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Arbeit und menschliche Würde - Essay | Humanisierung der Arbeit | bpb.de

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Arbeit und menschliche Würde - Essay

Oskar Negt

/ 8 Minuten zu lesen

Das Bezugssystem von Arbeit und menschlicher Würde hat zentrale Bedeutung für eine Humanisierung der Gesellschaft. Es gilt, die moralische Komponente des Umgangs mit lebendiger Arbeitskraft öffentlich kenntlich zu machen.

Jahrhunderte hat es gedauert, bis Würde die klassenspezifische Zuschreibung eines Statusmerkmals verloren hat und, angereichert mit moralischem Ansehen, zum Bestandteil der Rechtskultur wurde. Es ist offensichtlich Lernresultat aus Auschwitz und den sonstigen Staatsverbrechen, staatliches Handeln rechtswirksam zu binden. Wenn der moralische Impuls, der selbst im Statusbegriff der Würde verborgen war, in die Verfahrensrationalität eines Verfassungssystems eingebunden wird, ist dies ein gewaltiger Rechtsfortschritt. Die Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt- und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Im normativen Gehalt unserer Verfassung sind hohe Maßstäbe gesetzt; die Unantastbarkeit der Würde ist zu achten und zu schützen. Das deutsche Volk bekennt sich zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als der Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Höher sind gesellschaftliche Humanisierungsansprche kaum zu setzen; was dem zu Grunde liegt, ist der utopische Entwurf einer friedensfähigen und gerechten Gesellschaft. Man kann hier nicht nur von der Würde des Einzelnen sprechen, sondern von der Würde des Gemeinwesens, denn ein würdevolles Leben der Einzelnen kann es nur geben, wenn die Menschen diesen verfassungsrechtlich festgelegten Schutz und die Achtung in sichtbaren und spürbaren Alltagserfahrungen der kollektiven Solidarität wahrnehmen.

Der Kulturbegriff der Würde, wie ihn Cicero prägte, war bis ins bürgerliche Zeitalter hinein an Stand, Macht und Herrschaft gebunden. Noch bei Thomas Hobbes hat Würde (Dignity) keinen Eigenwert der Person. Gut 100 Jahre später formuliert Immanuel Kant einen Würdebegriff, der einen ganz anderen Wesensgehalt ausdrückt: Er ist ganz aus den Machtverwicklungen gelöst und zu einem bestimmenden Merkmal des aufrechten Gangs, der Persönlichkeit aufgewertet. In dem Maße, wie sich die Warenproduktion ausbreitet und in die Poren des gesellschaftlichen Lebens eindringt, aber auch die Privatverhältnisse ergreift, wird die Suche nach dem Unbedingten, dem selbstverständlich Geltenden, zu einem bestimmenden Motiv des modernen Denkens. Die Frage der Unaustauschbarkeit und der Unwiederholbarkeit wird zum Gegenpol des gesamten gesellschaftlichen Verkehrs. Das Unwiederholbare ist der absolute Gegenpol der Warenproduktion; es lässt sich dem Allgemeinen nicht subsumieren; aber lässt sich das Unwiederholbare als Allgemeines denken?

Kant ist der erste europäische Philosoph, der dem Unwiederholbaren, dem Unaustauschbar-Besonderen den Status des Allgemeinen verschafft. Solange der Begriff, der mit Würde verknüpft war, der autoritären Sonderstellung von Einzelpersonen zugeordnet wurde, war die Verknüpfung dieses Begriffs mit der Menschheit nichts weiter als eine modernisierte Form der Herrschaftslegitimation. In allen Hochkulturen enthält der Sprachsymbolvorrat Begriffe für das, was man nicht kaufen kann und was den unverwechselbaren, unaustauschbaren Eigensinn des Einzelnen ausmacht. Nun scheint gerade Arbeit in der modernen Welt der kapitalistischen Produktion zu jenen Kategorien zu gehören, die von Tauschvorgängen überhaupt nicht zu trennen sind; die lebendige Arbeit aus dem Zwangszusammenhang von Tausch zu lösen, könnte nichts anderes bedeuten, als die Geschichte zurückzudrehen.

Einer der Gründe dafür, dass mittlerweile dieser Begriff der Würde im umfassenden Sinne menschlicher Lebensbedingungen auch auf Arbeit bezogen wird, mag darin bestehen, dass bei sichtbar wachsender Reichtumsproduktion die Gesellschaft in großen Bereichen immer ärmer wird. Man spricht von der Klasse der Working Poor, der arbeitenden Armen. Man sieht, dass diejenigen, welche die Werte schaffen, keinerlei Verfügungsrechte über ihre Verwendung haben. Die Arbeitsutopien, die ursprünglich darauf gerichtet waren, die technologische Entwicklung zu fördern, um die Menschen vom Druck materieller Not zu befreien und Arbeitszeitverkürzungen zu ermöglichen, haben sich weitgehend zersetzt. Der Erschöpfungszustand der Arbeitenden dieser Gesellschaft hat einen Grad erreicht, der die Identität der Subjekte antastet und die Gesellschaft mit einer depressiven Gefühlslage überzieht.

Das betrifft diejenigen, die am System gesellschaftlicher Arbeit irgendwie noch beteiligt sind. Hier bildet sich der objektive Schein einer normalen Marktrationalität, bei welcher der Gebrauchswert lebendiger Arbeit Verwendung findet, wenn die Share-Holder-Interessen das erforderlich machen. Es wird jedoch immer dringlicher, die moralische Komponente des Umgangs mit lebendiger Arbeitskraft öffentlich kenntlich zu machen. Eine Formulierung des Kategorischen Imperativs Kants hat den Wortlaut: Behandle andere Menschen nie bloß als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck, als Selbstzweck. Arbeitsplätze zu schaffen, die den Menschen ermöglichen, auf angstfreier Existenzbasis zu leben, wäre ein solches Handlungsziel. Die zunehmende Fragmentierung der Arbeitsplätze, die Selbstverständlichkeit von Leiharbeit und vielen Formen der Job-Fragmentierung weisen dagegen in eine ganz andere Richtung.

Inzwischen sind die sogenannten Arbeitsagenturen soweit, dieses Fragmentierungsgeschäft des gegenwärtigen Kapitalismus als ein destruktives Element der Gesellschaft zu benennen; wer in fortwährend prekären Lebensverhältnissen existieren muss, verliert den Sinn individueller Lebensplanung. Es ist eben nicht nur die aktuelle Arbeitslosigkeit, welche die Zukunftsaussichten der Menschen verdunkelt. Es bedarf vielmehr einer neuen öffentlichen Aufmerksamkeit auf das, was sich im Rahmen normaler Marktgesetze abspielt, so, als wären es Naturgesetze, die unabänderlich sind. Was die Arbeitslosen empfinden, berührt zunehmend auch die Gefühlslage der in prekären Beschäftigungssituationen Eingemauerten.

Was diese Verbindungslinie Arbeit und menschliche Würde betrifft, ist deshalb die empfundene Entwürdigung der Arbeitslosen das Grundmuster des moralischen Skandals unserer Gesellschaft. Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt. Sie ist ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit der davon betroffenen Menschen. Raub und Enteignung der Fähigkeiten und Eigenschaften, die innerhalb der Familie, der Schule und der Lehre in einem mühsamen und aufwendigen Bildungsprozess erworben wurden und die - von ihren gesellschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten abgeschnitten - in Gefahr sind, zu verrotten und schwere Persönlichkeitsstörungen hervorzurufen. Vielfältige Formen der Selbstachtung und der sozialen Anerkennung im friedlichen Verkehr miteinander sind nach wie vor in zentraler Weise mit dem Wesensgehalt einer Arbeit verknüpft, die ihres Lohnes würdig ist. Wenn Entwürdigungen und Entrechtungen der Menschen so im Alltagsleben der Gesellschaft auftreten und nicht lediglich auf eine Ausnahmesituation beschränkt sind, wie können dann Bedingungen hergestellt werden, unter denen ein würdiges Leben möglich ist? Würde ist doch ein aktiver, zur Umgestaltung der Verhältnisse drängender Begriff. Was sind die Grundbedingungen dafür, dass Menschen ohne Kraftaufwand, der sie überfordert, in Würde und in aufrechtem Gang ihren Lebensweg beschreiten können? Ein auf Verteilungsgerechtigkeit, auf ein hohes Maß von sozialer Gleichheit beruhendes System gesellschaftlicher Arbeit ist wesentliche Grundlage einer friedensfähigen Gesellschaftsordnung.

Nach wie vor leben wir in einer Arbeitsgesellschaft; Hannah Arendts düstere Prognose, dass wir in einem Dilemma stecken würden, wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausginge, wir aber nur Kategorien der Arbeit zur Deutung der Krise zurückbehalten, ist eine Halbwahrheit. Nicht alle Arbeit geht der Gesellschaft aus. Aber im Zeitalter des digitalisierten Kapitalismus drängt die Rationalisierung immer stärker ins gesellschaftliche Lebenszentrum; damit auch die Tendenz, lebendige Arbeit durch Maschinensysteme zu ersetzen. Wenn sich diese Prozesse fortsetzen, werden wir eines Tages in der Tat menschenleere Fabrikationsorte haben. Wo bleiben unter solchen Strukturbedingungen die Menschen mit ihrer lebendigen Arbeitskraft? 500 Jahre hat es gedauert, bis Arbeit zum Bestandteil der Identitätsbildung der Menschen wurde, zu einem Persönlichkeitsanteil, um den herum sich Selbstwertgefühle und soziale Anerkennung organisieren. Wenn aber gegenständliche Tätigkeit mit der Formung äußerer Objekte (in der Warenproduktion) fundamentale Bedeutung für die Herstellung eines gesellschaftsfähigen Subjekts hat, dann müssen wir Antworten auf die Frage finden, wo die Menschen bleiben, die Opfer der Rationalisierung der Warenproduktion sind.

In dem Maße, wie die herkömmlichen Produktionsbereiche in der Anwendung lebendiger Arbeitskraft enger werden, wächst der Bedarf an Gemeinwesenarbeit, die jedoch nicht über den Markt, sondern über die zur gerechten Verteilung der kollektiv erarbeiteten Werte verpflichteten staatlichen Instanzen finanziert werden muss. In den neoliberalen Ideologien steckt der Wunsch, zentrale staatliche Regulierungsinstanzen in der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums abzubauen. Das führt jedoch zwangsläufig zu einer Polarisierung von Arm und Reich und am Ende zur Selbstzerrissenheit und Spaltung der Gesellschaft. An sich müsste es unter heutigen Bedingungen so sein, dass der analytische und praktische Blick der öffentlichen Vernunft konzentriert auf das Schicksal der lebendigen Arbeitskraft in dieser Gesellschaft zu lenken wäre. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Von toter Arbeit spricht Karl Marx treffend, auch von verstorbener Arbeit, wenn er die Akkumulationsbewegung des Kapitals untersucht. So werden lebendige Menschen mit ihren Arbeitsbedürfnissen und ihren Hoffnungen auf ein menschenfreundliches Gemeinwesen immer wieder herabgestuft auf bloße Anhängsel der Marktmechanismen, die sich alternativlos geben. Wie in einer Überflussökonomie, in der Mangelsituationen nicht der Not, sondern dem bewussten Willen geschuldet sind, mit den Lebensbedürfnissen der Menschen umgegangen wird, ist ein skandalöser Akt der Entwürdigung. Das ist eine Alltagsangelegenheit, nicht ein Ausnahmefall.

Ich komme auf meinen Ausgangspunkt zurück: Im geschichtlich-lebendigen Substanzgehalt von Würde ist ein bestimmtes Menschenbild festgehalten; obwohl Artikel 1 des Grundgesetzes so klingt, als ginge es hier um Tatbestandsfeststellungen, "ist unantastbar", "ist Verpflichtung", ist darin doch ein unbedingtes Sollen gemeint, ein kategorischer Imperativ derart, dass die Tatsachenwelt, das scheinbar alternativlos Gegebene, ihre Legitimationsgrundlagen verliert. Es sind innerweltliche Maßstäbe gesetzt, für ein Bild vom Menschen, dessen charakteristische Merkmale Autonomie und Selbstbestimmung sind. Der junge Marx, bewusst an Kant anknüpfend und die Arbeitswelt als entscheidende Grundlage der entwürdigenden Abhängigkeiten betrachtend, bezeichnet den Horizont, in dem sich die Humanisierung unserer Lebenswelt zu bewegen hat; nämlich nach Maßstäben eines kategorischen Imperativs, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist".

Wo der sozialdarwinistische Überlebenskampf der Menschen zum Prinzip einer auf Wachstum und Konkurrenz setzenden Gesellschaft erhoben wird, die darum bemüht ist, möglichst alle sozialstaatlichen Barrieren der Kapitalentwicklung und der Kapitalentfaltung beiseite zu schaffen, wird selbst das Scheitern und die individuelle Katastrophe noch als Anreiz betrachtet, sich nicht zur Ruhe zu begeben; das Selbstideal des unternehmerischen Menschen schreckt auch davor nicht zurück, der Erniedrigung und der Vereinsamung positive Akzente zu verleihen. Was gegenwärtig im Krisenzusammenhang der Arbeitsgesellschaft abläuft, lässt sich als eine Art Akkumulation des Angstrohstoffs bezeichnen; selbst die fleißig Arbeitenden haben in dieser Gesellschaft keinen sicheren Platz mehr. Das hat es in dieser Ausdehnung geschichtlich noch nie gegeben.

In den Bereichen der Warenproduktion scheint alles gewaltlos abzulaufen; das ist aber eine gefährliche Täuschung. Die Ansammlung von Angstrohstoff verweist auf innergesellschaftliche Kriegszustände, auf Gewaltpotenziale, die eines Tages auch politische Ausdrucksformen finden werden. Christa Wolf spricht mit Recht von einem Zustand des Vorkrieges: "Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde unter andern Sätzen: LASST EUCH NICHT VON DEN EIGNEN TÄUSCHEN." Diesen Zustand eines Vorkriegs gar nicht erst aufkommen zu lassen, dazu wäre eine der Leistungsgerechtigkeit und der guten Arbeit entsprechende Organisation der Gesellschaft am Besten geeignet. Das Bezugssystem von Arbeit und menschlicher Würde hat eine zentrale Bedeutung für eine Humanisierung der Gesellschaft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siegfried Landshut (Hrsg.), Karl Marx - Die Frühschriften, Stuttgart 20047, S. 283.

  2. Vgl. dazu Oskar Negt, Arbeit und menschliche Würde, Göttingen 2001; ders., Der politische Mensch, Göttingen 2010.

  3. Christa Wolf, Kassandra. Erzählung, Darmstadt-Neuwied 1983, S. 76f. (Hervorhebung im Original).

Dr. phil., Dr. h.c., geb. 1934; Professor (em.) der Sozialwissenschaften an der Universität Hannover; Podbielskistraße 31, 30163 Hannover.