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Armut und Reichtum in Deutschland | Zustand der Gesellschaft - Armut und Reichtum | bpb.de

Zustand der Gesellschaft - Armut und Reichtum Editorial Die phantasielose Gesellschaft Soziales Kapital, sozialer Zusammenhalt und soziale Ungleichheit Erosion des sozialstaatlichen Konsenses und die Entstehung einer neuen Konfliktlinie in Deutschland? Armut und Reichtum in Deutschland Armut und soziale Ausgrenzung im europäischen Kontext

Armut und Reichtum in Deutschland

Gerd Nollmann Hermann Strasser Hermann Gerd / Strasser Nollmann

/ 24 Minuten zu lesen

Nicht selten wird behauptet, dass die Kluft zwischen Arm und Reich den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährde. Daraus kann man jedoch nicht direkt auf einen Kampf zwischen Arm und Reich schließen.

Einleitung

Seit einigen Jahren beobachten nicht nur Sozialwissenschaftler, dass die Ungleichverteilung von Armut und Reichtum weltweit wieder zugenommen hat. Verdiente noch 1960 das reichste Fünftel der Menschheit 30 mal mehr als das ärmste, hat sich diese Relation heute auf etwa 75 : 1 erhöht. Nicht selten wird gefolgert, dass die sich öffnende Kluft zwischen Arm und Reich den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährde. Drohen die inzwischen wieder vielfältigen Gesichter der Armut die bundesrepublikanische Gesellschaft zu spalten?

Wir melden allerdings Zweifel an einer Sichtweise an, der zufolge von der ungleichen Armuts- und Reichtumsverteilung direkt auf den Kampf zwischen Arm und Reich zu schließen wäre. Wir wollen keineswegs bestreiten, dass die zu beobachtende Öffnung der Einkommensschere nicht wünschenswert sei. Es geht uns jedoch nicht um diese normative, letztlich politische Frage.

Vielmehr muss das Thema aus einer doppelten Perspektive behandelt werden: Erstens wollen wir in den beiden folgenden Kapiteln zunächst die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland aufzeigen. Um jedoch Aussagen und Prognosen über das Handeln der Armen und Reichen machen zu können, werden wir zweitens zur Diskussion stellen, wie in unserer Gesellschaft die Verteilung von Armut und Reichtum erlebt wird und welche Bedeutung Arme und Reiche ihr zuschreiben. Erst dann erhält man Hinweise auf Art, Ausmaß und Wahrscheinlichkeit sozialer Auseinandersetzungen.

I. Die Verteilung des Einkommens

Die materiellen Vor- und Nachteile lassen sich recht gut an der Geldmenge ablesen, die dem Einzelnen zum Lebensunterhalt zur Verfügung steht, denn heute sind die meisten Güter und Dienstleistungen käuflich und machen Wohlstand, Wohlfahrt und Lebensqualität gleichermaßen aus. Heute steht in Deutschland nicht mehr, wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Nützlichkeit der Dinge im Vordergrund, sondern in zunehmendem Maße das Design, die Ästhetik, nicht mehr der Gebrauchs-, sondern der Erlebniswert. Durch die fortschreitende Ästhetisierung unseres Alltags unterliegen immer mehr Gegenstände und Bereiche des Alltagslebens dem klassifizierenden Geschmack des Publikums. Diesem kann man freilich auf Dauer nur dann entsprechen, wenn man ihn sich leisten kann.

Einen ersten Hinweis auf das, was sich die Deutschen leisten können, liefert das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung (BSP p.K.). Es belief sich in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1999 auf 25 350 US-Dollar. Deutschland belegte damit den 13. Platz in der Weltbankrangliste der reichsten Länder und lag auf Platz 21 von insgesamt 206 Ländern. Es rangierte hinter Luxemburg, der Schweiz, Norwegen, Japan, Dänemark, den USA, Singapur und Österreich. Nach Deutschland folgten Länder wie Schweden, Belgien, die Niederlande, Finnland, Hongkong, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien.

Eine solche Rangliste sagt allerdings noch nichts über den Grad der ungleichen Verteilung des Einkommens aus. Ein Maß, das über die Verteilung des Einkommens (oder der Konsumausgaben) Auskunft gibt, ist der so genannte Gini-Koeffizient. Er gibt den Grad an, zu dem die Verteilung des Einkommens zwischen Individuen oder Haushalten in einer Gesellschaft von einer perfekten, d. h. Gleich-Verteilung abweicht.

So betrug der Gini-Koeffizient für Deutschland im Jahre 1995 0,30. Damit gehört Deutschland im internationalen Vergleich zu den eher egalitären Gesellschaften. Von den 105 Gesellschaften, für die aktuelle Daten vorliegen, wiesen nur 16 Gesellschaften einen Wert unter dem Deutschlands auf. Ein Vergleich z. B. mit den restlichen G-7-Staaten ergibt folgendes Bild: Einen kleineren Gini-Koeffizienten als Deutschland wiesen Japan (0,25) und Italien (0,27) auf, während die USA (0,41), Frankreich (0,33), Großbritannien (0,36) und Kanada (0,32) einen höheren Wert und damit eine größere Einkommensungleichheit verzeichneten. Verglichen mit den übrigen 20 OECD-Ländern nimmt Deutschland einen Platz im oberen Mittelfeld ein.

Auch diese Angaben vermitteln noch kein klares Bild über Art und Ausmaß des Reichtums der Deutschen. Wir müssen daher zunächst klären, was Reichtum überhaupt ist, ab welcher Höhe des Einkommens und/oder Vermögens man in Deutschland als reich betrachtet wird. Die Suche nach dem Reichtum und den Reichen gleicht, nicht nur in Deutschland, einer Detektivarbeit. Es gibt deshalb auch keine einzelne systematische, geschweige denn eine erschöpfende Datensammlung zu großen Einkommen und Vermögen, so dass die folgenden Zahlen aus verschiedenen Quellen mit unterschiedlichen Erhebungszeitpunkten stammen und zumeist in DM erfolgen.

Angesichts der erkennbaren Reichtumskonzentration liegt es nahe, etwa die Zahl der Millionäre als Konzentrationsmaßstab heranzuziehen. Immerhin weist die jüngste Datenquelle, die bundesdeutsche Lohn- und Einkommensstatistik für das Jahr 1995, 21 002 Personen und damit 0,08 % aller Steuerpflichtigen als Einkommensmillionäre aus. Diese verhältnismäßig kleine Gruppe hatte einen Anteil an den Gesamteinkünften von 3,4 %. Dieser Anteil war somit höher als jener von 3,3 %, der auf die rund 5,2 Millionen Steuerpflichtigen entfiel, deren Jahreseinkommen unter 20 000 DM lag.

Diese Angaben lassen eine deutliche Konzentration erkennen, erlauben aber noch keine Antwort auf die Frage, wer wie viel warum erhält. Eine klarere Vorstellung über die Einkommensverhältnisse lässt sich schon durch eine quantitative Definition von "reich" gewinnen: So zieht Ernst-Ulrich Huster die Reichtumsgrenze jenseits des doppelten durchschnittlichen Haushaltsäquivalenzeinkommens - in Anlehnung an die Erfassung von Armut, deren Grenze durch die Hälfte des gewichteten durchschnittlichen Einkommens markiert ist.

Nimmt man diese Kriterien als definitorische Richtschnur, ergibt sich für das erste Halbjahr 1998, dass in den rund 36,8 Millionen Haushalten das (ungewichtete) durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen bei 5 020 DM pro Monat lag. Rund 2,75 Millionen Haushalte (also 7,45 % oder jeder 13. Haushalt) bezogen 1998 ein monatliches Haushaltsnettoeinkommen zwischen 10 000 und 35 000 DM und können damit als reich bezeichnet werden. Andererseits mussten 8,16 Millionen Haushalte (d. i. mehr als jeder fünfte Haushalt oder 22,18 %, gerechnet ohne Personen in Anstalten und Gemeinschaftsunterkünften) mit einem monatlichen Nettoeinkommen unterhalb der Armutsgrenze von 2 500 DM auskommen.

So manches unerwartete Resultat liefert auch ein regionaler Vergleich: In den alten Bundesländern lag das (ungewichtete) durchschnittliche Nettohaushaltseinkommen im ersten Halbjahr 1998 bei 5 254 DM, die Reichtumsgrenze bei rund 10 500 DM monatlich. Im Jahre 1998 bezogen in den alten Bundesländern 2,58 Millionen Haushalte (8,60 %) ein (ungewichtetes) Nettoeinkommen zwischen 10 000 und 35 000 DM pro Monat, die wir nach obiger Definition als reich bezeichnet haben. Unter die approximative Armutsgrenze von 2 500 DM pro Monat fielen 6,07 Millionen Haushalte (20,30 %). In den neuen Bundesländern lag im ersten Halbjahr 1998 das (ungewichtete) durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen bei 3 956 DM pro Monat und die Reichtumsgrenze bei rund 7 900 DM. Aufgrund dieser Kriterien können dort 0,606 Millionen Haushalte (8,90 %) als reich klassifiziert werden, während 0,941 Millionen Haushalte (13,80 %) unter der Armutsgrenze von 1 978 DM pro Monat liegen.

Am besten lässt sich Deutschlands Einkommenspyramide veranschaulichen durch das Nettoäquivalenzeinkommen, das Einkommenshöhe und Haushaltsgröße verbindet, und seine Verteilung auf die verschiedenen Quintile - verstanden als soziale Schichten (von der Unterklasse des ärmsten Fünftels bis zur Oberschicht, dem reichsten Fünftel). Wie die Abbildung zeigt, verfügten 1998 das ärmste Fünftel der deutschen Haushalte über 9 % (West) bzw. 11 % (Ost) des Gesamteinkommens, während auf das reichste Fünftel immerhin 38 % bzw. 34 % entfielen. Letzteres besteht vor allem aus Selbständigen, aber auch aus Angestellten und Beamten, während das ärmste Fünftel vorwiegend Arbeiter- und Rentnerhaushalte umfasst.

Akzeptiert man die Abgrenzung von Huster, können sowohl Reichtum als auch Armut in Deutschland als weit verbreitetes Phänomen angesehen werden: Das Bild vom Reichtum wird von den rund 2,75 Millionen Haushalten geprägt, deren (ungewichtetes) Nettoeinkommen das Doppelte dieses monatlichen Durchschnitts übersteigt, das der Armut jedoch durch die über acht Millionen Haushalte, die weniger als die Hälfte des (ungewichteten) Nettodurchschnittseinkommens erreichten. Der im letzten Jahr vorgelegte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung sieht 1998 13,7 Millionen Menschen unter der Schwelle der Einkommensarmut. Sie setzten sich nicht zuletzt aus Langzeitarbeitslosen, allein erziehenden Frauen und kinderreichen, auch erwerbstätigen Familien zusammen. Die Kluft zwischen Arm und Reich, so das Resümee des Berichts, habe in den letzten Jahren zugenommen. Es gibt kaum Anzeichen dafür, dass sich daran in der jüngsten Zeit etwas geändert hat.

II. Die Verteilung des Vermögens

Die sozialpolitische Diskussion der letzten Jahre macht eines deutlich: Die Möglichkeiten, auf das in der Vergangenheit gebildete Geld- und Sachvermögen - sei es bei (vorübergehend) geringem Einkommen, sei es zur Aufrechterhaltung eines bestimmten Lebensstandards nach der Erwerbstätigkeit - zurückgreifen zu können, werden immer wichtiger und im Rahmen der künftigen Rentenfinanzierung auch gesetzlich eingefordert. Wie schon das Einkommen, zeichnet sich auch das Privatvermögen durch eine erhebliche Ungleichheit in der Verteilung zwischen Armen und Reichen, aber auch zwischen Jungen und Alten, Ost- und Westdeutschen aus.

Einer Berechnung des Magazins Forbes zufolge nahm die Bundesrepublik bei der Zahl der Milliardäre im Jahre 1991 den dritten Platz ein. Die USA hatten in absoluten Zahlen doppelt so viele Milliardäre wie Deutschland oder Japan, Deutschland wies dafür eine etwas höhere Konzentration von Milliardären pro Bevölkerungseinheit auf als die USA und Japan, wird aber erwartungsgemäß von Hongkong und der Schweiz übertroffen. Im Unterschied zu Japan weisen die deutschen Milliardäre bedeutend mehr Kontinuität und unternehmerische Macht auf: Mehr als die Hälfte datieren ihren Familienreichtum auf die Zeit vor 1945 zurück und immerhin sechs von ihnen auf die Zeit vor 1800. Als eigentliches Sprungbrett dieser Familienreichtümer erwies sich in den meisten Fällen die Industrialisierung Deutschlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Die deutsche Vermögenssteuerstatistik verzeichnet für das Jahr 1993 130 944 natürliche Personen von insgesamt 1 132 683 Vermögenssteuerpflichtigen, die ein Rohvermögen von mehr als einer Million DM deklarierten. Davon gaben 87 Personen ein Vermögen von 200 und mehr Millionen DM an. In den Einkommens- und Verbrauchsstichproben des Statistischen Bundesamtes (EVS) von 1993 gaben 88,4 % der befragten Personen an, Sparguthaben zu besitzen, 66,45 % der Befragten hielten Versicherungen. In Bausparverträgen deponierten 37,9 % zumindest einen Teil ihres Vermögens, etwas mehr in Wertpapieren (41,15 %); 23,1 % gaben andere Formen des Geldvermögens an.

Das Statistische Bundesamt verzeichnete zum Jahresende 1999 einen Spareinlagenbestand bei Privatpersonen von 1,165 Billionen DM allein bei Banken in Deutschland, einschließlich Bausparkassen (gerechnet ohne Bauspareinlagen). Nach der Geldvermögensrechnung der Deutschen Bundesbank von 1995 verfügten die privaten Haushalte über ein Nettogeldvermögen von 4,3 Billionen DM, dies machte fast das Doppelte des verfügbaren Jahreseinkommens aus.

Zum Jahresende 1993 betrug das durchschnittliche Nettogeldvermögen pro Haushalt 61 119 DM (nur Westdeutschland). Dabei lagen Selbständigenhaushalte mit 155 622 DM oder 254,6 % des durchschnittlichen Nettogeldvermögens aller Haushalte deutlich vorne. Landwirtschaftliche Haushalte verfügten über ein Nettogeldvermögen von 107 249 DM, Beamtenhaushalte über durchschnittlich 74 537 DM und Angestellte 66 734 DM. Unter dem Durchschnitt lagen Arbeiterhaushalte mit 45 139 DM und Arbeitslosenhaushalte mit 30 356 DM. Das Nettogeldvermögen von nichterwerbstätigen Haushalten belief sich am Ende des Jahres 1993 auf durchschnittlich 51 632 DM.

Ein Blick auf die Haushalte mit hohem und niedrigem Geldvermögensbesitz setzt diese Zahlen auf der Grundlage der EVS ins rechte Verteilungslicht: Die Hälfte der westdeutschen Haushalte verfügte 1993 über nicht mehr als 38 000 DM Spareinlagenvermögen, ein Zehntel über höchstens 4 000 DM. Die reichsten 6 % der Haushalte konnten jedoch auf finanzielle Rücklagen von über 200 000 DM zurückgreifen, auf sie entfiel rund ein Drittel des westdeutschen Geldvermögensbestandes. In Ostdeutschland waren diese Zahlen entsprechend niedriger: So verfügten nur 2 % der Haushalte über ein Geldvermögen von mehr als 100 000 DM - und damit über gut ein Zehntel des ostdeutschen Geldvermögensbestands. Auch hier enthält der schon zitierte Gini-Koeffizient eine wichtige Botschaft: Die Konzentration des Nettogeldvermögens der privaten Haushalte im Jahre 1993 betrug bundesweit 0,60, für Westdeutschland 0,62 und für Ostdeutschland 0,59. Die Verteilung des Nettogeldvermögens war also in Westdeutschland geringfügig ungleicher als in den neuen Bundesländern.

Erwartungsgemäß ist auch die Ungleichheit in der Verteilung des Immobilienvermögens im Vergleich zum Geldvermögen beträchtlich größer. Im Vergleich zum Geldvermögen ist die Konzentration von Immobilienbesitz in den neuen Bundesländern stark ausgeprägt, und zwar in den unteren Bereichen der Vermögensskala. Der Grund dafür liegt nicht nur im größeren Anteil der Haushalte mit Haus- und Grundvermögen in Westdeutschland zum Zeitpunkt der deutschen Einigung. Darüber hinaus bewirkt die schlechtere Bausubstanz in den neuen Ländern eine starke Klumpung der Grundvermögenswerte im unteren Bereich. So betrug in Westdeutschland im Jahre 1993 der Verkehrswert des Grundvermögens im Durchschnitt 426 300 DM, in den neuen Bundesländern dagegen nur 211 000 DM. Zweifellos fördert die vorwiegende Selbstrekrutierung von Haushalten mit sehr großen Einkommen und Vermögen aus der Gruppe der Selbständigen die Konzentration des Produktivvermögens.

Das Vermögen ist also deutlich ungleicher verteilt als das Einkommen. Meinhard Miegel rechnete schon zu Beginn der achtziger Jahre vor, dass die "Reichen", die 2,1 % der Bevölkerung ausmachen, nicht nur über knapp ein Zehntel (genau: 9 %) aller Haushaltseinkommen, sondern auch über ein Fünftel (genau: 19,2 %) des gesamten Privatvermögens verfügten. Ein ähnliches disproportionales Verhältnis ergab sich beim Bevölkerungsdrittel der "unterdurchschnittlich Gestellten", deren Anteil am Einkommen ein knappes Viertel (genau: 23,6 %), am Vermögen aber nur ein Siebtel (genau: 14,2 %) ausmachte. Laut Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verfügte von allen Haushalten jenes Fünftel mit den größten Vermögen 1993 im Schnitt über fünfmal und 1998 über fast sechsmal so viel Vermögen wie z. B. das mittlere Fünftel aller Haushalte, während das untere Quintil der Haushalte kein Vermögen hatte.

Natürlich ist diese Diskrepanz in der Verteilung von Einkommen und Vermögen mit der Chance zur Vermögensbildung zu erklären. Sie hängt entscheidend von der Einkommenshöhe ab, genauer: von dem Einkommensanteil, der nicht zum täglichen Verbrauch bestimmt ist. Die Idee der sozialen Marktwirtschaft geht deshalb auch mit der Forderung nach Vermögensbildung der Arbeitnehmer Hand in Hand.

Von einer Nivellierung der materiellen Ungleichheit in Deutschland kann also nicht die Rede sein, allenfalls von einer leichten Verbesserung des Verhältnisses zwischen dem reichsten und dem ärmsten Quintil - und das auch nur beim Einkommen, beim Vermögen haben die Disparitäten eher zugenommen. Die staatlichen Bestrebungen, mit Hilfe von Tarifpolitik, Steuerreformen, Sparförderung und Vermögensbildungsgesetzen Einkommen und Vermögen umzuverteilen, zeigen nur bescheidene Auswirkungen. Spürbar sind eher die pazifizierenden Wirkungen der Tarifpolitik gewesen, indem die Arbeitnehmer über Einkommenszuwächse während der Wirtschaftswunderjahre und danach am Wirtschaftswachstum, aber nicht über Umverteilungsmaßnahmen, teilhaben konnten.

Natürlich hat sich auch die Bedeutung der weitgehend konstanten Einkommensungleichheit geändert, die heute im Vergleich zu früher auf einem höheren Niveau zum Tragen kommt. "Schlechtgestellt" zu sein bedeutet heute etwas anderes als in der unmittelbaren Nachkriegszeit oder in den "Goldenen Zwanzigern".

Die Entwicklung des Volkseinkommens war zwischen 1800 und 1950 eher bescheiden, auch wenn sich das Realeinkommen im Kaiserreich immerhin verdoppelte und das reale Volkseinkommen pro Kopf 1950 nur ein Drittel größer war als 1900. Da die Größe der Haushalte schrumpfte, war das reale Volkseinkommen pro Haushalt 1950 sogar niedriger als zu Beginn des Jahrhunderts.

Seit der Gründung der Bundesrepublik bis zur Jahrtausendwende hat sich das reale Volkseinkommen allerdings mehr als vervierfacht, allein in den Wirtschaftswunderjahren veränderte es sich ebenso stark wie in den vorangegangenen drei Jahrhunderten - mit revolutionären Folgen durch die neuen Möglichkeiten für den Einzelnen, der den Schutz durch den Staat eigentlich nicht mehr nötig hätte. Doch viele Gesellschaftsmitglieder verhalten sich noch immer wie vor ein oder zwei Generationen.

III. Kampf der Armen gegen die Reichen?

Nicht nur Sozialwissenschaftler fragen sich, warum "die in einer Gesellschaft (bzw. in der Welt) bei der Verteilung begehrter Güter regelmäßig benachteiligte, an der selbstständigen Bestimmung ihres Schicksals gehinderte und vielfach diskriminierte Mehrheit der Bevölkerung diesen Zustand so häufig tatenlos hinnimmt" . Karl Marx hatte vor über 150 Jahren prognostiziert, dass die Ausgebeuteten immer ärmer und die Ausbeuter immer reicher würden, so dass ein Umsturz der Verhältnisse zu erwarten sei. Auch wenn dieses Szenario nicht eingetreten ist, gilt die bis heute anhaltende und in jüngerer Zeit wieder zunehmende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen als problematisch und konfliktträchtig. Lehnen sich die Armen gegen die Reichen auf? Werden sie es in Zukunft tun?

Betrachtet man die modernen Schauplätze, an denen Arme Reiche treffen könnten, um ihre Ansprüche zu formulieren, muss man zwangsläufig das Gegenteil annehmen. Lenkt man zunächst den Blick auf mögliche Reichtumskonflikte in der Welt der Berufe, fällt ein banales, aber nicht minder wirksames Phänomen auf: Als hierarchisch strukturierte Gebilde erzeugen Betriebe als Arbeitsorganisationen in der modernen Gesellschaft zwar primär ungleiche Einkommen, schließen jedoch intern Konflikte weitgehend aus. Der Grund dafür liegt in der Mitgliedschaftsregel. Sie besagt, dass sich jedes Mitglied einer formalen Organisation mit seinem Beitritt bestimmten, teilweise ausformulierten Verhaltenserwartungen unterwirft. In Konfliktsituationen zieht sich die Arbeitsorganisation darauf zurück, dass alle Mitglieder primär und auf gleiche Weise dem Organisationszweck verbunden sein sollen.

Frustrationen, Enttäuschungen und Konflikte müssen sich deshalb in der Berufswelt ihren Weg oft unterirdisch bahnen. So ist die Ungleichheit von Karrieremöglichkeiten und die Benachteiligung der Frauen zwar offenkundig, dennoch können Enttäuschungen nicht adäquat ausgedrückt werden. Karrierehoffnungen treffen angesichts der Knappheit höherer Stellen zwangsläufig auf die arbeitsorganisatorische Abwehr von Ansprüchen, die den Mitgliedern eine enttäuschungsbereite Vorsichtshaltung nahe legt.

Das duale System der industriellen Beziehungen verhindert zudem schon im Ansatz die Verhärtung von Konflikten zwischen Mitarbeitern, Betriebsräten und Geschäftsführungen. Während sich der Betriebsrat um die interne Vertretung von Interessen kümmert, wird der Streit ums Geld jeweils der Bühne des Unternehmens ausgetragen. Er findet als Tarifverhandlung an einem fernen Ort statt und wird mit massenmedialer Aura umgeben. Die dabei ausgesprochenen harten Worte machen für Mitarbeiter und Arbeitgeber deutlich, dass für ihre Interessen entschieden gekämpft werde. Eher selten, aber grundsätzlich erwartbar kommt es zu Streiks, die spürbare Schmerzen zufügen. Zum Ritual der Verhandlungspartner gehört es, nach einem Streik auch die Unzufriedenheit mit dem Erreichten auszudrücken und so dem Kontrahenten bei der Gesichtswahrung behilflich zu sein.

Die Ventilfunktion des Flächentarifvertrags wird dadurch jedoch nicht vermindert. Wären an seiner Stelle unzählige Verhandlungen zu führen, würden die Verteilungskonflikte in jedem Betrieb zu einer viel debattierten Realität. Sie würden nicht nur von der Arbeit abhalten. Folgenreicher wäre ihre Verunsicherung über die Angemessenheit ungleicher Einkommensverteilungen. Flächentarifverträge speisen so das Normalitätsempfinden. Auch wenn man sein Gehalt bescheiden findet, weiß man wenigstens, dass die Kolleginnen und Kollegen auf derselben Stufe genauso bezahlt werden, und zwar nicht nur die am nächsten Schreibtisch, sondern auch im gesamten Land.

Was im außertariflichen Bereich passiert, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Die tariflich bezahlten Mitarbeiter stellen bestenfalls Vermutungen über die Gehälter der leitenden Angestellten und Führungskräfte an. Werden Spitzengehälter dennoch thematisiert, führen sie eher zur Bewunderung als zu Konflikt und Aufbegehren. Die hohen Gehälter der Leitenden erscheinen dann eher als Beweis für ihre Übermacht.

Immerhin schreibt z. B. das Aktiengesetz im § 87 Abs. 1 vor, dass "die Gesamtbezüge in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben des Vorstandsmitglieds und zur Lage der Gesellschaft" stehen müssten. Wenn der Aufsichtsrat der Deutschen Bank ihrem Vorstandsvorsitzenden 12,682 Millionen Euro Jahresgehalt zubilligt, dann scheint das für die normalen Angestellten kaum nachvollziehbar zu sein. Diese Vergütung entspricht dem Jahresgehalt von mehr als 400 Bankangestellten, die gemäß Tarifvertrag mit rund 30 000 Euro "angemessen" entlohnt werden.

Die frühere Faustregel, dass Vorstandsmitglieder das Zwanzigfache des Facharbeiterlohnes verdienen, bewegt sich heute jenseits des Dreihundertfachen. Ganz abgesehen davon schließen hohe Abfindungen das persönliche Existenzrisiko ohnehin aus, auch wenn "goldene Handschläge" wie jene für Mannesmann-Chef Klaus Esser (60 Millionen DM) oder Chrysler-Chef Robert Eaton (97 Millionen Dollar) von der Größenordnung her Ausnahmen waren. Die Angemessenheit ungleicher Bezahlungen ist kaum mehr erkennbar, wenn sich die durchschnittliche Vergütung der Vorstände deutscher Großunternehmen zwischen 1995 und 2000 fast verdreifacht und ihre Grundvergütung mehr als verdoppelt, während tarifvertraglich entlohnte Arbeitnehmer in dieser Zeit in den meisten Branchen nur knapp zehn Prozent mehr Geld erzielen konnten. Da liegt die Erklärung mit dem "Kartell der Bosse", das sich gegenseitig die Millionen genehmigt, freilich nahe, weil die Aufsichtsräte, welche die Gehälter der Vorstände beschließen, wiederum aus ehemaligen Vorständen oder Vorständen anderer Unternehmen bestehen.

Diese Entwicklung ändert jedoch nichts daran, dass es in der Berufswelt heute im Regelfall gelingt, mit Hilfe von kollektiven Tarifverträgen das Willkürempfinden der Menschen weitgehend aufzulösen. Wer als Neuankömmling in der Welt der Berufe eine Enttäuschung erlebt und ungerechte Unterordnung beklagt, dem bestätigen die bereits sozialisierten Kollegen, dass alles seine Richtigkeit habe. Der erste mögliche Schauplatz des Konflikts zwischen Arm und Reich stellt sich für den Bürger erstaunlich konfliktfern dar.

Wendet sich der Bürger hingegen politischen Öffentlichkeiten zu, kann er anders erleben, empfinden und handeln, denn dort gilt die Hemmung des Konfliktausdrucks gerade nicht. In der Familie, Verwandtschaft und in geselligen Freundeskreisen, im öffentlichen Protest, neuen sozialen Bewegungen oder abends vor dem Bildschirm beschwert sich der Bürger nicht selten über die Ungerechtigkeit von Armut und Reichtum. Wer es im Beruf nicht geschafft hat, eine Tarifgruppe höher eingestuft zu werden, ganz zu schweigen von Beförderungen in Führungsebenen, die andere Einkommensdimensionen versprechen, sucht nach Ausdrucksmöglichkeiten für seine Enttäuschungen. Das gilt vor allem dann, wenn ein Vorankommen im Berufsleben ausbleibt oder sich das Gegenteil einstellt: der berufliche Abstieg, der durch Arbeitslosigkeit, Entlassungen, Firmenschließungen, Karriereeinbrüche und Standortverlagerungen heute millionenfach eintritt.

Wenn der Bürger seinen Frust in der Öffentlichkeit ausspricht, bleibt wie selbstverständlich vorausgesetzt, dass dessen eigentliche Quellen politisch nicht konfliktfähig sind. Die Organisationshierarchie hat in politischen Konflikten noch nie zur Disposition gestanden. Über Berufskarrieren kann nur in Unternehmen selbst entschieden werden. Führungspositionen können nicht vermehrt werden. Dass berufliche Hierarchien ungleiche Anerkennungs- und Achtungschancen hervorbringen, können Gewerkschaften ebenso wenig verhindern wie die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit von Berufskarrieren schon zu einem frühen Zeitpunkt in eine Sackgasse mündet und in erstaunlichem Ausmaß immer noch vom Status der Herkunftsfamilie abhängt.

Zudem können, seitdem in den siebziger Jahren der kurze Traum immerwährender Prosperität zu Ende gegangen ist, die westlichen Wohlfahrtsstaaten die Kluft zwischen Arm und Reich nicht mehr durch steigende Steuereinnahmen mildern. Noch Anfang der siebziger Jahre haben die Erfahrung ständiger Einkommenserhöhungen, wachsender Konsumchancen und der Glaube an ein ewiges Wachstum dem Bürger eine Lebensperspektive gegeben, die gleichsam automatisch nach "oben" zeigte. Berufliche Mobilitätserwartungen brauchten sich deshalb nicht unbedingt auf hierarchische Aufstiege zu richten.

Seit dem Ende dieser Träume befinden sich die Rollen der Menschen im Berufsleben und als Staatsbürger im Rückwärtsgang, so dass der Bürger nicht nur viel öfter in "unkonventionellen" Rollen gegenüber dem Staat auftritt. Der Bürger zeigt auch einen veränderten Erwartungsstil, denn er ist nicht anspruchslos, wenn er die öffentliche Bühne betritt. Wer sich im Kampf um Armut und Reichtum unterlegen sieht, kann wenigstens dem "Aufstand des Publikums" gegen den Staat beitreten und entsprechende Forderungen stellen.

Während Finanzminister, egal welcher politischen Couleur, schon beim Amtsantritt ein grundsätzliches Veto gegen jeglichen Ausgabenwunsch verkünden, wird die Anspruchsinflation durch Interessenvertreter, Verbände, Parteien und Massenmedien verstärkt. Die Klagen über neue Armut, Massenarbeitslosigkeit und die sich erweiternde Schere von Arm und Reich verhallen zwar nicht ungehört. Aber das laute, politische Getöse spaltet die Gesellschaft nicht, weil es weitgehend folgenlos bleibt. Im Ergebnis findet sich der Staatsbürger am Feierabend zu den Nachrichten wieder und schüttelt den Kopf über das, was Interessenvertreter und Politik ihm zu bieten haben. Politikverdrossenheit ist das Ergebnis; Armut und Reichtum bleiben von öffentlichen Auseinandersetzungen weitgehend unberührt.

In der korporatistisch formierten Gesellschaft Deutschlands ist ein etwaiger Schauplatz für Kämpfe um Vermögensverteilungen nicht auszumachen. Im institutionalisierten, entschärften Tarifkonflikt geht es um Einkommens-, nicht um Vermögensfragen, schon gar nicht um grundsätzliche Verteilungsfragen. Vermögen wird still vererbt, leise angehäuft oder zufällig im Lotto gewonnen, nicht jedoch durch öffentlich sichtbare, beabsichtigte und bestimmten Gruppen zurechenbare Entscheidungen zugewiesen. Dadurch ist es desintegrierenden Auseinandersetzungen von vornherein entzogen. Die weniger Reichen und auch die Armen erleben den Reichtum der Reichen mit Bewunderung in den Boulevardblättern und bei RTL-Exklusiv. Sie schauen zu ihnen auf, hegen keine Umsturzgelüste und wissen zudem nicht viel über das genaue Ausmaß dieses Reichtums.

Wie Untersuchungen immer wieder gezeigt haben, definieren die Menschen ihre Lage nicht, wie man als externer Beobachter leicht glauben könnte, nach statistischen Verteilungsmaßstäben sozialer Gleichheit oder Gerechtigkeit. Sie beurteilen ihre materielle Lebenslage vielmehr im Verhältnis zu ihren jeweiligen Bezugsgruppen, um eigene Normalitätserwartungen zu bilden. Selbst wenn sie "objektiv" als arm erscheinen, meinen sie, sie seien selbst eher ein Durchschnittsfall. Und so fühlen sich Kolleginnen und Kollegen in einer Arbeitsgruppe ungerecht behandelt, weil ihr Einkommensunterschied vielleicht bei 1 000 Euro im Jahr liegt, während sich der deutsche Vorstandsvorsitzende eines internationalen Konzerns mit rund 6 Millionen Euro Jahressalär unterbezahlt fühlt, weil sein amerikanischer Kollege ein Vielfaches davon verdient. Auch wenn es dadurch zu "lokalen" Streitigkeiten kommen mag, wird der gesamtgesellschaftliche Zusammenhalt durch Bezugsgruppenkonflikte eher verstärkt, weil Konfliktlinien mit größerer Sprengkraft vielfältig gebrochen und entschärft werden.

IV. Die Rechtfertigung: Anspruch und Wirklichkeit

Die ungleiche Verteilung und das ungleiche Erleben von Armut und Reichtum erinnern daran, dass unsere Gesellschaft nicht nur eine Meritokratie ist, in der jeder das erhält, was seiner Begabung und Anstrengung entspricht. Vielmehr wird auch heute ein nicht geringer Teil dessen, was die Menschen im Lebensverlauf erhalten, über die Geburt, die soziale Herkunft, den Status und das Vermögen der Eltern von Generation zu Generation weitergereicht. Allerdings ist die Transparenz dieser aristokratischen Kontinuität verloren gegangen. Während Leistung als Begründung von Verteilungsentscheidungen hoch im Kurs steht und einige Forscher gar glauben, den sich verstärkenden Aufstieg der intelligentesten Menschen in die höchsten Positionen belegen zu können, weiß man vergleichsweise wenig über die genauen Mechanismen, welche die Menschen in die "hohen" und "niedrigen" gesellschaftlichen Positionen und damit letztlich auch zu Armut und Reichtum führen.

Langfristig überwiegen zweifellos die institutionalisierten Kräfte, die im ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital der Gesellschaftsmitglieder schlummern und die Kluft zwischen Arm und Reich eher öffnen denn schließen. Überdies wird über die Verteilung der erstrebten Ressourcen in den Zentren der Organisationen von Wirtschaft und Verwaltung, Politik und Bildung entschieden. Das Beispiel der Selbstbedienung bei Aktienoptionen, mit denen sich neuerdings auch deutsche Manager die astronomischen Millionengehälter ihrer amerikanischen Kollegen einräumen (wollen), zeigt, dass Einkommensverteilungen nicht abstrakten Angemessenheits- oder Gerechtigkeitsprinzipien folgen. Sie hängen vielmehr von der jeweiligen sozialen Position und der Macht ab, die dieser Stellung innewohnt.

Die unübersehbare Aufspreizung distributiver Ungleichheit geschieht heute ohne besondere Aufregung und wird zunächst nur von Statistikern bemerkt. Sie braucht keine aufwendigen Konflikte. Ihre treibende Kraft ist ungebrochen und wurde in der Ausbauphase des Wohlfahrtsstaates nur kurzzeitig gebremst, nicht aber außer Kraft gesetzt. Auf mehr Gleichheit und Einkommensgerechtigkeit zielende Gegenbewegungen brauchen demgegenüber intensive politische Konflikte, um erfolgreich sein zu können. Heute darf auch nicht übersehen werden, dass die wohlfahrtsstaatliche Befriedung des kapitalistischen Wirtschaftens in einer Zeit großen wirtschaftlichen Wachstums erfolgte. Der wohlfahrtsstaatliche Kompromiss hat keine Bestandsgarantie. Die Kräfte, die seine hohle Fassade niederreißen, sind stärker institutionalisiert als jene, die ihn konservieren oder für die Zukunft weiterentwickeln wollen. Die letzten zwanzig Jahre haben gelehrt, dass kein bestimmtes Maß an distributiver Einkommensungleichheit existiert, das moderierende Neuverteilungen gleichsam automatisch nach sich zöge.

Wer vor diesem Hintergrund mit seinen materiellen Lebenschancen hadert, hat immer noch den selbstbetäubenden Ausweg: Man macht sich einfach nichts aus Geld, denn Geld (allein) macht nicht glücklich. Wenn, ja wenn das Wünschen nicht wäre und der Neid nicht in aller Munde, auch wenn er keinem über die Lippen kommt! Immerhin zeigen amerikanische Studien über den Zusammenhang von Glück und Geld, dass trotz gestiegener Einkommen die Zufriedenheit in den Industrienationen über Jahrzehnte gleich geblieben ist. Eigentlich müssten die Milliardäre des Jahres 2001 schon längst verrückt geworden sein, denn sie hatten einen Verlust von sage und schreibe 190 Milliarden US-Dollar zu verkraften, ganz abgesehen davon, dass viele von den weltweit 580 Milliardären desselben Jahres heute keine mehr sind. Die Reichen der Welt sind ärmer geworden. Deshalb ist Reichtum noch keine Schande, so wenig wie Armut eine ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Peter Gottschalk/Timothy M. Smeeding, Cross-National Comparisons of Earnings and Income Inequality, in: Journal of Economic Literature, 35 (1997) 4, S. 633 - 687.

  2. Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Schwindet die integrative Funktion des Sozialstaates?, in: Berliner Journal für Soziologie, 7 (1997) 1, S. 5 - 20.

  3. Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. 1992.

  4. Das kaufkraftbereinigte BSP p. K. betrug 22 404 US-Dollar.

  5. Vgl. World Bank, World Development Report 2000/2001. Attacking Poverty, New York 2000, S. 274 f. Immerhin nimmt Deutschland 2001 auf der Rangliste des "Human Poverty Index" der OECD-Länder, der das Ausmaß der Armut misst, den sechsten Rang ein, d. h. es liegt hinter den skandinavischen Ländern, aber z. B. vor Frankreich, Großbritannien und den USA. Dieser Armutsindex schließt sowohl die Lebenserwartung und den Bildungsstand der Erwachsenen als auch den Anteil der Menschen unterhalb der Armutsgrenze von 50 Prozent des Durchschnittseinkommens und das Ausmaß der Langzeitarbeitslosigkeit ein. Vgl. Siegfried Böhringer, Armut in Deutschland. Anmerkungen zum Ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, in: Christ und Sozialist, (2001) 3.

  6. Graphisch ausgedrückt misst der Gini-Koeffizient die Fläche zwischen der Lorenzkurve der tatsächlichen Verteilung und einer hypothetischen Geraden der absoluten Gleichheit. Ist diese Fläche gleich null, liegt eine absolut egalitäre Verteilung des Einkommens vor; in diesem Fall bezieht jede Untersuchungseinheit das gleiche Einkommen. Der größtmögliche Wert, den die Fläche annehmen kann, beträgt 1: Hier vereinigt theoretisch eine Untersuchungseinheit das gesamte Einkommen auf sich.

  7. Unter Einkommen wollen wir hier jegliches Entgelt wie Honorare, Gehälter, Löhne aus bezahlter Arbeit sowie Erträge aus Kapitalanlagen (Zinsen und Dividenden) verstehen. Unter Vermögen versteht man alle Werte, die zu Geld gemacht werden können und im Besitz von Einzelpersonen sind (Aktien, sonstige Firmenanteile, Sparguthaben, Immobilien).

  8. Da es die Vermögenssteuer nicht mehr gibt, werden auch die Vermögensmillionäre in Deutschland künftig nicht mehr gezählt. 1995 veröffentlichte das Statistische Bundesamt zum letzten Mal eine Aufstellung zur Vermögenssteuer. In diesem und im nächsten Kapitel stützen wir uns u. a. auf die Zusammenstellung und Sekundäranalysen von Hermann Strasser/Guido Mehlkop, Reichtum in Deutschland, in: Peter Biehl u. a. (Hrsg.), Gott und Geld. Jahrbuch der Religionspädagogik, Neukirchen - Vluyn 2001, S. 79 - 100.

  9. Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2000 für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 2000, S. 525.

  10. Vgl. Statistisches Bundesamt, Datenreport 1999. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2000, S. 237.

  11. Vgl. Ernst-Ulrich Huster, Enttabuisierung der sozialen Distanz: Reichtum in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Reichtum in Deutschland. Die Gewinner der sozialen Polarisierung, Frankfurt/M. 1997. Die Ungleichheit der materiellen Lebenschancen lässt sich am besten einschätzen, wenn sich die statistischen Angaben nicht auf das individuelle, sondern auf das Haushaltseinkommen und -vermögen beziehen. Vor allem deshalb, weil der Haushalt für das Individuum gewöhnlich der Lebensmittelpunkt und die Einheit des Wirtschaftens ist. Neben der Höhe des (Netto-)Einkommens und Vermögens ist deshalb die Angabe der Zahl der Haushaltsmitglieder entscheidend, denn es ist nicht gleichgültig, ob z. B. ein bestimmtes Einkommen auf zwei oder auf fünf Personen entfällt. Um ganz genau zu sein: Da die Art und das Ausmaß, also die Kosten der Bedürfnisse der einzelnen Haushaltsmitglieder wiederum von deren Alter abhängig ist, liegt es nahe, die Haushaltsmitglieder nach dem Alter zu gewichten. Ähnlich müsste man mit Faktoren wie Geschlecht und Region verfahren. Deshalb soll hier vom "gewichteten durchschnittlichen Einkommen" und vom "durchschnittlichen Haushaltsäquivalenzeinkommen" die Rede sein. Gewichte zur Berechnung der Äquivalenzeinkommen sind: ein Erwachsener = 1,0; alle weiteren Erwachsenen im Haushalt = 0,7; alle Kinder bis 14 Jahre = 0,5. Vgl. Statistisches Bundesamt (Anm. 9), S. 583.

  12. Haushalte mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von 35 000 DM und mehr sind in der Statistik nicht aufgenommen.

  13. Vgl. Statistisches Bundesamt (Anm. 9), S. 550 ff.

  14. Meinhard Miegel und Rainer Geißler haben bereits ähnliches Anschauungsmaterial geliefert, ohne allerdings das Äquivalenzeinkommen (Anm. 11), sondern das Haushaltsnettoeinkommen als Berechnungsgrundlage heranzuziehen. So kommt Geißler zu dem Resultat, dass sich zwischen 1950 und 1988 der Anteil des ärmsten Fünftels von 5,4 % auf 7,9 % erhöht hat, während der des reichsten Fünftels von 45,2 % auf 42,5 % zurückgegangen ist. Vgl. Meinhard Miegel, Die verkannte Revolution I: Einkommen und Vermögen der privaten Haushalte, Stuttgart 1983; Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, Opladen 1996², S. 61.

  15. Vgl. Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2001, in: Bundesdrucksachen Nr. 14/5990; Lebenslagen in Deutschland - Daten und Fakten. Materialband zum ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2001, in: ebd.

  16. Vgl. Jürgen Faik/Heinrich Schlomann, Die Entwicklung der Vermögensverteilung in Deutschland, in: E.-U. Huster (Anm. 11).

  17. Vgl. Forbes vom 23. Juli 1990, 22. Juli 1991, 21. Oktober 1991. Vgl. auch Harold Kerbo/Hermann Strasser, Modern Germany, New York 2000, S. 63 f.

  18. Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 1997 für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1997, S. 551. Das Rohvermögen ergibt sich aus der Summe der einzelnen Vermögensarten (Grundvermögen, Betriebsvermögen, Anteile an Kapitalgesellschaften, Ansprüche aus Lebens-, Kapital- und Rentenversicherungen u. a.) vermindert um das negative Vermögen wie Kredite und Verbindlichkeiten.

  19. Zur Beschreibung des Vermögensreichtums in Deutschland müssen wir auf Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS) des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 1993 zurückgreifen, die auch von J. Faik/H. Schlomann (Anm. 16) ausgewertet wurden. Die EVS weist allerdings keine Daten für Haushalte aus, deren monatliches Nettoeinkommen 35 000 DM überschreitet. Das ist einer der Gründe, warum die EVS von 1993 rund zwei Fünftel des Geldvermögens der privaten Haushalte nicht erfasst, wie sie in der Geldvermögensrechnung der Deutschen Bundesbank von 1995 in Erscheinung treten. Vgl. Klaus-Dietrich Bedau, Auswertung von Statistiken über die Vermögensverteilung in Deutschland, in: Beiträge zur Strukturforschung, (1998) 173,'hrsg. vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin 1998; zu weiteren methodischen Problemen und Einschränkungen vgl. J. Faik/H. Schlomann (Anm. 16), S. 110 f.

  20. Vgl. ebd., S. 112, und eigene Berechnungen.

  21. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2000 für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 2000, S. 332.

  22. Vgl. J. Faik (Anm. 16), S. 114. Nach der schon zitierten Geldvermögensrechnung der Deutschen Bundesbank entfielen dagegen 1995 im Bundesdurchschnitt auf jeden Haushalt 118 000 DM an Nettogeldvermögen, das in den alten Bundesländern pro Haushalt etwa dreimal so hoch war wie in den neuen Bundesländern - eine Relation, die auch von den EVS-Daten bestätigt wird.

  23. Vgl. J. Faik/H. Schlomann (Anm. 16), S. 120 f.

  24. Vgl. ebd. S. 121.

  25. Vgl. M. Miegel (Anm. 14), S. 100.

  26. Vgl. M. Miegel (Anm. 14).

  27. Vgl. Lebenslagen in Deutschland (Anm. 15), Materialband, S. 88.

  28. Die Vermögenslage der Selbstständigen und der Arbeitnehmer ist insofern nur eingeschränkt vergleichbar, als im (Geld-)Vermögen der Selbstständigen-Haushalte zumindest ein Teil der Rücklagen für die Alters- und Hinterbliebenenvorsorge steckt. Das Vermögen der Arbeitnehmer schließt dagegen die Ansprüche an die Rentenversicherung nicht ein. In jüngster Zeit spielen auch realisierte Aktienoptionen eine nicht unerhebliche Rolle, wenngleich davon nur ein kleiner Teil der leitenden Angestellten profitiert.

  29. Vgl. K.-D. Bedau (Anm. 19), S. 15.

  30. Vgl. M. Miegel (Anm. 14), S. 22, 176 - 178.

  31. Reinhard Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt/M. 1992, S. 22.

  32. Vgl. Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 245 ff.

  33. Vgl. Helmut Voelzkow, Wirtschaft und Arbeit, in: Hans'Joas (Hrsg.), Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt/M. 2001, S. 408 f.

  34. Vgl. Jan Boris Wintzenburg, Eine Million Euro im Monat. Haben Sie das verdient?, in: Stern, (2002) 17, S. 46 f.; "Antje Höning, Schumi, Sommer und der kleine Unterschied, in: Rheinische Post vom 16. Mai 2002.

  35. Vgl. z. B. Michael Hartmann, Der Mythos von den Leis"tungseliten, Frankfurt/M. 2002.

  36. Vgl. die Untersuchung von Mobilitätserwartungen von Karl Ulrich Mayer, Ungleichheit und Mobilität im sozialen Bewusstsein, Opladen 1975, S. 218.

  37. Vgl. Dieter Fuchs/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Citizens and the State, Oxford 1995; Ralf Dahrendorf, Citizenship and Beyond: The Social Dynamics of an Idea, in: Social Research, 41 (1974), S. 673 - 701.

  38. Vgl. Niklas Luhmann, Anspruchsinflation im Krankheitssystem, in: Philipp Herder-Dorneich/Alexander Schuller (Hrsg.), Die Anspruchsspirale. Schicksal oder Systemdefekt?, Stuttgart 1983.

  39. Vgl. Jürgen Gerhards, Der Aufstand des Publikums, in: Zeitschrift für Soziologie, 30( 2001) 3, S. 163 - 184.

  40. Vgl. Jonathan Kelley/M. D. R. Evans, Class and Class Conflict in Six Western Nations, in: American Sociological Review, 60 (1995) 2, S. 157 - 178.

  41. Vgl. J. B. Wintzenburg (Anm. 34), S. 48, 50.

  42. Vgl. Richard J. Herrnstein/Charles Murray, The Bell Curve. Intelligence and Class Structure in American Life, New York u. a. 1994. Vgl. dagegen z. B. M. Hartmann (Anm. 35).

  43. Vgl. Burkhart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt/M. 1984.

  44. Vgl. Rheinische Post vom 4. Mai 2002.

  45. Vgl. Focus, 18 (2002), S. 83.

Dr. phil., geb. 1967; wissenschaftlicher Assistent an der Gerhard Mercator Universität Duisburg.

Anschrift: wie Hermann Strasser.
E-Mail: nollmann@uni-duisburg.de

Veröffentlichungen u. a.: Die Hartnäckigkeit der Geschlechterungleichheit, in: Soziale Welt, (2002) 2; Die Einführung des Euro, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (2002) 2.

Dr. rer. oec., geb. 1941; Lehrstuhlinhaber für Soziologie und Wiss. Leiter des Akademischen Zentrums für Studium und Beruf (AkZent) an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg.

Anschrift: Gerhard-Mercator-Universität Duisburg, Institut für Soziologie, Lotharstr. 65, D-47057 Duisburg.
E-Mail: strasser@uni-duisburg.de

Veröffentlichungen (zus. mit H. Kerbo) Modern Germany, New York 2000.