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Vom Sinn des Strafens - Essay | Strafvollzug | bpb.de

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Vom Sinn des Strafens - Essay

Winfried Hassemer

/ 11 Minuten zu lesen

Gelingende Rechtfertigung des Strafens ist heute präventive Rechtfertigung; der strafende Eingriff in Grundrechte muss sich darauf berufen können, dass er die Welt verbessert, wobei Maß und Würde gewahrt bleiben müssen.

Einleitung

Der Fall des mutmaßlichen früheren KZ-Wächters John Demjanjuk und sein Strafverfahren in München führen uns wieder einmal vor Augen, dass und warum wir der Frage, welchen Sinn das Strafen hat, weithin ratlos gegenüberstehen. Viele werden sich erinnern, dass wir schon einmal vergleichbare Diskurse hatten, als es um die Bestrafung der NS-Gewalttäter ging: Wem nutzen Strafverfahren und Strafvollzug nach so vielen Jahren? Sollen - und können - diese alten Männer noch "resozialisiert" werden? Will - und kann - man mit der Abstrafung ihrer Verbrechen eine Wiederkunft des Nationalsozialismus verhindern? Hat das Strafrecht eine angemessene Antwort parat auf die Tötung Tausender Menschen? Was geschieht von Rechts wegen mit den vielen Anderen, die man lege artis schon deshalb gar nicht aburteilen kann, weil es viel zu viele sind? Ist das Strafrecht nur ein Schön-Wetter-Strafrecht, das jenseits der Alltagskriminalität, wenn sich die Tektonik von Staat und Gesellschaft verschiebt, sofort die Waffen strecken muss?



Die Ratlosigkeit gegenüber dem Sinn des Strafens ist freilich so alt wie das Strafen selbst. Sie wird angesichts extremer Konstellationen nur besonders schmerzlich spürbar. Sie erstreckt sich auf die Strafjustiz, aber auch auf das Strafen im Alltag, auf die Verhängung einer Strafe und auf deren Vollzug: Wenn Erklärungen und Rechtfertigungen schon nicht für die Grundlagen der Strafe hinreichen, dann auch nicht für ihre Praxis bis in ihre letzten Verästelungen. Nicht dass wir zu wenige Erklärungen hätten - wir haben zu viele, und die stehen einander im Weg.

Absolut und relativ

Seit Jahrhunderten stehen zwei Lager einander feindselig gegenüber, die jeweils von sich behaupten, sie verfügten nicht nur über Instrumente einer Erklärung, sondern auch einer Rechtfertigung staatlicher Strafe: klassische, repressive, absolute Lehren da, moderne, präventive, relative Lehren dort. Die klassischen Theorien halten Schilder hoch, auf denen "Vergeltung" (von Unrecht und Schuld) und "Sühne" (des Täters) steht, die modernen werben mit "Besserung" (des Verurteilten; Resozialisierung oder Individualprävention) und "Abschreckung" (aller anderen; Generalprävention). Von außen gesehen: eine klare Schlachtordnung mit eindeutigen Aussagen, Bezeichnungen und Zuordnungen. Wagt man freilich einen Blick hinter die glatten Schwerter und Schilde, dann gewinnt man einen Zugang zum tieferen Verständnis der beiden Lager. Man nimmt dann nämlich wahr, dass die Lehren vom Sinn der Strafe aus ganz verschiedenen Welten stammen. Das wird augenfällig, wenn man die Waffen betrachtet, über welche die Theorien jeweils verfügen und welche sie selber für ihre erfolgreichsten halten:

Die gefährlichste Waffe der modernen Lehren führt ins Feld, ihre Widersacher lebten im Wolkenkuckucksheim, Kriminalität und Kriminelle seien ihnen egal, Vergeltung sei ein papierenes Konzept, und auf Sühne dürfe man bestenfalls hoffen, sie jedenfalls nicht zum Baustein einer Theorie machen. Die klassischen Lehren antworten mit Hegels scharfem Verdikt, wer mithilfe von Strafe bessern und abschrecken wolle, behandle den Menschen wie einen Hund, gegen den man den Stock hebt, er mache ihn zum Objekt, er funktionalisiere ihn. Dass dies Rede und Gegenrede sei, wird man nur mit einem Schuss guten Willens zugestehen können, wenn man nämlich auf die jeweilige Sicht vom Menschen als tertium comparationis abstellt. Auf den ersten Blick jedenfalls herrscht der Eindruck, hier rede man aneinander vorbei: der eine von Kriminalitätsbekämpfung, der andere von Menschenwürde. Fragt man aber nach der Stoßrichtung dieser Waffen und beleuchtet man sie ein wenig vor ihrem ideengeschichtlichen Hintergrund, dann sieht man die fundamentale Differenz zwischen den absoluten und den relativen Vorstellungen vom Sinn der Strafe genauer und kann Schritt für Schritt damit beginnen, sie einzuordnen.

Begrifflichkeit und Wirklichkeit

Man könnte, mit aller Vorsicht, sagen: Die Welt der klassischen, der absoluten Theorien ist das System, ist die Begrifflichkeit, und ihr Ziel ist die Bewahrung der Gerechtigkeit, der Angemessenheit des Strafens, der Menschenwürde. Die Welt der modernen, der relativen Lehren hingegen ist der Alltag der Kriminalität und der Verbrechensverfolgung, und ihr Ziel ist die effiziente Beherrschung der Kriminalität durch Individual- und Generalprävention. Und einen Schritt weiter: Anders als die absoluten Theorien lassen sich die relativen auf Empirie, auf die Welt ein; sie versprechen tatsächliche Folgen der Strafe und ihres Vollzugs: gelingende Abschreckung, resozialisierende Besserung, und sie lassen sich durch sichtbare Ereignisse falsifizieren. Oder auch so: Der Packen, den sich die relativen Lehren bei ihrem Verständnis von Strafe aufladen, wiegt bedeutend schwerer als die Last der absoluten. Letztere weigern sich, der Strafe irdische Ziele zuzuweisen, und entgehen damit einem Einwand, der die relativen Theorien schwer belasten kann und auch immer belastet hat: dem Einwand, die staatliche Strafe sei ja gar nicht imstande, wirklich zu bessern und abzuschrecken; diese Theorie verspreche etwas, das sie nicht halten kann, sie sei unaufrichtig, und deshalb könne man nicht auf sie bauen.

Diesen Hintergrund kann man konkreter und auch genauer an den Problemen studieren, die sich angesichts von Strafprozessen gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher aufdrängen. Bei diesen Konstellationen nämlich finden wir auf die Frage nach dem Sinn der Strafe noch am ehesten eine Antwort bei den absoluten, den klassischen Straftheorien, welche die staatliche Strafe ausschließlich auf Vergeltung und Sühne verpflichten. ("Klassisch" heißen sie, weil es ihren relativen Widersachern gelungen ist, sich selber als die "modernen" Lehren auf dem Markt der Dogmengeschichte zu behaupten; die Bezeichnung "klassisch" besagt also nicht viel - auch schon deshalb nicht, weil sich sowohl die "klassischen" als auch die "modernen" Lehren von der Strafe im Dunkel der Geschichte verlieren; hier gibt es keine Generationen, kein Alt und Jung.) "Absolut" besagt schon mehr. So heißen diese Lehren nämlich deshalb, weil sie sich um die Folgen der Strafe nicht sorgen, weil sie ihre Rechtfertigung nicht in einer Verbesserung der realen Welt suchen; "zweckgelöste Majestät der Strafe" wurde ihnen einmal rühmend nachgerufen. "Absolute" Theorien kommen mit dem Sinn der Strafe in extremen Konstellationen offenbar besser zurecht als "relative", und der Grund liegt auf der Hand: Sie haben sich von der Last gelöst, Besserung und Abschreckung begründen und verwirklichen zu müssen auch angesichts von Situationen, in denen es auf diese Ziele tatsächlich gar nicht mehr ankommt: Der Kriegsverbrecher ist seit Jahren sozial integriert, die Verhinderung einer neuerlichen Diktatur mittels Strafrechts ist eine absurde Hoffnung; in diese Falle laufen die absoluten Theorien nicht. Gleichwohl kommen auch diese Lehren mit einem Teil der Realität des Strafens nicht zurecht: Extreme Verbrechen kann man nicht gerecht, nicht angemessen vergelten, und selektive Strafverfolgung bleibt ein Skandal; dazu fällt auch den klassischen Lehren nichts Vernünftiges ein. An dieser Stelle ist ihre konzeptionelle Decke zu kurz.

Gelingende Rechtfertigung

Vor allem aber: Die "klassischen" Lehren sind von gestern. Sie kommen angesichts Demjanjuks und der anderen ja nur deshalb nicht ins Straucheln, weil sie sich bei der Frage, warum Strafe vernünftig oder gar notwendig ist und welche Ziele wir mit der Androhung, der Verhängung und dem Vollzug von Strafe denn nun verfolgen sollen, kühl schweigen. Ihre Antworten auf diese Frage sind nicht von dieser Welt. Vergeltung und Sühne, die sie mit der Strafe erreichen wollen, sind zu schmal, zu begrifflich, zu blutleer, als dass sie uns heute davon überzeugen könnten, wir dürften - oder müssten gar - den Verbrecher bloß deshalb ins Gefängnis stecken, damit er das bekomme, was seine Taten wert sind, und so der Gerechtigkeit Genüge geschehe.

Sind wir denn imstande, den schweren Eingriff in Grundrechte, den nicht erst der Vollzug der Strafe, sondern schon die Durchführung des Strafverfahrens darstellt, mit dem Hinweis zu rechtfertigen, das sei eben Vergeltung und eröffne dem Straftäter die Chance, seine Tat zu sühnen? Ich glaube das nicht. Ich glaube vielmehr, dass dieser Eingriff tiefer und umfänglicher und vor allem auch "irdischer" gerechtfertigt werden muss, dass die Rechtfertigung staatlicher Strafe am Ende nur gelingen kann, wenn sich zeigen lässt, dass unsere Welt ohne die Strafe und deren Vollzug ärmer oder schadhafter wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat unser aller Interesse an der Resozialisierung von Strafgefangenen - das ja zugleich auch deren Interesse ist - normativ so tief begründet, wie es unter unserem Grundgesetz überhaupt nur möglich ist: Es hat das individualpräventive Interesse auf den Grundsatz der Menschenwürde zurückgeführt. Und zugleich hat es dieses Interesse an einem höchst irdischen Fundament versinnbildlicht, nämlich an der Entlohnung der Strafgefangenen für die im Vollzug geleistete Arbeit. Das zeigt: Resozialisierung ist nach unserem heutigen Verständnis nicht nur innere Umkehr, Reue oder gar bloßes Bedauern; Resozialisierung ist auch das Erlernen eines Berufs oder die professionelle und organisierte Vorbereitung der Entlassung in eine Welt, die dem Gefangenen fremd geworden ist; sie hat höchst pragmatische Konturen. Das irdische Ziel der Resozialisierung ist heute ein normatives Schwergewicht.

Vom irdischen Ziel der Abschreckung lässt sich nichts anderes sagen. Generalprävention ist dem heute herrschenden Zeitgeist ein starkes, ein schon fast konkurrenzloses Konzept. Sie ist dem Sicherheitsparadigma nahe verwandt, das nicht nur die Kriminalpolitik, sondern alle unsere Lebensbereiche derzeit souverän bestimmt - von der Gesundheits- über die Sozial- bis zur Energiepolitik. Generalprävention ist ein in den öffentlichen Diskursen bevorzugtes Instrument des heute erstarkten Opferschutzes, sie bedient die modernen Bedürfnisse der Risikobeherrschung und der Gefahrenvorsorge. Ein Strafrecht, das gelingende Abschreckung versprechen kann, hat seine Rechtfertigungsprobleme im Griff.

Ich habe nicht genügend Fantasie, um mir gegenständlich ausmalen zu können, wie es Menschen (und auch Gesellschaften) schaffen, ihre normativen Welten auf der Grundlage einer absoluten Straftheorie zu organisieren: wenn sie zur Rechtfertigung staatlichen Strafens nur auf die Konzepte von Vergeltung und Sühne angewiesen sind, wenn sie also nicht darauf verweisen können, dass staatliche Strafen auch die Welt verbessern sollen (und können), wenn sie sich auf irgendwelche präventiven Verheißungen also nicht stützen können. Wie könnte beispielsweise ein so denkender und empfindender Strafrichter dem Verurteilten und auch der Öffentlichkeit gegenübertreten? Vielleicht hat es solche streng absoluten Theorien außerhalb der philosophischen Studierstube nie gegeben; unseren heutigen Rechtfertigungsbedürfnissen jedenfalls könnten sie nicht genügen. Und so kann man gerade im scharf geführten "Schulenstreit" der Straftheorien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert studieren, dass absolute Lehren vom Sinn der Strafe schon damals nicht gewagt haben, in reiner Form aufzutreten. Sie waren vielmehr durchweg verkappte Generalprävention, wenn sie etwa mit dem Argument für sich warben, die Bevölkerung werde ungerechte Strafdrohungen und unangemessene Strafbemessungen nicht akzeptieren und sich von ihnen deshalb auch nicht beeinflussen lassen. Das ist in der Sache zwar - hoffentlich - richtig, in der Theorie aber ist es Fahnenflucht. In diesem Denken ist die Angemessenheit der Strafe nicht Ziel, sondern bloß Mittel; Ziel ist, wie für die generalpräventiven Lehren auch, die heilsame Wirkung des Strafens auf die Motivation der Menschen.

Gelingende Rechtfertigung des Strafens ist heute also präventive Rechtfertigung; der strafende Eingriff in Grundrechte muss sich darauf berufen können, dass er die Welt verbessert, systemische Folgerichtigkeit und normative Schlüssigkeit sind nicht hinreichend. War's das?

Positive Generalprävention

Nein, das war's noch nicht. Es steht die kritische Beurteilung der Prävention als des herrschenden Paradigmas aus, und diese Beurteilung ist für ein ausgewogenes Bild unverzichtbar: Prävention verschafft der Strafe heute nicht nur deren Sinn, sie macht sie zugleich zu einem bedrohlichen Instrument. Auf zwei Aspekte kommt es an, auf Maß und auf Würde.

Der erste Aspekt: Im Gegensatz zu einem absoluten Verständnis der Strafe ist Prävention, in ihrer individualen wie in ihrer allgemeinen Variante, außerstande, der Strafe ein Maß zu geben. Im Gegenteil, sie begünstigt Maßlosigkeit: Nach präventiver Logik müssen Strafen so lange und so nachdrücklich erlaubt sein, bis das irdische Ziel der Prävention erreicht ist: die Besserung des Verurteilten, die Abschreckung der Anderen; wer dem nicht folgen will, hat das Scheitern präventiver Bemühungen programmiert und die präventive Theorie schon damit desavouiert, sie als Lügengespinst entlarvt. Jeder kriminologisch einigermaßen Bewanderte weiß doch, dass das Postulat der Zielerreichung das Vertrösten auf den Sankt Nimmerleinstag ist. So gibt es kleinkriminelle Hangtäter, Betrüger oder Diebe, die ihre Lebensform allenfalls nach intensiver strafender Einwirkung ändern werden; und wie man gelingende Abschreckung als Folge einer Bestrafung im Einzelfall verlässlich feststellen könnte, wissen noch nicht einmal die Kriminologen: Präventiver Erfolg und Strafmaß können weit voneinander entfernt sein. Unter der Verfassung aber kann nicht zweifelhaft sein, dass die Strafe zu Unrecht und Schuld der verurteilten Tat im Verhältnis stehen muss, dass man auf gelingende Prävention nicht warten darf, wenn das angemessene Strafquantum erschöpft ist. Die absoluten Theorien haben damit kein Problem. Sie sind irdischer Zielerreichung nicht verpflichtet, und - was noch wichtiger ist - sie verstehen sich im Kern ihrer Logik als verhältnismäßige Sanktion: als angemessene Antwort auf Unrecht und Schuld. Unrecht und Schuld der Tat bestimmten die Quanten vergeltender Reaktion - was sonst? Die Verhältnismäßigkeit von Straftat und Strafe ist diesen Lehren eingeschrieben. Eine maßlose Vergeltung ist keine Vergeltung, sie ist Rache.

Das präventive Verständnis der Strafe hingegen muss sich konzeptionell von außen bedienen, um nicht maßlos zu sein, es hat keine eingebaute Bremse übermäßiger Bestrafung wie die klassischen Konzeptionen. Es bedient sich beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - eigentlich eine wunderbare Schranke mit ihren, auch empirisch gemeinten, Kriterien der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der allgemeinen Zumutbarkeit. Aber es ist eben doch ein Prinzip von außen, den präventiven Verbesserungswünschen eigentlich fremd, bisweilen sogar feindlich, dabei feierlich und im konkreten Fall unbestimmt. Vor allem aber: In Zeiten wie unseren, die Sicherheit über alles stellen, die zu einer gelassenen Kriminalpolitik nicht imstande sind, die Risikofurcht und Kontrollbedürfnisse vor allem mit Verschärfungen des Strafrechts bedienen, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein eher stiller und schwacher Widersacher; seine Botschaft, Maß zu halten, kann sich im aktuellen Konzert der Effizienzapostel nur selten Gehör verschaffen.

Der zweite Aspekt: Ich glaube nicht, dass Hegels Diktum, die Strafe dürfe den Menschen nicht wie einen Hund behandeln, sich für uns erledigt hat. Es hat vielmehr weiterhin Überzeugungskraft. Denn was sonst hat die Theorie der Abschreckung, die Theorie der "negativen Generalprävention", im Sinn als schwarze Pädagogik: als uns alle am Beispiel der Bestrafung Einzelner in heilsame Strafangst zu versetzen, uns einzuschüchtern, uns zu erziehen? Eben wie einen Hund, gegen den man den Stock hebt. Wieso gehören zu den Strafnormen, die uns allen am Beispiel fremder Bestrafung eingetrichtert werden sollen, nur die Vorschriften des "Besonderen Teils" des Strafgesetzbuchs, also die strafbewehrten Gebote und Verbote, und warum nicht auch die Verheißungen des strafrechtlichen Verfassungsrechts, also das Recht auf Verteidigung, auf Rechtsmittel, die Unschuldsvermutung oder das Recht zu schweigen? Auch das sind Strafgesetze, auch die sind von zentraler Wichtigkeit, auch und gerade im Bewusstsein der Bevölkerung.

Nicht nur meine Vision ist die einer "positiven Generalprävention", welche die guten Seiten von klassischer und moderner Lehre verbindet und aufbewahrt: einer Vorstellung vom Sinn der Strafe, die den Menschen nicht als Gefahrenherd, nicht als Gegenstand einer gewaltförmigen Konditionierung, sondern als Bürger versteht, als jemanden, der die Strafgesetze im demokratischen Prozess ja schließlich gemacht und deshalb auch zu verantworten hat. In dieser Vision bleibt die Strafe natürlich das Übel, das sie ist. Aber sie macht sich verständlich und rechtfertigt sich auch als die Botschaft, dass wir alle den Bruch einer Norm im Verbrechen nicht hinnehmen, dass wir auf der verletzten Norm bestehen, indem wir den Rechtsbruch öffentlich beantworten. So gesehen, könnte die staatliche Strafe heute einen alten Sinn wiedergewinnen: Negation der Negation des Rechts zu sein, aber nicht auf dem Papier oder in der Studierstube, sondern im öffentlichen Diskurs über die Normen, die uns unverzichtbar sind, und über die Möglichkeiten, sie zu bewahren.

Umfänglicher behandelt wird die Frage nach der Aufgabe der Strafe im Rechtsstaat in: Winfried Hassemer, Warum Strafe sein muss. Ein Plädoyer, Ullstein Verlag, Berlin 2009.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult.; ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts; Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Grüneburgplatz 1, 60629 Frankfurt/M.
E-Mail: E-Mail Link: winfried.hassemer@t-online.de