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Sozialversicherung und Grundeinkommen | Grundeinkommen? | bpb.de

Grundeinkommen? Editorial Grundeinkommen als Sozialreform Grundeinkommen und soziale Marktwirtschaft Sozialversicherung und Grundeinkommen Grundeinkommen und soziale Gerechtigkeit Hartz IV: Reform der Reform?

Sozialversicherung und Grundeinkommen

Eberhard Eichenhofer

/ 15 Minuten zu lesen

Der Vorschlag eines bedingungslosen Grundeinkommens erweist sich bei näherer Betrachtung als ein Ausdruck ökonomischer Phantasmen. Die Lösung der Probleme des Sozialstaates ist weit komplizierter und mühsamer.

Einleitung

Einfach, fair, unbürokratisch sei das bedingungslose Grundeinkommen, sagen seine Verfechter. Deshalb erscheint es ihnen nicht nur als Lösung aktueller sozialpolitischer Probleme, sondern geradezu als Erlösung von allem wirtschaftlichen und sozialen Ungemach, das heute bedrückt. So schreibt das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut in einer Pressemitteilung vom 20. April 2006: "Das Konzept des Grundeinkommens ist eine radikale Alternative zur nicht mehr zukunftsfähigen Umverteilung durch die Sozialversicherung." Zwar bleibt offen, ob die Umverteilung oder die Sozialversicherung nicht mehr zukunftsfähig sein soll, aber es wird klar, worum es den Befürwortern des Grundeinkommens letztlich geht: um die Ablösung der Sozialversicherung!


Diese ist fürwahr kompliziert, scheint Gruppen zu privilegieren, verlangt nach Bürokratie und steht angesichts des wirtschaftlichen, demographischen und technologischen Wandels vor vielfältigen Herausforderungen. Das Grundeinkommen dagegen ist fast atemberaubend einfach: Hunderte Gesetze, tausende Ämter und abertausende von Beschäftigten sollen dank seiner Einführung entbehrlich werden! Ist eine sozial ausgeglichene Gesellschaft aber ohne Sozialversicherung mit Hilfe des bedingungslosen Grundeinkommens - nebst einer Kranken- und Pflegeversicherung - herbeizuführen?

Grundeinkommen - radikale Alternative zur Sozialversicherung

Sozialversicherung und soziale Frage: Die Sozialversicherung wurde ausgangs des 19. Jahrhunderts von den Deutschen erfunden, im 20. Jahrhundert in Europa, Nordamerika und Ozeanien eingeführt, und sie ist heute in allen wirtschaftlich entwickelten Weltregionen verwirklicht. Sie gab die Antwort des 20. Jahrhunderts auf die im 19. Jahrhundert mit der Lohnarbeit aufgekommene soziale Frage. Mittels Tarifautonomie und Sozialversicherung wurde die Verarmung der Arbeiterschaft überwunden. Beide Instrumente machen heute den in Europa entfalteten Sozialstaat aus.

Aber ist die Sozialversicherung zukunftsfähig? Diese Frage ist und war umstritten - seit Bestehen dieses Instrumentes. Schon immer sahen Liberale in ihr die anstößige Einmischung des Staates in die elementaren Belange des Einzelnen - eine verwerfliche Bevormundung individueller Lebensführung. Sie setzten sich dafür ein, dass sich der Staat auf die Unterstützung "wirklich Bedürftiger" beschränke, sich also auf die seit dem 16. Jahrhundert entfaltete Armenfürsorge konzentriere und den Einkommens- und Vermögenslosen das Existenzminimum sichere. Über diesen Fürsorgestaat ging der in der Industriegesellschaft entstandene Sozialstaat hinaus, indem er für Arbeiter, später auch Selbständige Sozialversicherungen schuf. Ziel war es, die Erwerbstätigen bei vorhersehbarer Gefährdung ihrer Erwerbsfähigkeit vor der Inanspruchnahme von Armenfürsorge zu bewahren.

Was unterscheidet Grundeinkommen und Sozialversicherung? Das Grundeinkommen verheißt mehr als die Armenfürsorge, gewährleistet nicht nur das Existenzminimum für Bedürftige, sondern für jedermann - einerlei, ob arm oder reich, unfähig oder fähig zu eigener Erwerbstätigkeit. Freilich sind sich die Architekten des Grundeinkommens uneins darüber, ob dieses bei 600 oder 1 500 Euro liegen solle. Für die einzig daraus ihre Existenz Sichernden wäre Klarheit zweifellos wichtig. Aber wäre diese zu erreichen? Das Grundeinkommen soll ebenso wie die Sozialfürsorge das konventionelle Existenzminimum sichern. Freilich soll diese staatliche Aufgabe gegenüber allen Menschen bestehen, ganz so, als ob jeder grundsätzlich bedingungslos staatlicher Fürsorge bedürfte!

In dieser umfassenden Staatsverantwortung für die Daseinssicherung eines jeden Bewohners eines Landes unterscheidet sich das Grundeinkommen von der Sozialversicherung. Auch diese bezweckt Daseinssicherung, beschränkt sie aber auf Kranke, Rentner, Arbeitslose, Opfer von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Witwen und Waisen - die Sozialversicherung reduziert sich auf die Opfer eines sozialen Risikos. Ihr Schutz gründet nicht in einseitiger staatlicher Gewährung, sondern der kollektiven Eigenvorsorge gleichartig Gefährdeter. Sie wird vom Staat gewährleistet, der Sozialversicherungen aufbaut und aufrechterhält. Der Versicherte erhält seine Leistungen aufgrund von Arbeit und Beitragszahlung; die Sozialversicherung wird aus Beiträgen aus Erwerbseinkommen finanziert, einkommensabhängig bemessen und begründet statt staatlicher Almosen durchsetzbare, nach abstrakten Regeln gestaltete Rechtsansprüche.

Darin unterscheidet sie sich vom Grundeinkommen, das aus dem Staatshaushalt finanziert wird, der sich seinerseits aus dem Steuerertrag speist. Das Grundeinkommen wird ohne Ansehen des Einkommens abstrakt und einheitlich gewährt. Seine Höhe kann der Gesetzgeber nach Kassenlage und Opportunität festlegen.

Grundeinkommen und Sozialversicherung trennt aber nicht nur Finanzierung und Leistungsgestaltung, sondern vor allem ihr Verhältnis zur Erwerbsarbeit. Die Sozialversicherung ist auf die Arbeitsgesellschaft ausgerichtet. Sie schützt den arbeitenden Menschen vor den Risiken, denen seine Arbeitskraft ausgesetzt ist. Deshalb werden sie soziale Risiken genannt. Die Sozialversicherung beruht auf der Annahme, jeder arbeitsfähige Mensch habe seinen Lebensunterhalt aus Erwerbsarbeit zu bestreiten; diese schaffe einen ausreichenden Lohn zur Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse. Die Sozialversicherung beruht deshalb auf der Erwerbsarbeit und stellt für Nichterwerbsfähige einen Einkommensersatz bereit.

Das Grundeinkommen sieht dagegen in der Daseinssicherung des Einzelnen eine primär staatliche Aufgabe. Eine prinzipielle Verweisung aller Arbeitsfähigen auf Arbeit sei in der postindustriellen Gesellschaft illusorisch geworden, sei dieser doch inzwischen die Arbeit ausgegangen. Diese bringe aber einen Überfluss an Gütern hervor, der jedermann ein zureichendes Leben auch ohne Arbeit ermögliche. Das Grundeinkommen ist zwar weder prinzipiell gegen die Erwerbsarbeit gerichtet, noch unterstellt sie dem Menschen abgründige Faulheit oder Egozentrik. Es sagt sich jedoch von der den gegenwärtigen Sozial(versicherungs)staat kategorial prägenden Annahme los, der arbeitsfähige Mensch habe seinen Elementarunterhalt prinzipiell durch eigene Arbeit zu verdienen. Das Grundeinkommen tritt als arbeitslose Alternative der Daseinssicherung auf den Plan. Im Folgenden wird deshalb der Frage nachgegangen, welcher der rivalisierenden Ansätze Grundeinkommen oder Sozialversicherung sozialer ist und eher im Einklang mit den ökonomischen Prinzipien der europäischen Gesellschaften steht.

Sozialversicherung und Grundeinkommen - welcher Ansatz ist sozialer?

Wert der Arbeit: Die Befürworter des Grundeinkommens rechtfertigen ihren Vorschlag mit der Behauptung, die Sozialversicherung verteuere die Arbeit, weil neben den Arbeitskosten die Sozialversicherungsbeiträge und damit Lohnnebenkosten anfallen. Dadurch würde die Arbeit "künstlich" verteuert, weil soziale Sicherheit an Arbeit gekoppelt sei. Dies habe Schwarzarbeit, Produktionsverlagerungen ins kostengünstige Ausland, prekäre Arbeit und künstliche Beschäftigungen zur Folge. Das Grundeinkommen entkoppele den sozialen Schutz von der Arbeit, verbillige damit die Arbeit für Unternehmer und gewähre gleichzeitig für Arbeitnehmer einen höheren Nettoertrag gegenüber der Sozialversicherung als gegenwärtig: scheinbar eine ideale win-win-Situation. Wäre es nicht geradezu leichtfertig, wenn die Politik sich einer solchen Chance auf Steigerung der Wohlfahrt begäbe?

Ferner - wenn auch weniger vernehmlich - wird gesagt: Sei das Existenzminimum einmal staatlich gesichert, könnten die Arbeitnehmer auch niedrigere Löhne ertragen. Sichere der Staat jedermann auskömmlich, könne menschliche Arbeit billiger und damit mehr werden. Statt der heutigen Beschäftigungskrise herrschte in der Welt des Grundeinkommens die Vollbeschäftigung; Mindestlöhne und Tariflöhne wären damit überflüssig. Die von der Fron der Daseinssicherung entlastete Arbeit wandele sich von der Mühsal zur wahrlich schönsten Nebensache der Welt.

Gegen solche Verheißungen ist schwer anzukommen. Realismus und common sense haben es stets schwer, sich gegen Erlösungshoffnungen zu behaupten. Aber ganz sicher macht das Grundeinkommen menschliche Arbeit im doppelten Sinne billiger. Einmal entwertet sie ihren sozialen Sinn und zum anderen den an sie geknüpften Schutz. Wenn dem Menschen nicht mehr wie noch in Moses I, Kapitel 3, Vers 19 verhießen: "im Schweiße seines Angesichtes sein Brot zu essen" bestimmt ist, sondern dieses ohne Anstrengung von einem gütigen Staat ge(währ)leistet wird, dann wird die gesamte Bedürfnisbefriedigung des Menschen von der Arbeit losgelöst und dem Sozialleistungssystem bedingungslos, radikal, total überantwortet. Dann ist die Arbeit als Quelle individueller Daseinssicherung in der Tat verzichtbar. Dann wird der Organisator von Massendemonstrationen zur Erhöhung des Grundeinkommens zum eigentlichen Menschheitsbeglücker!

Wird die Sozialversicherung beseitigt, entfällt auch der Schutz der Arbeitnehmer bei Arbeit. Besteht kein Schutz mehr bei Unfällen und Berufskrankheiten, bleibt nicht nur deren Opfer schutzlos, sondern es entfällt auch jeglicher Anreiz zur Unfallprävention. Werden die lästigen Beamten in die Wüste geschickt, entfallen auch die den Unternehmen unangenehmen Kontrollen - Bürokratie! - von Arbeitsstätten und Geräten auf das Gefahrenpotenzial für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Besteht keine Arbeitslosenversicherung mehr, droht jede Kündigung eines Arbeitsvertrages durch den Arbeitgeber die Betroffenen in Armut zu stürzen. Wird dies die Kündigungsmöglichkeiten erhöhen oder senken? Denn dem Gekündigten fehlt der Schutz, um ihren bisher innegehabten Status einigermaßen zu wahren.

Erkrankt der Arbeitnehmer, wäre fraglich, ob der Lohn fortgezahlt werden soll oder ob auf das Grundeinkommen verwiesen wird. Und wie steht es im Alter, jener dank der und durch die Sozialversicherung erstmals ermöglichten dritten Lebensphase des Menschen? Soll das Grundeinkommen auch in ihr die Daseinssicherung gewährleisten und wenn nicht, wie soll die Alterssicherung gewahrt werden, wenn die Beitragszahlungen zur Rentenversicherung entfallen? Gleichen die Arbeitgeber den eintretenden Verlust durch betriebliche Sozialleistungen aus, entstünden entweder dem Arbeitgeber aus der Beschäftigung Mehrkosten oder der Arbeitnehmer müsste die anfallenden Kosten allein tragen. Dann fehlte ihnen ein beträchtlicher Teil an derzeitig verfügbarem Einkommen. Ja, das Grundeinkommen verbilligt in der Tat die Arbeit, weil und indem es die menschliche Arbeit sinnentleert und ihres Schutzes beraubt! Maß der Sozialleistungen: Das Grundeinkommen beruht auf einem scheinbar egalitären Prinzip. Sind alle Menschen gleich, scheint ihnen auch das gleiche Grundeinkommen zu gebühren. Wer angesichts dessen für ein nach Einkommen oder Bedarfslage differenzierendes Sozialleistungssystem wie die Sozialversicherung plädiert, hat es wiederum schwer, dem Verdacht der Besitzstandswahrung oder des Lobbyismus zu entgehen. Freilich ist das Gebot der Gleichbehandlung (Art. 3, Abs. 1 GG) nicht darauf zu verkürzen, dass alle Menschen stets genau gleich gestellt sein müssten. Vielmehr verstößt es gegen das Gebot zur Gleichbehandlung, wenn wesentlich Ungleiches gleich behandelt würde. Gleichheit wahren, heißt also keineswegs von Unterschieden absehen, sondern - gerade umgekehrt - die Menschen entsprechend ihrer Unterschiede unterschiedlich stellen.

Die Geschichte des Sozialstaats ist aus diesem Grunde die Geschichte fortschreitender Differenzierung in den sozialen Leistungen. Deshalb war schon vor Jahrhunderten klar, dass junge Menschen andere Bedürfnisse haben als alte, kranke andere als behinderte, arbeitsfähige andere denn arbeitsunfähige. Der hergebrachte Sozialstaat differenzierte also aus guten Gründen, weshalb jeder Sozialstaat notwendig differenziert war und ist.

Dass die Verfechter des Grundeinkommens irgendwelche Euro-Beträge als existenzsichernd proklamieren, deren Höhe sich mal an der heutigen Grundsicherung für Arbeitsuchende (600 Euro) oder am Durchschnittseinkommen der geringer bezahlten Arbeitnehmer (1 500 Euro) orientiert, ist verräterisch. Denn was darin als Existenzminimum ausgegeben wird, bemisst sich letztlich nach den finanzwirtschaftlichen Vorstellungen darüber, welche Menge Geld auf Grund des augenblicklichen Sozialleistungssystems umgeschichtet werden kann. Da das Grundeinkommen aber die ökonomischen Grundlagen einer Gesellschaft vollständig umgestaltet, haben die verlautbarten Euro-Beträge denselben Aussagegehalt, wie wenn sie in Taler-Beträgen angegeben würden - nämlich keinen. Sie haben jedenfalls keinen Bezug zu konkreten Bedürfnissen konkreter Menschen. Sie werden wahrlich abstrakt bestimmt - nach Kassenlage und ganz und gar losgelöst von konkreten Annahmen über Lebensbedürfnisse! Die Sozialversicherung bestimmt ihre Leistung dagegen stets in Relation zum Erwerbseinkommen der Versicherten. In den gesetzlich festgelegten Einkommensersatzraten wird also die Stellung der Sozialleistungsempfänger im Bezug auf das eigene oder durchschnittliche Erwerbseinkommen festgeschrieben. So wird das Niveau der Sozialleistungen an das jeweilige Erwerbseinkommen gekoppelt. Damit lässt sich der relative Wert einer sozialrechtlichen Position bestimmen. Das Grundeinkommen ist dagegen von der Arbeit und allem anderen losgelöst, bezeichnet eine Ziffer ohne jeglichen ökonomischen und sozialen Aussagegehalt. Grundeinkommen und SV-Rechte: Würde das Grundeinkommen an die Stelle der Sozialversicherung gesetzt, fragte sich ferner, welches Schicksal die sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche fänden. Beliefe sich das Grundeinkommen auf 800 Euro, könnte es zwar an die Stelle eines Rentenanspruchs über 700 Euro treten. Was aber gälte für Rentenansprüche von 1 000 Euro und mehr, die heute häufig gezahlt werden? Sozialversicherungsrechte begründen Rechtsansprüche. Diese hat der Rentenversicherungsträger zu erfüllen. Der Staat hat zu sichern, dass dies auch künftig geschehen kann.

Die durch Generationenvertrag und Umlageverfahren finanzierte Rentenversicherung ist darauf angewiesen, dass ihr auch in Zukunft Beiträge zufließen werden. Der Staat muss seinerseits dafür sorgen, dass die begründeten Leistungsansprüche erfüllt werden. Eine mit der Beseitigung der Beitragspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung verbundene Einführung des Grundeinkommens entzöge indes der Rentenversicherung ihre Finanzgrundlage. Der Staat hätte alle Versicherten, welche im Laufe von Jahrzehnten Rechte erworben haben, für den Verlust ihrer Rechte zu entschädigen.

Der Staat ist zwar gewiss zur Enteignung befugt, so dies zum Wohle der Allgemeinheit geboten ist (was im Falle des Bürgergeldes noch zu beweisen wäre). Er schuldet freilich eine "billige Entschädigung in Geld" (Art. 14, Abs. 3 GG). Deren Zahlung im Falle der Entziehung von Rentenanwartschaften wäre dann aber alles andere als billig. Ökonomen schätzen, dass sich die impliziten Schulden der Bundesrepublik Deutschland, die sich aus in der Sozialversicherung erworbenen Rechten begründen, auf das Zweieinhalbfache des Bruttoinlandsprodukts - also 5 Billionen Euro - belaufen. Ein erheblicher Teil davon entfällt auf die Alterssicherung. Zwar wäre nur der das Grundeinkommen überschießende Teil staatlich durch Entschädigung auszugleichen. Aber angesichts der Größenordnungen bedarf es keiner Phantasie zu ermessen, welche gewaltigen Entschädigungszahlungen durch den Staat bei Einführung des Grundeinkommens an Rentner und Rentenanwartschaftsberechtigte fällig würden.

Dass die Flucht aus einem sozialpolitischen Entwicklungspfad nur schwerlich möglich ist, müsste im Übrigen jedem Sozialhistoriker bekannt sein. Darin liegt die ökonomische Erklärung dafür, dass in der Vergangenheit die Staaten ihren je eigenen sozialpolitischen Entwicklungspfaden gefolgt sind. Die Verfechter des Grundeinkommens leben in der Illusion, sie könnten ihren in der Vergangenheit begründeten Verpflichtungen entfliehen. Das ist aber allenfalls in revolutionären Umbrüchen möglich - und selbst dieser Schein trügt, wie die Erfahrung lehrt!

Sozialversicherung oder Grundeinkommen?

Marktwirtschaft und Staatsintervention: Sozialversicherung und Grundeinkommen intervenieren in Marktprozesse unterschiedlich. Das Interventionsmotiv weist sie gemeinsam als sozialpolitische Maßnahmen aus. Jede Sozialpolitik muss aber auch ordnungspolitisch akzeptabel sein. Das heißt: Sie muss mit den ökonomischen Grundlagen einer Gesellschaft im Einklang stehen. Welche der rivalisierenden Ansätze steht mit einer Marktwirtschaft eher im Einklang?

Die Marktwirtschaft beruht auf dem Prinzip des Tausches von Waren, Diensten und Arbeitsleistungen gegen Geld. Geld befähigt zum Erwerb. Gelderwerb setzt die Verwertung eigenen Vermögens voraus. Für die meisten Menschen ist das Arbeitsvermögen einzige Quelle ihrer Daseinssicherung. Es ist zugleich gesamtwirtschaftlich die Quelle aller Wertschöpfung; daher ist es verwertbar. Auf dem Tausch von Arbeit gegen Geld beruht der Arbeitsmarkt. Der Arbeitende wird also durch den Arbeitslohn zur Befriedigung eigener Bedürfnisse befähigt. Die Sozialversicherung schützt den Arbeitenden vor dem Risiko der Erwerbsgefährdung durch ein auf (Arbeits- und Beitrags)Leistung und Gegenleistung beruhendes Sicherungssystem. Sie ist öffentlich-rechtlich organisiert, damit alle in einem Markt tätigen Wettbewerber gleiche Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen antreffen. Die Sozialversicherung lässt also die Lohnarbeit unberührt, sichert jedoch, dass die Existenzrisiken der Lohnarbeit erfasst und die davon Betroffenen geschützt werden.

Das Grundeinkommen löst dagegen das Leben von der Arbeit, was deren Verfechter als die Erlösung von der Mühsal der Arbeit feiern. Wie eine solche Gesellschaft jedoch funktioniert, mehr: ob sie überhaupt funktioniert, ist empirisch nie erprobt worden und daher nicht gesichert. In der Sozialgeschichte ist freilich ein Beispiel des englischen Armenrechts überliefert. Zwischen 1795 und 1834 galt dort das Prinzip, dass alle Armenfürsorge erhalten sollten, die nicht ein bestimmtes Einkommen erzielten - ohne Anforderungen an deren Erwerbsbereitschaft. Dieses Speenhamland-Prinzip wurde 1834 wieder aufgegeben, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Arbeitsmoral verfallen war und schließlich ein Sechstel der gesamten englischen Wohnbevölkerung die Fürsorgeleistungen bezog. Das an die Stelle diese Prinzips tretende neue Armengesetz schloss die Arbeitsfähigen aus dem Bezug von Sozialleistungen grundsätzlich aus. Das Jahr 1834 wird deshalb als die Geburtsstunde des modernen Arbeitsmarktes angesehen. Dies zeigt: Das Grundeinkommen würde in das Jahr 1795 zurückführen! Arbeit, Menschenwürde, soziale Sicherung: Der Streit zwischen Grundeinkommen und Sozialversicherung spitzt sich damit auf die Frage zu, ob auch der soziale Schutz von morgen für die Arbeitsgesellschaft zu entwerfen sei oder die Gesellschaft künftig nicht mehr auf Erwerbsarbeit gründen wird, weil die Daseinssicherung von der Arbeit entkoppelt wird und der Staat jedermann zur Konsumtion befähigen soll.

Dass die Arbeitsgesellschaft zahlreichen Gefährdungen ausgesetzt ist, lässt sich nicht bestreiten. Die viel zu hohe Arbeitslosigkeit, die Intellektualisierung der Arbeit, der demographische Wandel und der medizinische Fortschritt gefährden die Grundlagen der Sozialversicherung. Aber folgt daraus wirklich ein Ausstieg aus der Erwerbsgesellschaft als Gebot? Ein Sozialstaat, welcher die Erwerbsarbeit nicht mehr ins Zentrum rückt, verlässt die Grundlagen der Marktwirtschaft. Er lebt von der Vorstellung, dass nicht Arbeit der Grund aller Wertschöpfung sei, sondern diese ein Nebenprodukt des gesellschaftlichen Lebens ist. Ob die vom Leistungsprinzip beherrschte Arbeitsgesellschaft durch eine vom Bedarfsdeckungsprinzip beherrschte Gesellschaft abgelöst werden kann, mag unterschiedlich bewertet werden. Fraglich ist jedoch, ob dies auch sinnvoll wäre.

Denn es gab in der jüngeren deutschen Geschichte schon verschiedene Versuche dieser Art. Auch in den Kriegszeiten sicherte der Staat durch Lebensmittelmarken und Bezugsscheine die Grundversorgung (mehr oder weniger auskömmlich). Für die nicht gerade geringe Zahl von Beamten, die nach dem Alimentationsprinzip ein zwar bescheidenes Einkommen beziehen, wird die Arbeit nicht als Basis ihrer Daseinssicherung verstanden. Denn der Staat schuldet eine amtsangemessene Vergütung unabhängig von der erbrachten Leistung. Der real existierende Sozialismus lebte ebenfalls von dieser Vorstellung, dass der Staat bis zu den Detailfragen der Güterversorgung mit Fragen der Daseinssicherung der elementarsten Art befasst sein solle und erhoffte sich, dass daraus Arbeitsamkeit erwachse. Die in der DDR seit Anbeginn gehaltenen Reden über die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik im real existierenden Sozialismus sind wahrlich Legion. Waren dies goldene Zeiten? Sozialer Schutz in einer offenen Welt: Das Grundeinkommen beruht auf einem anderen ökonomischen Grundansatz als die Sozialversicherung. Für dessen Einführung stellte sich also die Frage, ob dieses in einem Staat möglich sein könne, der umfassend in Weltwirtschaft und Binnenmarkt eingegliedert ist. Muss auch das Grundeinkommen mit den Prinzipien einer Wirtschaftsordnung im Einklang stehen, die mit den Wirtschaften anderer Länder vielfältig verbunden und verflochten ist, erscheint es nicht als Zufall, dass eines der ersten in Alaska durchgeführten Modelle des Grundeinkommens sich auf die in diesem Staat Ansässigen beschränkte. Dieses wurde aber von dem Obersten Gericht verworfen, weil es Zuwanderer verfassungswidrig ausschloss. Denn in einer Welt offener Grenzen steht jedem auch der Zugang zu jedem Sozialstaat offen.

Jedenfalls in der EU kann deshalb auch einem Rentner, der in Bulgarien eine Monatsrente über 30 Euro bezieht, nicht verwehrt werden, in einen andere Mitgliedstaat umzuziehen, in dem ein Grundeinkommen von 600 Euro und mehr bedingungslos gewährt wird. Umgekehrt ist die Beseitigung jeglicher Alters-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung für Beschäftigte, die bessere Bedingungen in anderen Ländern finden können, ein hinreichender Anreiz, das von seinen Verfechtern gepriesene Sozialleistungssystem zu fliehen und eine Arbeit dort zu suchen, wo für gute Arbeit auch gute Arbeitsbedingungen zu erwarten ist.

Schließlich würde sich die wettbewerbsrechtlich erhebliche Frage aufwerfen, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen, das ja vor allem das Lohnniveau auf breiter Ebene senkt und senken soll, eine verbotene, weil dem europäischen Binnenmarkt abträgliche staatliche Beihilfe wäre. Diese Überlegungen mögen zeigen, dass die Sozialpolitik bereits heute in hohem Maße europäisch vereinheitlicht ist und deshalb der Versuch nationaler Alleingänge - der schon immer in die Sackgasse geführt hat - in einem voll integrierten Binnenmarkt gänzlich zur vollkommenen und vollendeten Illusion geworden ist.

Fazit

In der Rhetorik seiner Verfechter ändert das Grundeinkommen die Gesellschaft von Grund auf. Wie in einem Vexierspiel oder der Illusionskunst wandelt sich die Sozialhilfe von der Ausgrenzung zum Unterpfand freiheitlicher Lebensführung, Arbeit wird von der Fron zum ersten Lebensbedürfnis. Der auf den ersten Blick phantastisch anmutende Vorschlag erweist sich bei näherer Betrachtung als ein Ausdruck ökonomischer Phantasmen. Wie eine Wirtschaft funktioniert, in welcher die Arbeit nicht Basis der Daseinssicherung sein soll, ist empirisch weder bekannt, noch je erprobt. Dieses Modell hat also keinen Ort - ist in des Wortes unmittelbarem Sinn also eine reine Utopie.

Es ist vor allem unklar, wer in einer solchen Welt die lästige, beschwerliche, gefährliche, intellektuell unter- und psychisch überfordernde Arbeit tun soll, die gerade die fortgeschrittene wissensbasierte Arbeitsgesellschaft der Zukunft reichlich hervorbringt. Dass diese aus freien Stücken übernommen würde oder die Gewähr bestünde, dass diese nun erstmals hoch bezahlt würde, wiewohl sie im gegenwärtigen System zu den am schlechtesten bezahlten Arbeiten gehört, all das bleibt in diesem Modell ungeklärt.

Eine Gesellschaft, die auf der Annahme beruht, dass alle Menschen prinzipiell durch den Staat zu versorgen seien, ist jedenfalls nicht in einer Welt zu realisieren, in welcher der Grundsatz gilt, dass jeder Mensch, der arbeiten kann, auch arbeiten soll, weil nur diese Gesellschaft eine Gesellschaft der Freiheit und Eigenverantwortung und nur diese eine dynamische und produktive Gesellschaft ist. Die Idee des Grundeinkommens beruht stattdessen auf einer Sozialutopie, die auf eine seltsame Weise höchst Vormodernes miteinander verknüpft. Das Grundeinkommen ist also kein Beitrag zur Fortentwicklung des Sozialstaats, sondern die Umschreibung einer Regression: In einer komplizierten Welt, wo selbst die "einfachsten" technischen Geräte kompliziert sind, kann ein einfaches Sozialleistungssystem nicht existieren. Die Einfachheit und scheinbare Fairness des Grundeinkommens sind also beileibe nicht dessen sozialpolitische Vorzüge, sondern ein untrügliches Zeichen dafür, dass dieser Vorschlag auf Illusionen und Realitätsferne beruht. Seine Verfechter fliehen einer komplizierten Welt, um ihr Heil in einer sozialromantischen Idylle und Utopie zu suchen. Wer die Probleme des Sozialstaates lösen möchte, sollte aber nicht aus dieser Welt aussteigen und sich auf die Suche nach Erlösung begeben, sondern sie konkret auf der Basis des überkommenen Sozialstaats zu bewältigen versuchen. Das ist unspektakulär, kompliziert und mühsam, aber der einzig realistische Weg zum "leidlichen" Erfolg.

Dr. jur. Dr. h.c., geb. 1950; seit 1989 Professor für Bürgerliches Recht und Sozialrecht an den Universitäten Osnabrück (bis 1997) und an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 07737 Jena; 2003 Ehrendoktor der Universität Göteborg.
E-Mail: E-Mail Link: E.Eichenhofer@recht.uni-jena.de
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