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Menschenrechte in der Klimakrise | Allgemeine Erklärung der Menschenrechte | bpb.de

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Menschenrechte in der Klimakrise Zum Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts

Felix Ekardt

/ 14 Minuten zu lesen

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Klimabeschluss eine epochale Entscheidung gefällt, die deutlich macht, dass ein „Menschenrecht auf Umwelt- und Klimaschutz“ bereits in der geltenden Rechtsordnung inkorporiert ist. Gleichwohl bleiben Desiderate und Lücken.

Während sich politische Akteure weltweit mit ihren Maßnahmen bislang nur bedingt in Richtung einer Einhaltung der im Pariser Klimaabkommen anvisierten 1,5-Grad-Grenze in Bezug auf den globalen Temperaturanstieg bewegen, erinnern mehr und mehr oberste Gerichte die demokratischen Mehrheiten an die Klimakatastrophe. Der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24.3.2021, publiziert am 29.4.2021, liefert dafür nun ein deutsches Exempel. Die Entscheidung wird global wahrgenommen, und sie dürfte die bislang weitestgehende höchstrichterliche Klima-Entscheidung überhaupt sein. Grund genug, sie im Folgenden exemplarisch zu analysieren, um zu veranschaulichen, wie sich Klimakrise und Menschenrechte – und auch die Demokratie – zueinander verhalten. Dabei wird deutlich werden, dass es kein explizites „Menschenrecht auf Umwelt- und Klimaschutz“ braucht. Ein solches Recht ist indirekt schon lange Teil der Rechtsordnung.

Die BVerfG-Entscheidung erging 2021 auf vier Verfassungsbeschwerden hin, deren erste 2018 vom Solarenergie Förderverein Deutschland (SFV) initiiert, finanziert und gemeinsam mit Einzelklägern wie dem früheren christdemokratischen Bundestagsabgeordneten Josef Göppel sowie dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) eingelegt wurde. Zusammen mit meiner Kollegin Franziska Heß habe ich die Klage in Karlsruhe vertreten, vorbereitet wurde sie seit 2010 durch einige Rechtsgutachten, die auf meiner Habilitationsschrift beruhten. Nachdem die Verfassungsbeschwerde im August 2019 vom BVerfG zur Entscheidung angenommen worden war, traten weitere Kläger hinzu: Im Januar 2020 legten unter anderem Fridays-for-Future-Aktive Verfassungsbeschwerde ein, unterstützt von weiteren Umweltverbänden.

Erkenntnisse des Karlsruher Beschlusses

Eine grundsätzliche Folge der ersten in Deutschland erfolgreichen Verfassungsklage auf mehr Umweltschutz ist, dass die Klimapolitik ambitionierter werden muss – in einem Land, dessen Pro-Kopf-Emissionen immer noch zu den höchsten der Welt zählen. Der deutsche Gesetzgeber muss das für die Einhaltung des Pariser Klimaziels nach den Berechnungen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) verbleibende Treibhausgasbudget fair zwischen den Generationen verteilen. Ferner muss das Parlament – und nicht die Regierung – die wesentlichen klimapolitischen Entscheidungen selbst treffen.

Klimaschutz und Klimaneutralität sind laut BVerfG grundrechtlich sowie durch das Staatsziel Umweltschutz aus Artikel 20a GG geboten. Der grundrechtliche Gegenstand umfasst den gesamten Schutz der elementaren Freiheitsvoraussetzungen; explizit anerkannt werden als Grundrechtsgüter in puncto Klimaschutz das Recht auf Leben und Gesundheit, tendenziell wohl auch ein ökologisches Existenzminimum. Den Grundrechten wird dabei eine intertemporale und global-grenzüberschreitende Wirkung zugesprochen. Eine explizite Begründung dafür gibt das BVerfG nicht; das wichtigste Argument liegt insoweit darin, dass die grundrechtliche Freiheit dort wirken soll, wo ihr Gefahr droht – und diese droht heute, anders als vor Jahrhunderten, eben oft über große Entfernungen und Zeiträume hinweg.

Das höchste deutsche Gericht folgt zudem dem mit der Verfassungsbeschwerde angebotenen Ansatz, nach Grenzen des gesetzgeberischen Abwägungsspielraumes zwischen der Freiheit der Produzierenden und Konsumierenden „zur Klimainanspruchnahme“ einerseits und dem Schutz aller Menschen andererseits zu fragen, bei deren Überschreiten es eine parlamentarische Nachbesserungspflicht annimmt. Dabei argumentiert das BVerfG zutreffend, dass es beim Klimaschutz um die Freiheitsrechte insgesamt geht, und zwar in zwei konträren Hinsichten: Sowohl der Klimawandel als auch der Klimaschutz können für die Freiheit beeinträchtigend sein (doppelte Freiheitsgefährdung). In beiderlei Hinsichten sind daher Grenzen des gesetzgeberischen Abwägungsspielraumes zu prüfen.

Für den Aspekt des „Freiheitsschutzes vor dem Klimawandel“ lagen dem Gericht drei Argumente vor: erstens eine Argumentation über das Recht auf die elementaren Freiheitsvoraussetzungen Leben, Gesundheit und Existenzminimum als Schutzrechte; zweitens eine Argumentation über die gleichen Grundrechte als Abwehrrechte gegen einen staatlich zugelassenen Klimawandel; drittens eine Argumentation über die Freiheit insgesamt in Verbindung mit dem Staatsziel Umweltschutz.

Das Gericht folgte – in eigener Diktion – der ersten und der dritten Linie. Jedoch ist das Ergebnis jeweils, dass die Klimapolitik zwar als schwach kritisiert, verfassungsrechtlich aber noch für vertretbar gehalten wird. Denn der Gesetzgeber habe, so das Gericht, einen weitreichenden Konkretisierungsspielraum hinsichtlich des gebotenen Umweltschutzniveaus, wenngleich er ein einmal gewähltes Schutzniveau nicht einfach wieder abändern kann. Trotz des Konkretisierungsspielraumes erkennt das BVerfG aber die völkerrechtliche Verbindlichkeit der politischen Einigung auf das Paris-Ziel als globales Klimaziel an – und zwar mit dem Bemühen der Begrenzung auf möglichst 1,5 Grad und nicht bloß „weit unter 2 Grad“ oder gar direkt 2 Grad Celsius. Dabei lässt das Gericht als Konkretisierung des Artikels 20a GG scheinbar auch die Grenze von weit unter 2 Grad (noch) genügen, „scharf gestellt“ wird die Klimaschutzverpflichtung aber durch ein viertes Argument: das dem Schutz der Freiheitsrechte insgesamt entnommene Gebot, die Freiheitschancen über die Zeit hinweg fair auszubalancieren. Das habe der Gesetzgeber bislang nicht getan, so die Karlsruher Richterinnen und Richter, weil er nicht hinreichend berücksichtigt habe, dass die nach bisheriger politischer Planung nötige überstürzte Klimapolitik nach 2030 massiv freiheitsgefährdend wirkt. Diese Unterscheidung zwischen dem „Schutz vor dem Klimawandel“ und dem „Schutz vor der Klimapolitik“ bleibt bislang in den Analysen zum BVerfG-Beschluss weitgehend unthematisiert.

Laut Bundesverfassungsgericht muss die Politik ihren Entscheidungen außerdem den aktuellen Stand der empirisch-wissenschaftlichen – etwa klimawissenschaftlichen – Erkenntnisse zugrunde legen. Das bedeutet, dass die empirischen Tatsachen sorgfältig ermittelt werden müssen, auch wenn diesbezüglich Lücken bestehen; ferner muss die künftige Entwicklung der Erkenntnisse weiter beobachtet und auf dieser Basis gegebenenfalls neu politisch entschieden werden. Derartige Tatsachenerhebungsregeln hatte das BVerfG in der Vergangenheit eher vage und nur vereinzelt konkreter geltend gemacht.

Darüber hinaus wird der Sache nach nunmehr das Vorsorgeprinzip auch auf die Grundrechte angewendet. Es kommt also nicht allein darauf an, ob hier und heute Grundrechte der Beschwerdeführenden bereits verletzt sind; es sind auch kumulative, unsichere und langfristige Grundrechtsbeeinträchtigungen denkbar. Dies ist überzeugend, weil die Grundrechte bei drohenden irreversiblen Schäden sonst leerlaufen würden. Genau das erkennt auch das BVerfG; im Schrifttum wird das Vorsorgeprinzip ansonsten meist objektivrechtlich gelesen und Normen wie Artikel 20a GG oder Artikel 191 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) allein zugeordnet. Eine Grundrechtsbetroffenheit besteht folgerichtig laut BVerfG – anders als bislang – auch dann, wenn, wie beim Klimawandel, sehr viele betroffen sind. Der Diskurs zur Kausalität im Klimaschutz aus der internationalen Arena wird damit nicht aufgenommen. Ebenso wird die Diskussion zur Zurechnung nicht adressiert, indem eine gesetzgeberische Verpflichtung zum Handeln unabhängig davon statuiert wird, ob andere Staaten ebenfalls handeln; Klimaschutz sei ein international anzugehendes Anliegen, woran alle Staaten mitwirken müssten.

Missverständnisse über Freiheit und Demokratie

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist zweifellos epochal. Dennoch können erhebliche Kritikpunkte formuliert werden. Wegen der bislang fehlenden Thematisierung der Unterscheidung „Schutz vor dem Klimawandel“ vs. „Schutz vor der Klimapolitik“ wird dabei eine zentrale Schieflage des Beschlusses kaum beachtet: Anders, als es das BVerfG insinuiert, ist der politisch hingenommene oder begünstigte Klimawandel die größere Gefahr für die Freiheit und ihre Voraussetzungen als eine radikale Klimapolitik. Man denke nur daran, dass der Klimawandel die Nahrungs- und Wasserversorgung in Teilen der Welt prekär werden lässt und große Naturkatastrophen wahrscheinlicher macht, die große Migrationsbewegungen, Kriege und Bürgerkriege zur Folge haben könnten. Nach konservativen Schätzungen droht außerdem die Bewältigung der Folgen des Nichthandelns um rund das Fünffache teurer zu werden als eine konsequente Klimapolitik.

So kommt es in der BVerfG-Entscheidung zu einem eigenartigen Kompromiss, getragen von dem eher misslungenen Versuch, den demokratischen Spielraum von Parlamenten nicht zu sehr einzuengen: Einerseits gibt es jetzt einen in der grundrechtlichen Figur der intertemporalen Freiheitssicherung einschließlich des Staatsziels Umweltschutz fundierten Anspruch auf mehr Klimaschutz, der gleichzeitig für den konkreten Fall nur als Anspruch auf Abwehr einer künftigen überstürzten Klimapolitik bejaht wird, also in Gestalt einer abwehrrechtlichen Konstruktion angenommen wird. Andererseits wird die restriktive Lehre von der Schutzdimension der Grundrechte beibehalten, ohne die in der Beschwerdeschrift ausführlich thematisierte Kritik daran überhaupt zu diskutieren. Stattdessen werden im Beschluss letztlich eigene restriktive Urteile zur schutzrechtlichen Dimension der Grundrechte wiederholt. Wenn schon abwehrrechtlich argumentiert wird, hätte es nahegelegen, den mangelnden Klimaschutz – der etwa im Falle der Zuteilung von Emissionszertifikaten oder der Genehmigung von Kohlekraftwerken und Tagebauen explizit auf ein staatliches Tun rückführbar ist – als abwehrrechtliches Problem zu diskutieren. Stattdessen erscheint beim BVerfG, wie geschildert, die zunächst verzögerte und später dann absehbar radikal schnelle Emissionsreduktion als das Problem, das letztlich die Verfassungswidrigkeit der Klimapolitik auslöst.

Damit bleibt tendenziell der Blick darauf verstellt, dass das Grundgesetz die abwehrende und die schützende Dimension in Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 GG und in Artikel 2 Absatz 1 GG bei Menschenwürde und Freiheitsschutz – ähnlich wie in den Artikeln 1 und 52 Absatz 1 der EU-Grundrechtecharta – als gleichrangig anspricht und deshalb für die vom BVerfG seit Jahrzehnten gepflegte diminuierende Sicht auf Schutzrechte gegenüber den Abwehrrechten vielleicht gar keine Grundlage besteht. Ferner wird immer noch außer Betracht gelassen, dass es bei Schutzklagen nicht um einen „Anspruch auf Gesetzgebung“ gehen muss. Es kann vielmehr – wie bei Abwehrklagen – ebenfalls allein darum gehen, durch eine gerichtliche Feststellung eine äußere Grenze zu ziehen – also ein „so jedenfalls nicht“ zu erwirken und nicht ein „tu genau das“. Unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Gewaltenteilung unterscheiden sich der Grundrechtsschutz gegen den Staat (Abwehrdimension) und der Grundrechtsschutz gegen die Mitbürger durch den Staat (Schutzdimension) daher unter Umständen gar nicht. Die Rolle eines Verfassungsgerichts ist in jedem Fall die gleiche: Seine Aufgabe ist nicht, konkrete Maßnahmen vorzugeben, sondern die Grenzen gesetzgeberischer Abwägungsspielräume festzulegen und deren Einhaltung einzufordern.

Zugleich entsteht so eine merkwürdige Disbalance der BVerfG-Entscheidung, wenn das Gericht beim Schutz gegen den Klimawandel (im Unterschied zum Schutz gegen eine überstürzte Klimapolitik) den Artikel 20a GG – wenngleich unter der Überschrift des Freiheitsschutzes insgesamt – stark betont, gleichzeitig aber selbst das wenig ambitionierte bisherige deutsche Klimaschutzgesetz als noch mit dem Grundgesetz vereinbar ansieht. Dass Artikel 20a GG praktisch wenig Durchschlagskraft entwickelt und weitgehend der gesetzgeberischen Konkretisierung überlassen wird, ist freilich durchaus konsequent. Denn Staatsziele sind konturenärmer als die Grundrechte.

Missverständnisse über Paris-Ziel und IPCC-Budget

Das BVerfG erkennt die (jedenfalls Völkerrechts-)Verbindlichkeit der politischen Einigung auf das Paris-Ziel als globales Klimaziel an, und zwar mit dem Bemühen der Begrenzung auf möglichst 1,5 Grad. Zugleich liest es dieses Bemühen als den Gesetzgeber selbst bindende Konkretisierung des menschenrechtlichen Klimaschutzniveaus. Das Gericht erkennt insoweit zutreffend, dass Artikel 2 Absatz 1 des Paris-Abkommens nicht nur von „2 Grad“ spricht, sondern dass die Staaten versuchen müssen, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, wie es sich aus dem Wortlaut des Abkommens ergibt. Das BVerfG greift zur Konkretisierung den Ansatz des IPCC und – darauf aufbauend – des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung (SRU) auf, die ein Quantum für die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze in Gestalt eines Treibhausgasbudgets berechnen.

Die Schwächen des IPCC-Budgets, das als Ergebnis eines Konsensgremiums mit optimistischen Annahmen etwa zur Klimasensitivität und zu Kipppunkten arbeitet, werden vom BVerfG dabei übergangen; es wird lediglich recht generisch darauf verwiesen, dass das Budget zu hoch oder vielleicht auch zu niedrig kalkuliert sein könnte, auch wenn das BVerfG, wie erwähnt, in der Entscheidung stärker als früher darauf verweist, dass die Politik wissenschaftliche Erkenntnisse sorgfältig berücksichtigen müsse.

Ebenso übergangen werden rechtliche Kritikpunkte am IPCC-Budget, das ja als Konkretisierung einer Rechtsnorm gedacht ist, nämlich des erwähnten Artikels 2 Absatz 1 des Paris-Abkommens. Diese Norm ist rechtsverbindlich, wie das Gericht selbst voraussetzt, wenn es die Norm als die verbindliche Konkretisierung des Klimaziels seitens der Politik anspricht (dass dies zutrifft, ergibt sich etwa aus Artikel 3 und 4 Absatz 1 des Abkommens). Dann aber genügt es nicht, die 1,5 Grad nur mit 67 oder gar nur 50 Prozent Wahrscheinlichkeit anzustreben, wie es der IPCC traditionell tut – mit einer höher angesetzten Wahrscheinlichkeit wäre das Budget schon heute bei null oder gar deutlich überschritten –, und sogar einen zwischenzeitlichen overshoot über diese Grenze einzukalkulieren. Dann genügt es im Übrigen auch nicht, nur 1,75 Grad anzustreben, wie es die vom BVerfG rezipierte SRU-Berechnung tut (der SRU liefert zugleich eine weitere Berechnung für 1,5 Grad, indes nur mit 50 Prozent Einhaltungswahrscheinlichkeit). Denn wenn Artikel 2 Absatz 1 des Paris-Abkommens „Anstrengungen“ zur Einhaltung von 1,5 Grad Celsius vorschreibt, muss genau dieses Ziel einzuhalten versucht werden. Sich auf die einleitend von der Vorschrift vorgegebenen „weit unter 2 Grad“ zu beschränken, genügt nicht, denn dann wäre das Normieren der Anstrengungen erkennbar sinnlos. Überdies formuliert das BVerfG deutlich, dass sich die Politik nicht auf die in ihrer technischen Machbarkeit und verfassungsrechtlichen Haltbarkeit zweifelhaften Geoengineering-Ansätze verlassen darf; dass damit das IPCC-Budget hinfällig wird, stellt das BVerfG indes nicht klar, sondern arbeitet selbst weiter mit diesem Budget, anstatt anhand der eben genannten Kritikpunkte nur ein deutlich kleineres Budget zu akzeptieren.

Was das bedeuten würde, wird an einem einfachen Beispiel deutlich: Allein schon die Korrektur der Einhaltungswahrscheinlichkeit der Treibhausgasreduktion auf 83 Prozent würde das verbleibende globale Budget rechnerisch um fast die Hälfte reduzieren, nämlich auf 300 Gigatonnen CO2-Äquivalent (GtCO2) global ab dem 1.1.2020. Bei einem Pro-Kopf-Ansatz würde das für Deutschland, das ein Hundertstel der Weltbevölkerung stellt, ein verbleibendes Budget von 3 GtCO2 bedeuten, das angesichts des jährlichen Verbrauchs in Deutschland bereits Ende 2023 in Gänze aufgebraucht wäre.

Das Budget verkleinert sich weiter, wenn man eine noch höhere Wahrscheinlichkeit verlangt oder andere Probleme angeht, etwa das Basisjahr oder die gegebenenfalls gebotene Ungleichverteilung des Budgets zugunsten der Länder des Globalen Südens. So bezieht sich Artikel 2 Absatz 1 des Paris-Abkommens rechtlich gesehen und nach seinem Wortlaut auf den Vergleich zum vorindustriellen Niveau. Für diesen Vergleich kann man aber nicht, wie es die vom IPCC zugrunde gelegten naturwissenschaftlichen Studien tun, als Basisjahr ein Jahr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wählen. Denn die Industrialisierung begann schrittweise schon ab etwa 1750 – woran der Umstand nichts ändert, dass für die ersten hundert Jahre der Industrialisierung nur Schätzungen und keine Messdaten vorliegen. Das alte IPCC-Budget genügt deshalb dem Paris-Abkommen nicht. Noch weiter verkleinernd wirkt es, wenn man – wie durch Artikel 2 Absatz 1 zumindest impliziert – einen temporären overshoot ausschließt und vorsichtigere Annahmen bei empirischen Aspekten wie den Kipppunkten oder der Klimasensitivität trifft, etwa, weil neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die vom Gesetzgeber ja sorgfältig zu berücksichtigen sind, einen noch schnelleren und mit noch dramatischeren Folgen voranschreitenden Klimawandel immer sicherer nachweisen.

Hinzu tritt die Frage, ob man jedem Menschen (möglicherweise auch weltweit) am gegebenenfalls verbleibenden Emissionsbudget einen gleichen Anteil zusprechen muss oder nicht. Einerseits ist bei Verteilungsfragen in liberalen Demokratien regelmäßig keine strikte Gleichverteilung geboten, andererseits könnte es bei Emissionen Argumente für eine zumindest grundsätzlich ungefähre Gleichverteilung über längere Zeiträume hinweg geben. Das BVerfG weist ferner zutreffend darauf hin, dass die Regelungen des Pariser Abkommens eher für eine ungleiche Verteilung zulasten der Industriestaaten sprechen. Hinter diesen Normen steht letztlich eine Berücksichtigung von Leistungsfähigkeit und historischer Verursachung; bezieht man dies ein, wäre das deutsche oder europäische Budget bereits in der Vergangenheit erschöpft gewesen, respektive würde heute eine Verpflichtung bestehen, im Ausgleich für das eigene, bereits überzeichnete Budget massiv an Emissionsreduktionen außerhalb Europas mitzuwirken.

Mit alledem kann man konstatieren: Nimmt das BVerfG seine eigenen Parameter ernst – Pflicht zur sorgfältigen Tatsachenermittlung, Budget-Gedanke, zumindest völkerrechtliche Verbindlichkeit der 1,5-Grad-Grenze und daran geknüpfte völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes, Notwendigkeit einer Budget-Ungleichverteilung im Verhältnis zum Globalen Süden –, müsste eine konsequente Lektüre seines Beschlusses zu einem deutlich kleineren beziehungsweise heute bereits überzeichneten Budget führen.

Folgen: Schutzniveau und Maßnahmen

Die weitreichende Wirkung des BVerfG-Beschlusses adressiert die öffentliche Gewalt insgesamt und alle seine Staatsgewalten – und somit nicht nur den Gesetzgeber, sondern auch die Verwaltung und die Rechtsprechung. Sie alle haben das Ziel der Klimaneutralität respektive den intertemporalen Freiheitsschutz anzustreben. Die Wirkungen binden den Bundesgesetzgeber und die Bundesregierung ebenso wie die Landesgesetzgeber, Landesregierungen und nachgeordneten Behörden, die Kommunalverwaltungen und auch die Gerichte – und indirekt wirken sie auch auf EU-Ebene.

Hinsichtlich des Schutzniveaus wurde, ausgehend von der doppelten Freiheitsgefährdung, gezeigt, dass eine klimaverfassungsrechtliche Verpflichtung auf ein ambitioniertes Treibhausgasbudget besteht, verbunden mit der Verpflichtung, Planungshorizonte und Planungssicherheit herzustellen, Tatsachengrundlagen sorgfältig zu ermitteln und den Parlamentsvorbehalt zu wahren. Dabei muss die Gesetzgebung gerade die Tatsachenlage immer wieder sorgfältig überprüfen und auch berücksichtigen, dass nicht nur die Kritik am IPCC-Budget als solche, sondern auch die Argumente für eine global ungleiche Verteilung des verbleibenden Budgets entlang von Leistungsfähigkeit und historischer Verursachung für ein wesentlich kleineres Budget sprechen. All dies ergibt sich auch infolge einer völkerrechtsfreundlichen Interpretation einer liberal-demokratischen Verfassung wie des Grundgesetzes im Lichte eines (adäquat verstandenen) Artikels 2 Absatz 1 des Paris-Abkommens.

In Bezug auf konkrete Maßnahmen hat der Beschluss ebenfalls Implikationen, denn ohne sie gibt es keinen Klimaschutz, auch wenn das BVerfG dies nicht direkt thematisiert. Man wird zwar in der Regel keine konkrete Maßnahme verfassungsgerichtlich einklagen können. Es lässt sich jedoch durchaus gerichtlich überprüfen, inwieweit sich die vom Gesetzgeber real getroffenen Maßnahmen in jenen Grenzen bewegen, die sich durch die Festlegungen zum Schutzniveau, die Notwendigkeit von Planungshorizonten, einen planbaren Übergang zur Postfossilität sowie die Verpflichtung zur sorgfältigen Tatsachenermittlung ergeben. Das bedeutet zugleich auch, dass im einfachen Recht bei Interpretationsspielräumen eine verfassungskonforme – also mit der jetzt zum Klimaschutz gefundenen Linie kompatible – Interpretation gefunden werden muss. Ferner muss sich auf Gesetzgebungsebene die Wahl der politisch-rechtlichen Steuerungsinstrumente so ausrichten, dass das Schutzniveau real erreicht werden kann und dass die Tatsachen über die Wirkung verschiedener Steuerungsansätze sorgfältig ermittelt und berücksichtigt werden. Zunächst noch unabhängig von der konkreten Instrumentenwahl werden Gesetzgebung und Rechtsanwendung nicht umhinkommen, auf ein phasing-out aus den fossilen Brennstoffen in sämtlichen Sektoren (Strom, Wärme, Mobilität, Agrarsektor, Zement, Kunststoffe und anderes mehr) sowie eine stark reduzierte Nutztierhaltung zu setzen und ergänzend einige Emissionskompensationen vorzusehen. Im Sinne einer Berücksichtigung der kompetenziellen Lage wie auch der Tatsachenlage hinsichtlich der Wirksamkeit verschiedener Ebenen muss die Bundesregierung vor allem auf EU-Ebene auf wirksame Lösungen drängen.

Das Bundesverfassungsgericht hat betont: Deutschland muss beim Klimaschutz international aktiver werden und darf sich nicht darauf berufen, dass auch andere untätig sind. Eine Begründung – jenseits dessen, dass einseitige Untätigkeit auch eine Untätigkeit anderer Staaten wahrscheinlicher macht – wird in der Entscheidung nur in Ansätzen genannt, sie liegt aber auf der Hand: Erstens ist das Klimaproblem nicht allein in Deutschland lösbar, sondern es ist globaler Natur. Zweitens droht eine rein nationale Klimapolitik sektorale und räumliche Verlagerungseffekte auszulösen (das Stichwort „Carbon Leakage“, die Verlagerung von Kohlenstoffdioxidemissionen in Drittstaaten, benennt dessen räumliche Komponente), die ökologisch kontraproduktiv wären und wegen sich parallel dazu ergebender wirtschaftlicher Nachteile in puncto Wettbewerbsfähigkeit die Akzeptanz des Klimaschutzes insgesamt untergraben könnten. Eine EU-Klimapolitik könnte zwar zumindest ins außereuropäische Ausland ebenfalls Verlagerungseffekte auslösen. Diese können auf EU-Ebene wegen der dort liegenden Zollkompetenz jedoch durch ein CO2-Grenzausgleichssystem („Border Adjustments“) vermieden werden. Drittens ist eine rein nationale Klimapolitik aufgrund der besonderen Rolle der EU schon rein rechtlich unmöglich, weil ein Großteil der Emissionen EU-rechtlich präformiert oder gar vollständig reguliert ist, etwa im EU-Emissionshandel.

Mindestens fraglich ist, ob der Gesetzgeber – nicht nur insgesamt, sondern auch in Bezug auf Einzelmaßnahmen – sein einmal gefundenes Schutzniveau durch neue Maßnahmen unterlaufen darf. Ebenso denkbar ist, dass einzelne Steuerungsansätze, die großflächig die Klimawende massiv behindern, als solche verfassungswidrig sind, etwa der großmaßstäbliche Einstieg in die Flüssiggasbeschaffung. Bei unklarer Tatsachenlage hat der Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative, die ihn allerdings nicht von einer Pflicht zur sorgfältigen Tatsachenermittlung und weiterer Beobachtung der Sachlage – und sodann gegebenenfalls einer Anpassung seines Steuerungsinstrumentariums – entbindet.

Das Gesagte legt nahe, dass sowohl zum Schutzniveau als auch zu den Rahmenbedingungen wirksamer Maßnahmen im beschriebenen Sinne weitere Prozesse vor dem BVerfG denkbar und absehbar sind. Gleiches gilt für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – der zuständig ist für das gesamte geografische Europa und bei dem aktuell mehrere Klimaklagen anhängig sind – sowie weitere Verfassungsgerichte. Auch der Europäische Gerichtshof als oberstes EU-Gericht wird, selbst wenn er sein enges Verständnis der Nichtigkeitsklage nach Artikel 263 Absatz 4 AEUV weiterverfolgt, im Wege von Vorabentscheidungsverfahren absehbar vor der Frage stehen, ob er dem EU-Primärrecht eine ähnliche Interpretation verleiht, wie sie vorliegend dargelegt wurde – was insofern nahe läge, als auch das EU-Primärrecht eine liberal-demokratische Verfassungsordnung konstituiert. Auch der UN-Menschenrechtsrat hat 2021 eine (unverbindliche) Resolution angenommen, nach der es künftig ein Recht auf eine saubere Umwelt gebe. Angesichts des unklaren Inhalts eines solchen Rechts und des gleichzeitig recht klar benennbaren Gehalts traditionell anerkannter Menschenrechte in puncto Klima ist der Sinn eines solchen Vorstoßes freilich zweifelhaft.

ist Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik sowie apl. Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Rostock.
E-Mail Link: felix.ekardt@uni-rostock.de