierten "Gastarbeitern" gab es auch viele Pioniermigrantinnen, die ebenfalls allein zugewandert waren und durch Eheschließung mit deutschen Partnern oder durch Ehegattennachzug Familien in Deutschland gründeten. Zu konstatieren ist insgesamt ein Wandel von der Arbeitswanderung über Daueraufenthalte mit offenem Zeithorizont zu einer echten Einwanderungssituation, mithin ein Wandel von einer Zuwanderer- zu einer Einwandererbevölkerung.

Dieses Hinübergleiten in einen echten Einwanderungsprozess wurde von vielen der seit Mitte der 1950er Jahre zugewanderten ausländischen Arbeitskräfte lange nicht hinreichend erkannt. Sie verhielten sich vielfach nicht so, wie es von nach beruflich-sozialem Aufstieg im Einwanderungsland strebenden Einwanderern eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Das galt nicht nur für das Bemühen um den Erwerb der Staatsangehörigkeit des Einwanderungslandes, den freilich längere Zeit auch einzelne Herkunftsländer (etwa die Türkei) erschwerten. Es galt auch für das Erlernen der deutschen Sprache sowie für Bildung, Ausbildung und berufliche Qualifikation der zweiten Generation über das Niveau der un- bzw. angelernten Beschäftigungsverhältnisse hinaus, für die die "Gastarbeiter" seit Mitte der 1950er Jahre zumeist angeworben worden waren.

In der Mehrheitsgesellschaft durchaus geläufige pauschale Schuldzuweisungen sind freilich fehl am Platz; denn einerseits gab es viele Ausnahmen von dieser nur scheinbaren Regel und auch starke Unterschiede zwischen den Nationalitätengruppen, etwa bei dem am Schulerfolg der zweiten Generation gemessenen Integrationserfolg. Andererseits war hier weniger die nationale als die soziale Herkunft entscheidend - die in keinem anderen europäischen Land so unmittelbar auf die schulische Leistungsbilanz durchschlägt. Nachteilig wirkten oft auch importierte traditionale, in einer postmodernen Industriegesellschaft im Wandel zur tertiären Wissensgesellschaft hinderliche Verhaltensmuster und Wertorientierungen.

Das Leben der Einwanderer ohne Staatsangehörigkeit des Einwanderungslandes wurde durch wohlfahrtsstaatliche Reglements erleichtert - nach hinreichend verfestigtem Aufenthaltsstatus nicht selten auch mit Hilfe von staatlichen oder kommunalen Sozialtransfers: Ausländer auch aus Drittstaaten jenseits der EU konnten, wie in den meisten modernen Wohlfahrtsstaaten, bei langem Inlandsaufenthalt alle sozialen und wirtschaftlichen Rechte erwerben, die in klassischen Einwanderungsländern nur Staatsangehörigen oder gezielt ausgewählten Einwanderergruppen zustehen. Damit wurde der migratorische Selbstausleseprozess außer Kraft gesetzt, nach dessen ungeschriebenen harten Gesetzen weiterwandern oder zurückkehren muss, wer sich im Einwanderungsland wirtschaftlich nicht selbst versorgen kann.

Hinzu kam eine wachsende Abwehrhaltung des widerwilligen Einwanderungslandes: Zuwanderung wurde immer weniger als Hilfe von außen und immer mehr als soziale Belastung im Innern gewertet. Für die Zuwanderer war dies, jenseits ihrer alltäglichen Akzeptanz, in den politischen und publizistischen Diskursen unverkennbar. Das galt beispielsweise für den jenseits kurzfristiger Scheinerfolge (Mitnahmeeffekte) fehlgeschlagenen Versuch der frühen 1980er Jahre, Ausländer durch "Rückkehrprämien" aus dem Land zu locken. Die Erfahrungen anderer Länder hatten von Beginn an dagegen gesprochen. Die bundesweite Kampagne wurde denn auch von vielen Adressaten als geschönter Hinauswurf empfunden. Kaum anders stand es um die knapp ein Jahrzehnt später inszenierte bundesweite Sympathiewerbung für die aus dem östlichen Ausland zuwandernden - im Vergleich zu den zum Teil seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden Ausländern und ihren Familien lange durch großzügige Integrationshilfen unvergleichbar privilegierten - Aussiedler: Im Zentrum der PR-Kampagne standen Großanzeigen in der überregionalen Presse unter der von vielen Ausländern als erniedrigende Degradierung empfundenen Spalterformel "Aussiedler sind keine Ausländer!" Ähnliche Wirkungen zeitigte jüngst die mitunter von Geringschätzung, Misstrauen und Argwohn bestimmte politische Polemik um die "Einbürgerungstests". Sie war von der Fehleinschätzung getragen, die Deutschen könnten sich ihre - zumeist seit Jahrzehnten im Lande lebenden, in immer größerem Anteil auch schon hier geborenen oder doch hier aufgewachsenen - Einwanderer durch "Eignungstests" noch aussuchen.

Solche und andere Brüskierungen haben bei vielen dauerhaft im Lande lebenden Ausländern und ihren Familien mentale Verletzungen hinterlassen. Die davon nicht betroffene Mehrheitsgesellschaft hat dafür kaum ein Gespür. Hier liegen die Gründe dafür, dass die Zuwandererbevölkerung eine zum Teil deutlich andere, intergenerativ unterschiedlich gebrochene Erinnerung an die Einwanderungs- und Integrationsgeschichte in Deutschland hat als die Mehrheitsgesellschaft ohne Migrationshintergrund. Gelingende Integration aber setzt Integrationsbereitschaft nicht nur bei der Zuwandererbevölkerung, sondern auch bei der Mehrheitsgesellschaft voraus. In einigen Zuwanderergruppen zu beobachtende Tendenzen zu Selbstabgrenzung und Rückzug in Herkunfts- und Religionsgemeinschaften sind ganz wesentlich auch Echoeffekte auf Desorientierung und tatsächlichen oder auch nur so empfundenen Mangel an Akzeptanz im Integrationsprozess: Ein Einwanderungsland wider Willen sollte sich über gelegentlich widerwillige Einwanderer nicht wundern.

Es wäre abwegig, bei der Akzeptanz der Einwanderungssituation und bei den daraus für die jeweilige Seite zu ziehenden Folgerungen von annähernd gleichen Erkenntnischancen und Handlungsspielräumen auszugehen; denn die Definitionsmacht darüber, was ein Einwanderungsland ist, lag ausschließlich bei der Mehrheitsgesellschaft und ihren politischen Repräsentanten. Hier aber fehlte es lange an der Bereitschaft zur Akzeptanz der gesellschaftlichen Realitäten.

Dass es durch Zuwanderung und Integration zu Strukturveränderungen der "Aufnahmegesellschaft" kommen und diese im Ergebnis zur "Einwanderungsgesellschaft" werden würde, ist immer wieder vergeblich vorgetragen worden - in wissenschaftlichen Untersuchungen, aber auch in Berichten von Experten der Praxis und von in Arbeitsteams kooperierenden Vertretern beider Gruppen. Den wissenschaftlichen Einschätzungen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre lagen in der internationalen Migrationsforschung gültige, in Deutschland noch weitgehend unbekannte Standards für die Einschätzung von Migrations- und Integrationsprozessen zugrunde. Die frühen Forschungsergebnisse wurden nicht zur Kenntnis genommen, sondern verdrängt oder auch aus vermeintlich besserer politischer Weitsicht herablassend abgewiesen. Mehr noch - die Beschäftigung mit ihren Ergebnissen wurde zum Teil bis in die Begrifflichkeiten hinein amtlich untersagt: So war es etwa im Bundesministerium des Innern, wie der Verfasser selbst erleben konnte, noch in den späten 1980er Jahren nicht gestattet, das Stichwort "Einwanderung" auch nur zu erwähnen, geschweige denn darüber zu verhandeln. Einzelne ebenfalls frühzeitig auch in Aufklärungs- und Beratungsabsicht mit den Themen Migration und Integration befasste Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich angesichts dieses eklatanten Mangels an politischer Akzeptanzbereitschaft und Lernfähigkeit von diesen Themen abgewandt und sind, wie der Soziologe Hartmut Esser, erst in den letzten Jahren wieder nachdrücklicher zu diesem Forschungsfeld zurückgekehrt.

Vorwiegend politische Empörung erweckte vor diesem Hintergrund die frühe kritische Bestandsaufnahme des - dem Bundesarbeitsministerium zugeordneten - ersten Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, des vormaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Heinz Kühn aus dem Jahr 1979. Sie ging vor allem auf Kühns scharfsinnigen, mit engagierten Migrationsforschern kooperierenden, bereits 1983 verstorbenen jungen Chefdenker Karlfriedrich Eckstein zurück. Im Kühn-Memorandum wurde unmissverständlich konstatiert, dass aus der "Gastarbeiterbevölkerung" eine Einwandererbevölkerung geworden war. Gefordert wurden Einbürgerungserleichterungen und eine aktive Integrationsförderung: Was man heute nicht in die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien investiere, das müsse man unter Umständen später für Resozialisierung und Polizei bezahlen.

Was Kühn und Eckstein hier vordachten, entspricht der heute weithin akzeptierten Einsicht, dass die sozialen Folgekosten unzureichender Integration bei weitem höher sind als die Kosten rechtzeitig gewährter Integrationshilfen. Dass ihr düsteres Menetekel nicht Wirklichkeit wurde, war zweifelsohne weniger der - jenseits der pragmatisch eingeübten behördlichen Akzeptanz der Zuwandererbevölkerung auf kommunaler Ebene - weitgehend konzeptionslosen deutschen Integrationspolitik, sondern mehr der friedlichen alltäglichen Integrationsbereitschaft der Zuwandererbevölkerung zu verdanken, was in publizistischen und vor allem politischen Diskursen aber kaum Anerkennung fand. Viele Einwanderer und - über die Vererbung der sozialen Startpositionen - auch ihre Kinder haben bei dieser stillen Anpassung ohne zureichende Orientierungshilfen, geschweige denn zielorientierte Förderung im Integrationsprozess, auf ihren Lebenswegen einen hohen Preis gezahlt. So haben viele im Zuge jener weithin zu beobachtenden "Unterschichtung" der einheimischen Erwerbsbevölkerung, die deren beruflich-sozialen Aufstieg ermöglichte, selbst den Fahrstuhl nach oben` verpasst. Das schlägt sich in der Statistik darin nieder, dass von der deutschen Erwerbsbevölkerung jetzt weniger als ein Drittel (29 Prozent), von der ausländischen aber noch mehr als die Hälfte (53 Prozent) zur Arbeiterschaft zählen und die Arbeitslosenquote der ausländischen Erwerbsbevölkerung fast doppelt so hoch ist wie die der deutschen. In die gleiche Entwicklungslinie gehört die viel zu spät erkannte bzw. viel zu lange achselzuckend hingenommene und erst seit dem "PISA-Schock" brüskierend skandalisierte Bildungsmisere der zweiten und dritten Ausländergeneration.

Der "Anwerbestopp" von 1973 wirkte, wie ebenfalls frühzeitig erkannt und angemahnt wurde, als Bumerang, weil er den Wandel von der Arbeitswanderung zur Einwanderung nur verstärkte. Im Grunde wären für diejenigen, die sich zum Bleiben entschieden, schon damals gezielte Integrationsförderungen und -forderungen sowie - bei deren Erfüllung - Einbürgerungserleichterungen nötig gewesen; denn es hatte schon zu lange ein gesellschaftliches Nebeneinander ohne zureichende Perspektiven für die gemeinsame Zukunft gegeben. Solche zeitgenössischen Forderungen entsprachen im Kern bereits dem, was heute unter der Maßgabe "Fördern und Fordern" bei Neuzuwanderern für selbstverständlich gehalten wird. Aber der unantastbare, ebenso wirklichkeitsfremde wie gesellschaftlich folgenschwere Dementi-Konsens "Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland" blockierte die Aufnahme solcher Anregungen. Er hat der Mehrheitsgesellschaft ohne Migrationshintergrund, der Zuwandererbevölkerung und schließlich auch der "Bevölkerung mit Migrationshintergrund" - diese schließt Zuwanderer und deren Nachfahren bis in die dritte Generation ein - die Akzeptanz der Einwanderungssituation unnötig erschwert. Das Gleiche galt für die Akzeptanz der sich immer deutlicher herausbildenden "Einwanderungsgesellschaft", die die Mehrheitsgesellschaft und Bevölkerung mit Migrationshintergrund einschließt.

Statt konzeptorientierter Integrationspolitik gab es nach dem "Anwerbestopp" von 1973 noch jahrzehntelang vorwiegend "Ausländerpolitik", die kaum mehr war als Arbeitsmarktpolitik, angewendet auf Ausländer. Sie wurde in den 1980er Jahren begleitet von den illusionären Komponenten einer "sozialen Integration auf Zeit" und einer insbesondere an die deutsch-türkische Zuwandererbevölkerung adressierten "Förderung der Rückkehrbereitschaft" durch bewusste Aufrechterhaltung jener Heimatorientierung` - deren mentale Folgen heute allseits beklagt werden. Ich erinnere mich in dieser Hinsicht noch gut an meine vergebliche Kritik an der "demonstrativen Erkenntnisverweigerung" in den politischen Diskussionen der frühen 1980er Jahre und an meine Warnung vor deren sozialen Folgen, die heute vielerorts ,zu besichtigen` sind. Auch das von mir 1994 initiierte, von 60 deutschen Professorinnen und Professoren unterzeichnete, in großer Auflage verbreitete "Manifest der Sechzig: Deutschland und die Auswanderung", das zu einer Neuorientierung der Migrations- und Integrationspolitik aufrief, blieb in der 13. Legislaturperiode (1994 - 1998) politisch ebenso ohne Echo wie zwei weitere, zeitgleich von mir vorgelegte Bücher, in denen ich vor den gefährlichen gesellschaftlichen Folgen einer weiteren Erkenntnisverweigerung und Handlungsverspätung warnte.

Es blieb stattdessen bei dem, was der Historiker Wolfgang J. Mommsen für das Kaiserreich als ein sich stets weiter verselbständiges "System umgangener Entscheidungen" beschrieben hat. Das hatte fatale Folgen dergestalt, dass die immer wieder politisch beschworene Nicht-Existenz der Einwanderungssituation, ebenso Horrorgemälde von einer angeblich drohenden "Überflutung" durch unerwünschte Zuwanderung und die von vielen Politikern mit aggressiver Semantik vorgelebte Abwehrhaltung die politischen Handlungsspielräume mit Blick auf das Wählerverhalten der eigenen Klientel stets weiter verengten. Demonstrative Erkenntnisverweigerung gab es dabei sogar retrospektiv. Ein ehedem höchstrangiger Beamter des Bundesinnenministeriums ließ mich 1996 wissen: Rückblickend hätten wir mit unseren Bestandsaufnahmen und Trendaussagen seinerzeit zwar durchaus Recht gehabt - "aber das konnten Sie damals doch gar nicht wissen!"

Neuerdings werden Stichworte, die wir seit den späten 1970er und frühen 1980er Jahren in die Debatte geworfen haben, beherzt neu entdeckt. So werden etwa von mir stammende Formulierungen wie "Integration ist keine Einbahnstraße", "Integrationsförderung als Gesellschaftspolitik" oder "Integration als gesellschaftlicher Prozess auf Gegenseitigkeit" bzw. "als intergenerativer Kultur- und Sozialprozess" heute gern von Prominenten in der Politik verwendet. Das gilt auch für die Rede von einem für die Einwanderungsgesellschaft nötigen "neuen Gesellschaftsvertrag".

Heiner Geißler erinnert sich in diesem Sinne an seine frühe Rede von der "neuen sozialen Frage". Barbara John, die frühere Ausländerbeauftragte und spätere Integrationsbeauftragte des Senats von Berlin, teilt die Erfahrung, dass uns heute auf öffentlichen Veranstaltungen mitunter die eigenen, schon ein Vierteljahrhundert alten Ideen oder Redewendungen begegnen, zuweilen sogar mit erhobenem Zeigefinger mahnend vorgehalten werden. Auch Rita Süßmuth, Dieter Oberndörfer und die wenigen anderen heute noch aktiven frühen publizistischen Mitstreiter teilen diese Erfahrungen.

Die Veränderung der politischen Diktionen aber signalisierte, dass sich die politischen Einschätzungen von Migration und Integration zu wandeln begannen. Der im engeren Sinne legislative Wandel kam in vier Schritten: Ein erster Schritt war 1990 die Reform des Ausländerrechts unter Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, welche die Einbürgerung erleichterte und als Anspruchseinbürgerung ermöglichte. Der zweite Schritt wurde im Jahr 2000 mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts unter Bundesinnenminister Otto Schily getan. Sie ersetzte das alte, zwar vielfach novellierte, aber noch immer stark ethno-national geprägte Jus sanguinis (Vererbung der Staatsangehörigkeit) im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 durch ein bedingtes Jus soli (Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt im Land). Es gestattet im Land geborenen Kindern von Ausländern mit rechtlich gesichertem Daueraufenthalt auf Zeit die doppelte Staatsangehörigkeit - bis zum 23. Lebensjahr, vor dessen Vollendung sie sich für eine Staatsangehörigkeit entscheiden müssen.

Der dritte Schritt kam im Jahr 2005 durch das ebenfalls von Bundesinnenminister Schily initiierte Zuwanderungsgesetz. Es verband Migrations- und Integrationsrecht in einem großen Gesetzentwurf und erklärte Integration zur staatlichen Aufgabe. Es schuf das aus dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) hervorgegangene, auf der Bundesebene zentral für Migration und Integration zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) - dessen neue Zweckbestimmung zweifelsohne zutreffender als "Bundesamt für Migration und Integration" umschrieben worden wäre. Das Zuwanderungsgesetz reduzierte die unübersichtliche Statusvielfalt und vereinfachte die Migrationsverwaltung nach außen hin durch das "One-step-government" (ein zuständiger institutioneller Ansprechpartner für aufenthalts- und arbeitsrechtliche Fragen).

Das Ringen um einen tragfähigen politischen Kompromiss führte beim Zuwanderungsgesetz in einem extrem konfliktreichen Abstimmungsverfahren zu schweren programmatischen Einbußen. Am folgenreichsten war dabei die abermals populistisch motivierte generelle Stärkung der Zuwanderungsbegrenzung auf Kosten einer gezielten und damit ohnehin immer auch begrenzenden Zuwanderungsförderung. Das reichte von der Streichung des flexiblen Punktesystems zur Auswahl von passgerechten Einwanderern mit Hilfe variabler Kriterien nach Maßgabe des erfolgreichen kanadischen - und mittlerweile u.a. auch schon englischen, in Tschechien sogar im Sinne des ersten Entwurfs des deutschen Zuwanderungsgesetzes übernommenen - Vorbilds bis zur Abschaffung des im Vorgriff auf das Gesetz schon 2003 von Bundesinnenminister Otto Schily einberufenen unabhängigen Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration (Zuwanderungsrat). Beide Entscheidungen haben Deutschland hinter Einwanderungsländer Europas zurückgeworfen, in denen es eine konzeptorientierte Zuwanderungspolitik und eine - durch abhängige Ressortforschung und fallweise ausgelagerte Auftragsforschung nicht zu ersetzende - unabhängige wissenschaftliche Integrationsberatung gibt, die inzwischen auch Teil der Integrationsagenda der EU vom 1. September 2005 ist.

Den vierten Schritt auf Bundesebene bildeten 2006 der Integrationsgipfel von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Kooperation mit der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Staatsministerin Maria Böhmer, sowie - damit verschränkt - die Deutsche Islam Konferenz (DIK) von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Auf der in Integrationsfragen primär zuständigen Landesebene gab es zeitgleich verschiedene richtungweisende Initiativen, unter denen der vom nordrhein-westfälischen Kabinett beschlossene, unter Leitung des bundesweit ersten Integrationsministers Armin Laschet entwickelte "Aktionsplan Integration" das weitestgehende Querschnittskonzept umfasste. Auf der für Integration strategischen Schlüsselebene der Kommunen schließlich gibt es, zum Teil verschränkt mit den verschiedensten zivilgesellschaftlichen, auch von Stiftungen geförderten Initiativen, eine Vielzahl von oft schon durch langjährige Praxis bewährten und doch immer wieder neu an die sich wandelnden Herausforderungen der urbanen Einwanderungsgesellschaft angepassten Konzepten.

Der Staat selbst ist bei der konzeptorientierten Integrationsförderung erst im Vorfeld des Zuwanderungsgesetzes - mit den vorbereitenden Überlegungen der Unabhängigen Kommission Zuwanderung seit 2000/01 - aus einem langen, durch die verschiedensten Appelle nicht zu störenden Tiefschlaf erwacht. Zuvor war die themen- und gruppenorientierte Integrationsarbeit weitgehend an die Wohlfahrtsverbände delegiert worden. Seit der schlafende Riese Staat erwacht ist, gilt es, darauf zu achten, dass er sich nicht zu sehr in Allzuständigkeitsvisionen ergeht, gewissermaßen - frei nach Thomas Mann, der vom "General Dr. von Staat" gesprochen hatte - als "Generalintegrator Dr. von Staat". Zudem sollten historisch-politische Legendenbildungen vermieden werden, etwa in Gestalt der aktuellen politischen Legende, dass das, was uns dem Ziel der "Integrationsförderung als Gesellschaftspolitik" heute - 25 Jahre nach den frühen vergeblichen Appellen - allmählich näher bringt, vorher gesellschaftlich und politisch gar nicht möglich gewesen sei. Es erschien nur lange gesellschaftlich nicht möglich, weil es politisch für unmöglich bzw. für gegenstandslos erklärt wurde ("Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland").

Wir sollten das neue System einer konzeptorientierten Integrationspolitik auf insgesamt drei Säulen stellen, die ich "präventive", "begleitende" und "nachholende Integrationspolitik" genannt habe.

Säule 1: Es kommt darauf an, im Rahmen des Möglichen stärker auf die beruflich-soziale Passfähigkeit und damit vor allem auf die Qualifikation der Neuzuwanderer zu achten. Diese muss nicht immer erst mühevoll und teuer nachgebessert werden. Sie kann auch schon im Ausland vorbereitet werden. Das gilt gleichermaßen für Spätaussiedler und Juden. Diese "präventive Integrationspolitik" wird hier in Ansätzen bereits praktiziert: bei den Spätaussiedlern in Gestalt von in die Herkunftsräume ausgelagerten Sprachkursangeboten und bei Juden aus der GUS zusätzlich in einer Art Punktesystem mit Kriterien (insbesondere Sprache, Beruf, Alter) im Rahmen einer individuellen "Integrationsprognose". Aber in beiden Fällen fehlt noch die zureichende berufs-, arbeitsmarktperspektivische und im weitesten Sinne lebenspraktische Vorbereitung auf den Integrationsprozess.

Säule 2: Was vom Zuwanderungsgesetz für den Weg in und durch den Integrationsprozess selbst vorgesehen ist, habe ich "begleitende Integrationspolitik" genannt; denn Integrationspolitik funktioniert nicht im Passiv. Sie kann immer nur fördernde und fordernde Begleitung des wesentlich eigendynamischen Integrationsprozesses sein - Integration bleibt ein Lebensrisiko, das den Einwanderern nicht abgenommen werden kann. Integrationspolitik sollte pragmatisch sein, weite Perspektiven und einen langen Atem haben. Sie sollte selbstbewusst und möglichst klar sein. Nach einschlägigen Erfahrungen sollte sie Versäumnisse am Start, das heißt besonders bei Sprachförderung, vorschulischer Erziehung und schulischer Bildung der nachwachsenden Generation zu vermeiden suchen und deshalb die vom Zuwanderungsgesetz eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne von "Fördern und Fordern" im Zweifelsfalle lieber zu generös als zu zurückhaltend nutzen.

Säule 3: Wo es anhaltend klemmt, sollte - ebenfalls nach der Maßgabe "Fördern und Fordern" - nachgebessert werden durch das Konzept, das ich "nachholende Integrationspolitik" genannt habe: Nachholende Integrationspolitik ist die wichtigste Säule der Integrationspolitik in Deutschland. Sie wurde im weiteren Rahmen des Zuwanderungsgesetzes - über ein geringes Kontingent (50 000 bis 60 000 Kursplätze) hinaus - nur indirekt und mittelbar vorgesehen, soweit nämlich bei der "Erstintegration" Mittel übrig bleiben. Die nachholende gegenüber der begleitenden Integrationspolitik auf diese Weise hintanzustellen, war ein gesetzgeberischer Denkfehler; denn die Zahl der dauerhaft im Lande lebenden "Bestandsausländer", die niemals die heute für selbstverständlich erachteten Integrationskurse (Sprach- und Orientierungskurse) erhalten haben, übersteigt um ein Vielfaches die stets weiter schrumpfende Gruppe der Neuzuwanderer. Und wenn - grotesk übertrieben - pauschal vom "Scheitern der Integration" (eher noch vom Scheitern der bisherigen Integrationspolitik) als Begründung für solche Maßnahmen gesprochen wird, dann können damit ohnehin nicht die Neuzuwanderer gemeint sein - weil sie ja gerade erst gekommen sind, mithin noch gar nicht gescheitert sein können. Solche Kritik richtet sich vielmehr gerade an jene schon lange im Lande lebenden Einwanderer bzw. "Bestandsausländer" und besonders an deren zweite und dritte Generation, denen das Konzept der nachholenden Integrationspolitik in erster Linie gilt.

Auch nachholende Integrationspolitik kann immer nur als begleitende Maßnahme konzipiert werden. Sie kann also die Eigendynamik eines verspäteten Integrationsprozesses nicht etwa ersetzen, sondern nur fördernd begleiten bzw. einen gestörten oder steckengebliebenen Integrationsprozess wieder in Gang zu setzen suchen. Diese fördernde Begleitung durch nachholende Integrationspolitik ist - wie die begleitende Integrationspolitik - an dem Ziel der Eröffnung von Chancen zu einer möglichst gleichberechtigten Partizipation an allen gesellschaftlichen Teilbereichen orientiert. Das gilt insbesondere für die sprachliche Integration, also die zureichende Kommunikationsfähigkeit in der Mehrheitssprache; für die ohne diese Voraussetzung kaum erreichbare soziale Integration; für die kulturelle Integration einschließlich des sich Einlebens in die Grundwerte der Rechtskultur; für die ökonomische Integration, insbesondere den Zugang zum Arbeitsmarkt und, besonders bei jüngeren Menschen, für die Voraussetzungen dazu in Gestalt von familiärer Erziehung, schulischer Bildung und beruflicher Ausbildung bzw. Qualifikation.

Aber auch mit großzügig bemessenen und bedarfsorientierten Angeboten nachholender Integrationspolitik können immer nur einige und keineswegs etwa alle Versäumnisse der Vergangenheit korrigiert bzw. in ihren negativen Folgen begrenzt werden; denn irgendwann ist es, gemessen an versäumten früheren Chancen, für manche Gestaltungsmöglichkeiten immer einmal zu spät. Eine Schadensbegrenzung ist ohnehin nur dann möglich, wenn nicht versucht wird, die gesellschaftlichen Folgen der Versäumnisse der Vergangenheit heute noch mit oft überholten Lösungen von gestern zu beheben. Entsprechende Handlungsoptionen müssen deshalb - von unabhängiger Warte aus - stets neu auf ihre Passfähigkeit und Effizienz hin überprüft werden; denn die Einwanderungsgesellschaft ist kein statischer Zustand, sondern verändert sich in einem sich ständig wandelnden Sozial- und Kulturprozess. Diesen Wandel in kultureller Toleranz und sozialem Frieden aktiv zu begleiten, ist eine der größten Herausforderungen für die gesellschaftliche Zukunft in Deutschland und Europa.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Klaus J. Bade (Hrsg.), Das Manifest der Sechzig: Deutschland und die Einwanderung, München 1994; ders., Ausländer - Aussiedler - Asyl. Eine Bestandsaufnahme, München 1994; ders., Homo Migrans: Wanderungen aus und nach Deutschland- Erfahrungen und Fragen, Essen 1994.

  2. Wolfgang J. Mommsen, Das deutsche Kaiserreich als System umgangener Entscheidungen, in: Helmut Berding u.a. (Hrsg.), Vom Staat des Ancien Régime zum modernen Parteienstaat. Festschrift für Th. Schieder, München 1978, S. 239 - 265.

Dr. phil. habil., geb. 1944; o. Univ.-Prof. für Neueste Geschichte und Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, Neuer Graben 19 - 21, 49069 Osnabrück.
E-Mail: E-Mail Link: kjbade@t-online.de
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