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Revolution und Gegenrevolution in Osteuropa seit 1948 | APuZ 47/1968 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 47/1968 Revolution und Gegenrevolution in Osteuropa seit 1948 (null)- Maos neue thesen

Revolution und Gegenrevolution in Osteuropa seit 1948

Günter Bartsch

Die neue Opposition in der SED

Auch in Ost-Berlin und Mitteldeutschland garte es. Aul einem Ost-Berliner Jugendforum wurde im Frühjahr 1956 die Verhaftung stalinistischer SED-Minister verlangt An anderen Orten kam es ebenfalls zu turbulenten Szenen. Leipziger Studenten pfiffen Ulbricht aus. Er war jedoch geschickter als Rakosi in Ungarn. Hatte er Stalin noch im Grußtelegramm der SED an den XX. Parteitag der KPdSU in einem Zuge mit Marx, Engels und Lenin genannt, so genügten ihm zwei Wochen, um sich weitgehender als die meisten Führer der anderen kommunistischen Staaten von ihm zu distanzieren. Ulbricht sah sich daher plötzlich in der SED einer prostalinistischen Opposition gegenüber, die ihn falsch verstand, weil die Distanzierung von Stalin nur dem Zweck diente, eine ernsthalte Entstalinisierung in Mitteldeutschland zu verhindern. Auf Grund dieses Widerspruchs zeichneten sich deshalb andererseits Gruppen in der SED ab, die erbittert gegen Ulbrichts Behauptung rebellierten, in Mitteldeutschland sei man stets andere Wege als in Rußland gegangen, so daß eine Entstalinisierung unnötig wäre. Die profilierteste dieser Gruppen war der Kreis um Wolfgang Hurich.

Nach einer kleinen Schrift von Manfred Hertwig, der dem Harich-Kreis angehörte, ist dieser im Unterschied etwa zu der Gruppe um Herrnstadt keine Minderheits-, sondern „eine Mehrheitsopposition" gewesen. Damit wollte Hertwig nicht sagen, daß der Harich-Kreis die Mehrheit der SED oder gar der Bevölkerung hinter sich hatte, sondern er stellte einer Minderheitsopposition von oben eine Mehrheitsopposition von unten gegenüber: „Wir waren keine Opposition innerhalb des Apparats, sondern eine Opposition gegen den Apparat, die ihre Kraft aus der überall elementar hervorbrechenden Unzufrie-denheit der Parteimitglieder und der nicht parteigebundenen Bevölkerung zog." Nun scheint zwar auch Herrnstadt keineswegs nur einem Blinkzeichen aus dem Fenster des sowjetischen Innenministeriums — das heißt von Berija — gefolgt zu sein; seine Opposition reflektierte ebenfalls eine gewisse Unzufriedenheit in der Parteimitgliedschaft. Gleichwohl sollte Hertwigs Unterscheidung berücksichtigt werden, weil sie auf einen neuen Charakterzug der SED-Opposition nach dem XX. Parteitag der KPdSU aufmerksam macht.

Neu war auch die Situation, in der sich diese Opposition zurechtfinden mußte. Solange Stalin noch auf seinem Sockel stand, hatte sich Ulbricht auf Moskau berufen. Das war nach dem XX. Parteitag kaum noch möglich, da die Linien des Sowjetkommunismus und der SED nun offen auseinandergingen. Ulbricht unterdrückte und zensierte Chruschtchowreden. Dies ist die Erklärung für den zunächst befremdenden Schritt, daß Harich beim sowjetischen Botschafter in Ost-Berlin um Unterstützung für seine Reformpläne warb.

Der Harich-Kreis hat sich als eine Art deutscher Petöfi-Klub verstanden. Im Herbst 1956 führt er wöchentliche Diskussionsabende durch. In der Regel beteiligten sich allerdings nur 20 bis 30 Personen. Der Durchbruch in die Öffentlichkeit ist nicht gelungen, und zwar ungeachtet dessen, daß die osteuropäische Revolution im Oktober 1956 auch innerhalb der DDR einem neuen Ausbruch zutrieb. Die Unruhezentren lagen jetzt aber nicht mehr in den Betrieben, sondern in den Hochschulen und Universitäten, wo sich teils unter den Studenten, teils unter dem Lehrpersonal zahlreiche Oppositionsgruppen herauskristallisierten, die Programme für eine Änderung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse entwarfen. Später hieß es in einem Artikel des Zentral-Organs der SED, daß es damals Dutzende solcher Programme gegeben habe. Der Harich-Kreis ist gewissermaßen das Konzentrat und Sprachrohr all dieser unabhängig voneinander entstehenden und tätigen Gruppen gewesen. Er hätte durchaus eine ähnliche Rolle wie der ungarische Petöfi-Klub spielen können. Nach dem Bericht eines ehemals führenden Mitarbeiters der Plankommission drohte am 24. Oktober 1956 „ein neuer Aufstand auszubrechen" Die Studenten der Humboldt-Universität wollten zu einer Protestkundgebung gegen Ulbrichts Politik aufmarschieren, aber Ulbricht ließ sie zwei Tage und zwei Nächte in der Universität einsperren.

Drei Tage vor dem 24. Oktober hatte sich der Führungswechsel in Polen vollzogen. Am Tage davor war die ungarische Revolution ausgebrochen. Die Zusammenhänge sind unübersehbar. Auch im Harich-Kreis verschmolzen Einflüsse aus Polen und Ungarn. Man sah ferner nach Jugoslawien und China. Praktisch sollte jedoch nur die Institution der jugoslawischen Arbeiterräte übernommen werden. Der programmatische Kern des Harich-Kreises war die Konzeption eines besonderen deutschen Weges zum Sozialismus — wobei man die Nachkriegsthese von Anton Ackermann wieder auf-griff — unter Berücksichtigung aller Erfahrungen beim Beschreiten neuer Wege zum Kommunismus, die in Jugoslawien, Polen, Ungarn und China bereits gesammelt worden waren. Die Normentreiberei in den Betrieben sollte ebenso wie die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft beendet werden. Man verlangte die Auflösung des Staatssicherheitsdienstes und der Geheimjustiz. Bezeichnend war auch die Forderung nach Gleichberechtigung und Unabhängigkeit der DDR im kommunistischen Lager. Unter den neuen Gesichtspunkten stachen Gewinnbeteiligung für die Arbeiter, Autonomie für die Universitäten und Wiederherstellung der Souveränität des Parlaments hervor. Der Harich-Kreis sprengte auch insofern den Rahmen der vorangegangenen SED-Opposition, als er die Re-lntegration der Ideen Trotzkis und Bucharins in den Marxismus-Leninismus empfahl, Beziehungen zur Sozialdemokratie aufnahm sowie verschiedene seiner Ansichten in westdeutschen Zeitungen und Zeitschriften publizierte. Der sowjetische Sozialismus, sagte Harich, könne nicht mehr als Vorbild angesehen werden und sei selbst in Rußland überholt. Am 29. November 1956 wurde er verhaftet. Fünf Mitglieder seines Kreises folgten ihm ins Zuchthaus.

Ein anderes Zentrum der Opposition bildete sich 1956 um Ernst Bloch, der seit 1949 den philosophischen Lehrstuhl an der Universität Leipzig innehatte. Es war vor allem seine Idee des menschlichen Sozialismus, die viele Studenten und Dozenten faszinierte. Bloch hatte sie auf einer Konferenz kommunistischer Philosophen Europas, die kurz nach dem XX. Parteitag in Ost-Berlin stattfand, wie folgt charakterisiert: „Die Praxis der Wahrheit ist der Sozialismus der Freiheit, die Theorie der Freiheit ist der Marxismus der Wahrheit" Damit waren Freiheit und Wahrheit nicht nur als untrennbar zusammengehörig und einander bedingend, sondern auch als Kriterien der kommunistischen Politik bezeichnet. Die Konzeption des menschlichen Sozialismus entstand als Antithese zum Stalinismus als einer unmenschlichen Form der Politik. Sie drückte jedoch auch die Hoffnung aus, daß der Kommunismus von innen her reformiert und auf das Marxsche Grundanliegen einer klassenlosen Gesellschaft zurückgeführt werden könne, wenn man nur genügend aktiv sei. Das Wiederaufstrahlen der Marxschen Utopie verknüpfte sich also bei Bloch mit einem Appell zum politischen Handeln, dem eine Anzahl seiner Schüler unverzüglich folgte. Sie verlangten beispielsweise in einer Versammlung der SED-Organisation des Leipziger philosophischen Instituts die Absetzung Ulbrichts Außerdem betrieben sie eine untergründige Arbeit zur Sammlung aller unzufriedenen und antistalinistisch eingestellten Kommunisten. Gerhard Zwerenz, einer der bekanntesten Bloch-Schüler, hat im Rückblick geschrieben: „Was mich erstaunte, war die große Zahl von — meist jüngeren, aber auch vielen älteren — Parteimitgliedern, die auf ein ähnliches Ziel zusteuerten, wobei unserer Tätigkeit fast ein halbes Jahr lang von der Parteibürokratie kein Widerstand geboten wurde." Ein anderer Schüler Ernst Blochs verfaßte ein Gedicht zu Ehren der ungarischen Revolution und einen Essay, in dem er Imre Nagy als Verfechter eines menschlichen Sozialismus begrüßte. Er wurde wenig später verhaftet. Zwerenz entging der Festnahme durch Flucht. Mehrere Assistenten verloren ihre Stellung. Uber Bloch wurde ein Vorlesungsverbot verhängt. Schließlich untersagte man ihm auch das Betreten des philosophischen Instituts. Doch die Idee des menschlichen Sozialismus konnte weder ver-haftet noch verboten werden. Obwohl sie in allen kommunistischen Ländern Europas nahezu gleichzeitig zu keimen begann, ist ihre theoretische Formulierung in der DDR erfolgt.

Eine dritte Oppositionsgruppe setzte sich hauptsächlich aus Wirtschaftswissenschaftlern zusammen. Chruschtschow hatte sich auf dem XX. Parteitag der KPdSU über die Verbreitung bürokratischer Methoden in der Wirtschaftsführung beklagt. Mit diesem Problem befaßte sich in der SED besonders Prof. Fritz Behrens, damals Leiter des Staatlichen Zentralamts für Statistik. Auch von seinem Mitarbeiter Benary lag im Juni 1956 das Manuskript einer neuen Wirtschaftskonzeption vor, die eine Gewinnbeteiligung der Arbeiter in den Betrieben empfahl. Man wußte, daß die beiden Männer über beträchtlichen Anhang verfügten. Als die Auflage der Zeitschrift mit ihren Arbeiten beschlagnahmt und eingestampft wurde, erhob sich ein derart vielstimmiger Protest, daß sie neu gedruckt werden mußte. Erstmals wurde Ulbricht im Zentralkomitee der SED überstimmt. Behrens und Benary vertraten die Ansicht, daß eine Zentralverwaltungswirtschaft der notwendigen Masseninitiative als Haupttriebkraft kommunistischer Entwicklung widerspricht. Deshalb schlugen sie vor, als Gegengewicht zur zentralen Planung eine Selbstverwaltung der Wirtschaft einzurichten. Der Abbau des Bürokratismus erfordere auch einen Abbau des Staates. Gewisse Anleihen aus Jugoslawien waren unverkennbar. Zweifelsohne wirkte auch die in Polen nach dem XX. Parteitag aufgeflammte Diskussion über ein neues Wirtschaftsmodell auf diese Oppositionsgruppe ein, deren Ideen den Liberman-Reformen weit vorausschossen. Behrens, der durch eine bemerkenswerte Theorie der Bürokartie Aufsehen erregte, griff den Stalinismus als eine neue Form des Preußentums an: „Die Auffassung, daß der Staat alles könne und daß jede, auch die privateste Angelegenheit staatlich geleitet oder kontrolliert werden müsse, ist nicht sozialistisch, sondern . preußisch', das heißt junkerlich-monopolistisch. Sozialistisch, das heißt marxistisch-leninistisch, ist die Auffassung vom Absterben des Staates in dem Maße, wie die sozialistischen Produktionsverhältnisse sich festigen und die kapitalistische Bedrohung unwirksam wird. Das aber bedeutet, daß die Selbstverwaltung der Massen im staatlichen Leben in der Selbstverwaltung der Wirtschaft ihre Ergänzung finden muß." Damit waren die Ansichten des Behrens-Kreises in wenigen Sätzen konzentriert.Schließlich bildete sich eine vierte Oppositionsgruppe im Zentralkomitee und Politbüro der SED. Sie wurde angeführt von Ulbrichts Stellvertreter Schirdewan, dem. sich der Chefideologe Oelßner, Staatssicherheitsminister Wollweber sowie die beiden höchsten Partei-technokraten — Selbmann und Ziller — anschlossen. Alle fünf traten erst nach dem XX. Parteitag zu Ulbricht in offene Opposition. Sie strebten eine Lockerung des Regimes, die Ablösung des Parteichefs, eine Vereinfachung der Verwaltung, einen unbürokratischeren Arbeitsstil der Partei, die Auflösung unrentabler Kolchosen, eine stärkere Förderung der Konsumindustrie sowie die nationale Wiedervereinigung durch Kompromisse beider Seiten an. Schirdewan behauptete später, während des XX. Parteitags mit Chruschtschow unter vier Augen gesprochen zu haben und von ihm in seiner Opposition gegen Ulbricht unter der Bedingung bestärkt worden zu sein, daß der Führungswechsel glatt verlaufe. Für Heinz Brandt steht außer Zweifel, daß Chruschtschow „damit einverstanden war, ja erstrebte, daß Karl Schirdewan zum Ersten Sekretär der SED aufrücke und ein neues Politbüro etabliere" Die neue Opposition im Zentralkomitee setzte sich schon unmittelbar nach dem sowjetischen Parteikongreß für eine begrenzte Entstalinisierung der DDR ein. Zum entscheidenden Konflikt mit Ulbricht kam es aber erst im November 1956, als Schirdewan seine Konzeption in einen „Bericht des Politbüros" an die 29. Tagung des Zentralkomitees der SED eingebaut hatte.

Das Jahr 1956 brachte also in Mitteldeutsch-land eine bis dahin unbekannte Ausbreitung und Verzweigung der innerparteilichen SED-Opposition, die jedoch so zersplittert war, daß sie außer einer Schärfung des politischen Bewußtseins kaum etwas zu erreichen vermochte. Weitgehend von der Bevölkerung isoliert, zehrte sie mehr vom Prozeß der osteuropäischen Revolution in Rußland, Jugoslawien, Polen und Ungarn als von den eigenen Kräften, produzierte aber Ideen, die zukunftsträchtig waren. Ihre außerparteiliche Hauptbasis stellten nun die Universitäten und Hochschulen dar. Infolge seiner zahlreichen Verbindungen zu diesen Institutionen ist der Harich-Kreis für Ulbricht eigentlich gefährlicher als Schirdewans Fraktion gewesen.

Rumänische Revolten In Rumänien spitzte sich die Situation im Oktober 1956 ebenfalls zu. Es soll Unruhen unter den Arbeitern und den Bauern gegeben haben. In vier Städten — Bukarest, Jassy, Klausenburg und Temeswar — kam es am 27. Oktober 1956 zu Studenten-und Jugenddemonstrationen Es ist nicht bekannt, ob sie auf den Straßen oder nur in den Universitäten stattfanden.

Die umfassendste Revolte gab es unter der ungarischen Minderheit, die nach der Volkszählung vom 21. Februar 1956 mehr als anderthalb Millionen Menschen umfaßte. Im nördlichen Teil Siebenbürgens, der nach dem Zweiten Weltkrieg von Ungarn an Rumänien zurückgegeben werden mußte, zeugten Versammlungen und Demonstrationen — in Timisoara, Tirgu-Mures und Cluj — für eine tiefe politische Gärung die auch die Kommunisten unter der ungarischen Minderheit ergriff. Noch nach dem 4. November, als die ungarische Revolution militärisch niedergeschlagen wurde, sollen sich „zum Teil hochgestellte Parteiintellektuelle der magyarisch-szeklerischen Volksgruppe zugunsten des Kabinetts Imre Nagy, sogar zugunsten der Wiedervereinigung Siebenbürgens mit Ungarn" eingesetzt haben. Die Folgen waren Säuberungen, Verhaftungen und die „Reorganisation" des autonomen Gebiets der Ungarn.

Es gab sogar Gerüchte — deren Wahrheitsgehalt nicht zu ermitteln war — über die Entwaffnung der rumänischen Armee durch sowjetische Truppen im Herbst 1956, damit sie den ungarischen Revolutionären nicht zu Hilfe eilen könne. Indes ist von aufrührerischen Stimmungen in solchen Einheiten der rumänischen Armee berichtet worden, die sich ganz oder teilweise aus Angehörigen der ungarischen Minderheit zusammensetzten Vermutlich sind diese Einheiten entwaffnet worden. Auch Bulgarien zitterte Im April 1956, zwei Monate nach dem XX. Parteitag der KPdSU, wurde der Stalinist Tscher-wenkofi als Ministerpräsident abgelöst. Die bulgarischen Reformkräfte faßten das als eine Ermutigung auf. Doch in Sofia hatte sich vorerst nur ein Personenwechsel vollzogen — das stalinistische System war geblieben. Ein Oppositionskreis an der Universität, dessen führender Kopf Professor Walkoff war, erlitt ein tragisches Schicksal: vier Beteiligte wurden erschossen

Die bulgarischen Studenten verlangten die Abschaffung des marxistisch-leninistischen Pflichtstudiums. Man ging gegen ihre „Rädelsführer" mit Verhaftungen vor.

Bei Warna an der Schwarzmeerküste wurde ein Zwangsarbeitslager gestürmt. Daraufhin setzte man Truppen ein

Neue Unruhen in der Tschechoslowakei Die Tschechoslowakei hatte mit ihren Unruhen in Pilsen vom 1. Juni 1953 das Signal für die zweite Etappe der osteuropäischen Revolution gegeben. 1956 regte sich hier besonders die Jugend, und es war gerade die kommunistische Jugend, von der die neuen Unruhen ausgingen. Am Prager pädagogischen Institut faßte die Vollversammlung der kommunistischen Jugendorganisation nach erregten Debatten eine Entschließung, in der die Presse wegen nicht-objektiver und tendenziöser Berichterstattung über den Westen kritisiert wurde. Die Störung ausländischer Sender, so wurde verlangt, müsse eingestellt werden. Die Einfuhr westlicher Zeitungen und Zeitschriften sei zu fördern, damit sich jeder Bürger der Tschechoslowakei ein selbständiges Urteil bilden könne. Im übrigen dürfe man Fehler und Mißstände der kommunistischen Staaten nicht länger vertuschen. In der Resolution hieß es: „ .,. kritiklos übernehmen wir alles, was es in der Sowjetunion gibt... Wir führen gewaltsam in das Leben unserer Nation Traditionen ein, die allein für die Sowjetunion typisch sind" Die Forderung nach Informationsfreiheit hatte also einen nationalkommunistischen Klang.

Die rebellischen Jungkommunisten verlangten auch harte Bestrafung aller Verantwortlichen für unrechtmäßige Gerichtsurteile. Da in der Vergangenheit oft die Gesetzlichkeit verletzt worden sei, müßten alle politischen Prozesse wiederaufgenommen werden. So wurde die Revision des Slansky-Prozesses aktuell

Die Resolution der kommunistischen Studenten des Pädagogischen Instituts der Prager Universität war kein Einzelfall. Im April und Mai 1956 fanden an fast allen Hochschulen und Universitäten der Tschechoslowakei erregte Versammlungen statt, die ähnliche Entschließungen faßten. Der Zusammenhang dieser Versammlungswelle mit dem XX. Parteitag war sehr deutlich. Sie wurde aber auch vom II. Kongreß der tschechoslowakischen Schriftsteller inspiriert. Die Schriftsteller hatten schon 1955 die Freiheit des künstlerischen Gestaltens verlangt. Daraufhin war ihnen geantwortet worden, daß die Kommunistische Partei Freiheit der Kunst nicht gestatten könne, weil sie sonst zum Aufbau des Sozialismus außerstande sei. Eine solche Selbstenthüllung des Stalinismus als kunst-und freiheitsfeindliches System war beispiellos. Auf dem II. Schriftstellerkongreß im April 1956 tat sich dementsprechend eine leidenschaftliche Erbitterung kund. Der Dramatiker Vasek Kana wies auf „Repressalien gegen ehrliche Menschen" und auf das Diktat „unsinniger Normen" in den Betrieben hin. Er sprach von „Organisatoren, die das Leben so organisiert haben, daß es sich nicht mehr leben ließ“

Unter den tschechischen Kommunisten regte sich eine aktivistische Strömung. Nicht weniger als 253 Parteiorganisationen, insbesondere Prags, haben 1956 die Einberufung eines außerordentlichen Parteitags gefordert

Die slowakischen Antistalinisten waren besonders aktiv. Miroslav Hysko, Direktor des zeitungswissenschaftlichen Instituts der Universität Bratislava, sprach später von massenweise verbreiteten Broschüren.

Albaniens Kommentare Der XX. Parteitag hatte auch in Albanien sein Echo, das jedoch sehr schnell wieder verklang. In Albanien wurde ebenfalls das Prinzip der kollektiven Führung beschworen. Es hieß jedoch, der Personenkult sei bereits 1954 durch die Trennung der Ämter von Partei-und Staatschef abgeschafft worden.

Hodscha verweigerte die Rehabilitierung des ehemaligen Innenministers Dzodse, den er 1949 unter der Anklage des Titoismus erschießen ließ und dem drei Mitglieder des Zentral-komitees ins Grab gefolgt waren. Er rehabilierte nur das durch Dzodse angeblich in den Selbstmord getriebene Politbüromitglied Spiro. So brachte die albanische Parteiführung ihre Abneigung gegen die sowjetische Wiederannäherung an Belgrad zum Ausdruck, die sie als unverzeihlichen Fehler empfand.

Es fanden sogar zwei neue Säuberungen stalinistischen Typs statt. Der ersten fielen die stellvertretende Ministerpräsidentin Jakova und der Kultusminister Spahiu zum Opfer, der zweiten der frühere Partisanengeneral Närel und das Gründungsmitglied der Partei Liri Gega. Damit war, wie in der Sowjetunion, auch in Albanien nahezu die gesamte alte Garde vernichtet. Doch die letzten Säuberungen fielen in dasselbe Jahr, in dem man in der UdSSR bereits mit der Rehabilitierung eines Teils der alten Garde begann. Was noch wenige Jahre vorher in Moskau begrüßt worden wäre, wurde nun dort verdammt. Offiziell schwieg der Kreml jedoch, denn man wußte sehr wohl, daß die Triebfeder des albanischen Handelns im Haß gegen Jugoslawien lag.

Albanien hatte von vornherein eine Sonderstellung unter den kommunistischen Ländern Osteuropas eingenommen. Sie wurde dadurch augenscheinlich, daß die Kommunistische Partei Albaniens als einzige dieses Bereichs nicht im Kominform vertreten war, und das nicht etwa, weil sie zu klein gewesen wäre, um der Ehre einer Mitgliedschaft würdig zu sein, sondern deshalb, weil sie in Moskau lange Zeit als Außenstelle des jugoslawischen Kommunismus galt. Stalin stimmte, wie wir von Djilas wissen, der Einverleibung Albaniens in den jugoslawischen Staatsverband zu. Allerdings nur solange, wie er sich der Ergebenheit Titos sicher wähnte. Als das nicht mehr der Fall war, trat er als Verteidiger der albanischen Unabhängigkeit gegenüber Belgrad auf. Die Eigenart der albanischen Situation bestand also bis 1948 darin, daß es kein Satellit der Sowjetunion, sondern Jugoslawiens war. Jugoslawische Vertreter nahmen als „Beobachter" an allen Konferenzen der Kommunistischen Partei Albaniens teil und gaben Instruktionen. Eine gemischte Aktiengesellschaft, ganz nach dem Muster der sowjetischen, beutete Albanien aus. Schließlich wurden sogar jugoslawische Truppen auf albanisches Territorium verlegt.

Den Kominform-Beschluß über den Ausschluß der Kommunistischen Partei Jugoslawiens empfand Hodscha deshalb zurecht als einen Akt der Befreiung des eigenen Landes und der eigenen

Partei vom jugoslawischen Joch. Tirana streifte seine Satellitenfesseln mit Hilfe Moskaus ab. Das war nirgendwo anders der Fall und erklärt zu einem Teil die albanische Treue gegenüber dem Andenken Stalins. Die Wieder-annäherung Moskaus an Belgrad mußte in Tirana auf Widerstand stoßen, denn sie konnte erneut die Gefahr, durch Jugoslawien aufgesaugt zu werden, für Albanien akut werden lassen. Wie übertrieben diese Befürchtung auch sein mag, wir müssen sie verstehen, um die objektive und historisch begründete Komponente der albanischen Haltung würdigen zu können. Übersprung auf Asien Nun sprang die osteuropäische Revolution auch auf Asien über. Ihre Ausläufer in diesem Kontinent erfaßten 1956 zwei von drei kommunistischen Staaten. Nur Nordkorea scheint verschont geblieben zu sein; dessen sind wir jedoch nicht ganz sicher, weil hier eine rigorose Pressezensur ausgeübt wird.

Nordvietnam In Nordvietnam ist es Ende 1956 zu Unruhen unter den Bauern gekommen. Sie flammten in der Heimatprovinz von Ho Tschi Minh auf. Nach dem Bericht eines ehemaligen Mitglieds der Vietminh-Bewegung namens Hoang Van Chi mußten zu ihrer Unterdrückung im November Truppen eingesetzt werden.

Anscheinend wirkte sich in Nordvietnam nicht allein der XX. Parteitag, sondern auch Maos Hundert-Blumen-Rede aus. Die Kommunistische Partei übte Selbstkritik, weil auch in ihr bis zu einem gewissen Grade Personenkult betrieben worden sei. Dieses Eingeständnis ermutigte die Intellektuellen zu einer Kritik des politischen Systems. Ho Tschi Minh wies ihre Befürchtung, daß der Marxismus-Leninis mus „die Entwicklung des Denkens und der Bildung behindern und einengen" könnte, als jeder Grundlage entbehrend schon im März 1956 zurück. Die Ideologie diene nicht abstrakten Idealen, sondern realen Interessen. Im August fügte er hinzu: „In der gegenwärtigen internationalen Lage werden die nationalen Besonderheiten und spezifischen Bedingungen in den einzelnen Ländern zu einem immer wichtigeren Faktor bei der Festlegung der Politik einer jeden kommunistischen und Arbeiterpartei"

Dieser Anspruch auf Selbständigkeit paßte jedoch nur schlecht mit der Formel zusammen, daß an der Spitze des kommunistischen Lagers „die Sowjetunion und China" stehe. Damit war zwar die UdSSR ihres alleinigen Führungsanspruches entkleidet, aber solange man sich überhaupt vor führenden Ländern verbeugte, konnte eine nationalkommunistische Politik nur insgeheim — hinter dem Rükken der Großen — betrieben werden.

Den Ergebnissen des XX. Parteitags der KPdSU stand Ho Tschi Minh, wie alle seine 1956 gehaltenen Reden erkennen lassen, skeptisch gegenüber, und zwar in bezug auf die Koexistenz und auf die Möglichkeit eines friedlichen Weges zum Kommunismus. Ohne Chruschtschow zu nennen, warf er ihm schon im April 1956 Einseitigkeit bei der Beurteilung Stalins vor: „Genosse Stalin hat zwar ernste Fehler begangen, man darf aber seine großen Verdienste um die revolutionäre Bewegung nicht vergessen." Die in Nordvietnam durchgeführte Entstalinisierung bestand einzig und allein in der Absetzung des Generalsekretärs der Partei, Truong Chinh, der als Sündenbock herhalten mußte.

China In Peking ist es 1956 zu keinerlei Veränderungen in der Führungsspitze gekommen. Trotzdem zog Mao Tse-tung viel weitergehendere Schlüsse als Ho Tschi Minh. Schon im März 1956 wurde in einem Dokument „Uber die historischen Erfahrungen der Diktatur des Proletariats" Stalins Entscheidung in der jugoslawischen Frage gerügt. In einem Leitartikel vom April hieß es, daß die von der KPdSU „an ihren Fehlern geübte kühne Kritik" den zutiefst prinzipiellen Charakter ihres innerparteilichen Lebens bezeuge. Das war diplomatisch klug und dennoch klar. Chruschtschow hätte nach Maos Meinung eine Selbstkritik der KPdSU statt nur eine Kritik an Stalin als einer Einzelperson vornehmen müssen. So waren auch seine Einwände gegen die Herabsetzung Stalins gemeint, die er im April, im Oktober und im November 1956 im Gespräch mit Mikojan und dem sowjetischen Botschafter in China vorgebracht hat. Die KPdSU sollte eine prinzipielle Kritik üben, statt sich oberflächlich in einem Angriff auf den Personen-kult zu erschöpfen, übrigens haben auch die Chinesen Stalin anfangs nicht geschont. Im gleichen Leitartikel war zu lesen, daß er seine eigene Rolle überschätzt, persönliche Willkür getrieben, die eigene Macht der kollektiven Leitung entgegengestellt, die Belange der Bauernschaft mißachtet, den Auseinanderfall von Theorie und Praxis zugelassen, den Personen-kult gefördert und sich Übergriffe gegen seine Gegner erlaubt habe. Wiederum wurde auch die „Fehlentscheidung in der Jugoslawien-Frage" erwähnt.

Vier Wochen später folgte ein weiterer Schritt. Es wird heute kaum noch beachtet, daß Mao seine Hundert-Blumen-Rede, die 1957 in veränderter und erweiterter Form veröffentlicht wurde, schon am 2. Mai 1956 in einer geschlossenen Sitzung des Obersten Staatsrats gehalten hat. Der ursprüngliche Wortlaut bleibt vorerst unbekannt. Dennoch haben verschiedene Seiten genug über den Inhalt der Rede und ihre wichtigsten Akzente zusammengetragen. Diese Akzente bestanden in einem neuen Verhältnis zum Marxismus und in einer weiteren Modifizierung der Koexistenz. Eigentlich ging ihr Sinn schon aus den beiden Losungen hervor, die Mao im Mai bekannt-gab. Die erste der Losungen hieß: „Laßt hundert Blumen miteinander blühen — laßt hundert Schulen streiten!" Die zweite Losung lautete: „Koexistenz auf lange Sicht und gegenseitige Kontrolle!"

Die „hundert Blumen" sollten das Ende der ideologischen Einförmigkeit bedeuten, die „hundert Schulen" standen für einen öffentlichen Wettbewerb der Ideen. Von nun an, so sagte Mao im Gegensatz zu Stalin, kann der Marxismus offen kritisiert werden, denn Pflanzen, die man in Treibhäusern zieht, sind meistens nicht widerstandsfähig. Sie müssen der Zugluft ausgesetzt werden. Nur im Widerstreit mit anderen Schulen des Denkens werden sie stark und immun. Der Marxismus sollte aufhören, sich administrativer Mittel zu bedienen, um alle anderen Ideen zu unterdrücken. Das zielte auf die von Chruschtschow vielbefehdete ideologische Koexistenz ab. Mao glaubte, daß die kommunistische Ideologie tief genug verwurzelt war, um sich dem Sturm des Meinungsstreites zu stellen.

Koexistenz auf lange Sicht hieß, daß die anderen Parteien der chinesischen Volksrepublik — die „Demokratische Liga", das „Revolutio-näre Komitee der Kuomintang", die „National-Demokratische Aufbauvereinigung", die „Demokratische Arbeiter-und Bauernpartei", die „Vereinigung zur Förderung der Demokratie", die „Gesellschaft des 3. September", die unter den Überseechinesen propagandistisch tätige „Chih Kung Tang" und die „Liga für die demokratische Selbstverwaltung Taiwans" —, obwohl sie ursprünglich nur bis zum „Aufbau des Sozialismus" bestehen sollten, ein vorerst unbefristetes Recht auf Weiterexistenz zugestanden erhielten. Strenggenommen verdient keine dieser Gruppen den Namen Partei, denn jede darf nur unter bestimmten Berufsgruppen werben, so daß man fast von einem ständischen Zug des kommunistischen Systems sprechen könnte. Die Kommunistische Partei beansprucht das Monopol für die Arbeiter und Bauern. Selbst der „Demokratischen Arbeiter-und Bauernpartei" wurde verboten, sich an diese beiden größten Bevölkerungsgruppen zu wenden; sie soll sich auf die Ingenieure, Techniker und Landärzte beschränken

Formell besteht ein Mehrparteiensystem, doch real herrschen nur die Kommunisten. Das formelle Mehrparteiensystem dient — wie in der DDR und Polen — der KPCh als Fassade, um ihre Allmacht weniger deutlich werden zu lassen. Doch in keinem anderen kommunistischen Land ist es so differenziert wie in China. In der Sowjetunion hat sich ein Machtsystem entwickelt, das keinerlei anderen politischen Gruppen Existenzrecht gewährt. Insofern verkörpert das Blocksystem der Volksdemokratien schon eine etwas aufgelockerte HerrschaftSform. Selbst das formelle Mehrparteienregime ist ein Fortschritt im Vergleich zur unverhüllten und schrankenlosen Parteidiktatur.

Unter dem Aspekt „gegenseitiger Kontrolle" sollten die in der „Nationalen Front“ mit der Kommunistischen Partei verbundenen acht Gruppen sogar in den Mechanismus der Macht eingefügt werden. Daß die Kommunisten die anderen Vereinigungen kontrollierten, war nichts Neues. Neu war jedoch das den acht Gruppen zugestandene Recht, die Tätigkeit der Kommunistischen Partei überprüfen und kritisieren zu dürfen. Wer bedenkt, daß Mao Tse-tung 1952 einen Feldzug gegen die Korruption unter seinen eigenen Leuten eröffnet hatte, wird die Ernsthaftigkeit dieser Erwägung nicht von vornherein bestreiten. Möglicherweise hoffte der chinesische Parteichef, daß ihm die anderen politischen Vereinigun-gen beim Ausleuchten der dunklen Winkel in seiner eigenen Partei helfen würden, ohne daß deren Macht in Gefahr geriet. Aus der gegenseitigen Kontrolle hätte ein Wechselspiel von Regierung und Opposition ohne Einführung des parlamentarischen Systems werden können. Das wäre eine echte Demokratisierung des Kommunismus gewesen und nicht nur eine Auflockerung des Systems im Sinne Chruschtschows.

Es kann nicht überraschen, daß die radikalen Reformer in den Kommunistischen Parteien Europas, z. B. Kolakowski in Polen und Harieh in der DDR, nachdem sie den wesentlichen Inhalt der Hundert-Blumen-Rede Maos erfahren hatten, mehr nach Peking als nach Moskau schauten. Es könnten sogar zwei sowjetische Namen genannt werden.

Die Aufmerksamkeit der Reformer steigerte sich bis zum Enthusiasmus, als die KPCh auf ihren VIII. Parteitag im September 1956 die Abschaffung aller Auszeichnungen für Parteimitglieder und die Begrenzung der Gehälter für alle hauptamtlichen Funktionäre beschloß. Hierbei deutete sich Maos Grundtendenz an, die isolierenden Wände niederlegen, die sich zwischen Partei und Volk herausgebildet hatten.

Gleichzeitig förderte er die Unabhängigkeitsbestrebungen in Osteuropa. Als sicher darf gellen, daß Peking auf Moskau eingewirkt hat, um die gewaltsame Niederwerfung des „polnischen Oktobers" durch sowjetische Truppen zu verhindern. Nach Alexandrow hat sich Chruschtschow nach langem Zögern zwar mit der Wiederwahl Gomulkas zum polnischen Generalsekretär abfinden wollen, aber nicht mit der Ausschaltung der Pro-Moskau-Gruppe im polnischen Politbüro, die aus Stalinisten bestand. Er habe in diesem Falle mit dem Bruch gedroht und sich erst nach Erhalt eines Telegramms von Mao — in dem verlangt worden sei, jede Gewaltanwendung in Warschau zu vermeiden — zum Nachgeben und zum Rückflug nach Moskau entschlossen Obwohl die Zuverlässigkeit dieser Darstellung bezweifelt werden kann, ist sie inzwischen durch Pekinger Erklärungen offiziell bestätigt worden, vor allem durch den chinesischen Kommentar vom September 1963 zu den Ereignissen in Polen und Ungarn: „Die Führung der KPdSU beging beide Male schwere Fehler. Die Führung der KPdSU setzte Truppen ein, um sich die polnischen Genossen mit Gewalt zu unterwerfen. Damit beging sie den Fehler des Großmacht-Chauvinismus. In dem kritischen Moment, als Budapest in die Hände der konterrevolutionären ungarischen Kräfte gefallen war, hatte die Führung der KPdSU einstweilen die Absicht, eine Kapitulationspolitik zu befolgen. . . . Die Führung der KPdSU nahm damals unsere Vorschläge an."

Das ist ein für die osteuropäische Revolution sehr wichtiges Dokument, ja eines ihrer Grundbuchblätter. Peking bestätigte, daß es Warschau schützte, während es Chruschtschow zum militärischen Eingreifen in Budapest drängte.

Aber anfangs haben sich die chinesischen Kommunisten, was sie heute nicht mehr wahrhaben wollen, auch für die Ungarn eingesetzl. Selbst die polnische Studentenzeitung „Po prostu" hat ihnen 1956 eine „antistalinistische Haltung in der Ungarntrage" bescheinigt. Doch plötzlich schlug ihre Haltung ins Gegenteil um.

Den Grund wird man weniger im Verlauf der ungarischen Revolution als in der innenpolitischen Entwicklung Chinas suchen müssen. Während des ungarischen Oktobers blühten ja „hundert Gedankenschulen" auf. Es entstand auch die Grundlage einer langfristigen Koexistenz der politischen Kräfte unter gegen-seitiger Kontrolle. Maos Hundert-Blumen-Rede und die Ereignisse in Ungarn verhielten sich wie Theorie und Praxis zueinander.

Die osteuropäische Revolution blieb aber nicht auf Osteuropa beschränkt. Ihr neuer Ausbruch erfolgte fast gleichzeitig in mehr als einem halben Dutzend kommunistischer Staaten. Die beispiellose, alle Grenzen sprengende und Kontinente überbrückende Kraft dieser Revolution zeigte sich besonders an der Gleichzeitigkeit des Bauernaufstands in Nordvietnam und der ungarischen Erhebung. Es gab keinen „Drahtzieher", der die Rolle eines Koordinators spielen konnte, und doch erhoben sich die Rebellen in verschiedenen Ländern und Kontinenten wie auf Kommando.

Aus den Reden der chinesischen Prominenz und aus den Dokumenten der KPCh geht hervor, daß es in China bis September 1956 ruhig war. Auf einer Sitzung des Zentralkomitees, die im Januar stattfand, rühmte Tschu En-lai die Fortschritte der kommunistischen Erziehung unter der Intelligenz. Sie unterstütze die Kommunistische Partei schon zu 80 n/o. Eine „wachsende Macht innerhalb der Intelligenz" bildeten diejenigen die bereits die Universitäten der Volksrepublik besucht hatten. Ähnlich optimistisch war man noch auf dem VIII. Parteitag im September 1956. Aber im Februar 1957 gab Mao zu: „Im Jahre 1956 traten an vereinzelten Stellen kleine Gruppen von Arbeitern und Studenten in Streik. ... Im gleichen Jahr gab es unter den Mitgliedern einer kleinen Anzahl landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften ebenfalls Unruhe."

Selbst wenn man die Verniedlichung außer acht läßt, die aus dem Wörtchen „klein" hervorlugt — bei einer Bevölkerung von damals 600 Millionen Menschen haben alle Größenverhältnisse eine andere Relation als in Europa —, fällt immer noch auf, daß Arbeiter, Studenten und Bauern in China gleichzeitig rebellierten, offenbar auch zum selben Zeitpunkt wie in Ungarn und Nordvietnam. Bedeutsam ist ferner, daß Mao die Ursache der Unruhen nicht in konterrevolutionären Umtrieben suchte, sondern im „bürokratischen Verhalten von Persönlichkeiten in führenden Positionen" Seine innenpolitische Konsequenz bestand hauptsächlich darin, daß er auf einen Beschluß des Zentralkomitees drängte, der alle bezahlten Funktionäre bis hinauf zu den Ministern und Generälen verpflichtet, jährlich eine bestimmte Zeit körperliche Arbeit zu leisten, damit sie die Lebensbedürfnisse des Volkes kennenlernen und sich von ihrer bürokratischen Verkrustung befreien. Dieser Beschluß fand in vielen Kommunistischen Parteien ein lebhaftes und begeistertes Echo.

Im Dezember 1956 zog die chinesische Führung auch die theoretischen Konsequenzen der revolutionären Ereignisse im kommunistischen Herrschaftsbereich. Eine Erklärung — „Nochmals über die historischen Erfahrungen der Diktatur des Proletariats" — sprach erstmals von Widersprüchen „zwischen der Regierung und dem Volk" zwischen den kommunistischen Parteien und zwischen den kommunistischen Staaten. Das war ein Bruch geheiligter Tabus. Solche Widersprüche waren ; — speziell in der Sowjetunion — bis dahin nicht nur niemals offen zugegeben worden, man hatte sie auch für unmöglich erklärt. Sogar die Jugoslawen drückten sich gewunden aus. Der dialektische Materialismus hatte das kommunistische System, die Beziehungen zwischen den Kommunistischen Parteien und das Verhältnis der kommunistischen Länder in den Himmel metaphysischer Ruhe und glückseliger Harmonie gehoben — er war zu einer Antidialektik geworden. Diesem Zustand machte Mao ein Ende.

Ausläufer im Westkommunismus Die Kommunisten der westlichen Welt, insbesondere Westeuropas, hielten bis 1956 fester als die Osteuropas zur UdSSR. Sie standen nicht unmittelbar unter dem Druck der sow je-tischen Politik. Viele dieser Kommunisten glaubten ehrlich daran, daß Rußland ein sozialistischer Staat sei und den Volksdemokratien uneigennützige Hilfe leiste. Sie wollten es freilich auch glauben. Die jugoslawischen Enthüllungen über Stalins Verbrechen und über die Verhältnisse in der Sowjetunion fanden in den Kommunistischen Parteien des Westens auffallend wenig Gehör. Selbst in der KPD, die der Zerreißprobe des 17. Juni ausgesetzt war, blieb alles beim alten, wenn man von einer Anzahl Austritte absieht. Das bürokratische Phlegma hatte die Kommunistischen Parteien wie eine Fettschicht durchwachsen. Selbst zur Spaltung schienen sie zu faul zu sein. Das änderte sich erst nach dem XX. Parteitag. Folgen des sowjetischen Parteitags Es war bedeutsam, daß ausgerechnet Palmiro Togliatti das Wort ergriff. Ihn umgab ein doppelter Glanz — einer der höchsten Komintern-funktionäre gewesen zu sein und nunmehr die stärkste Kommunistische Partei des Westens zu führen. Kein anderer kommunistischer Parteichef in unserem Teil der Welt hätte mit seinem Ansehen in Wettbewerb treten können. Er war eigentlich nur mit Tito vergleichbar.

Togliatti nahm als Delegationsleiter der italienischen Partei am XX. Parteitag in Moskau teil. Er soll Chruschtschow, der ihn vertraulich über seine Absichten informierte, vor den unübersehbaren Folgen der Zerstörung des Stalin-Mythos gewarnt haben. Aber kaum nach Italien zurückgekehrt, gab er einer Zeitschrift seih inzwischen weltbekanntes Interview. Togliatti verteidigte die Sowjetunion, die nach wie vor das erste große Modell einer konsequent revolutionären Aktion zur Verwirklichung des Sozialismus sei und durch Stalins Politik durchaus nicht ihren sozialistischen Charakter eingebüßt habe; er zeigte sich aber darüber unbefriedigt, daß man alle Schuld dem Personenkult gab: „Früher war alles Gute den übermenschlichen positiven Eigenschaften eines Mannes zu verdanken, jetzt wird alles Schlechte seinen ebenso außergewöhnlichen, ja unglaublichen Fehlern zugeschrieben. Im einen wie im anderen Falle befinden wir uns außerhalb marxistischer Kriterien." Der italienische Parteichef führte den Stalinismus auf die Überlagerung kollektiver Instanzen durch die Herrschaft eines einzelnen zurück. Das Ergebnis sei gewesen, daß ein großer Teil der sowjetischen Führungskader ihre kritische und schöpferische Fähigkeit verlor, der Staat kriminelle Taten beging und das demokratische Leben eingeengt wurde, so daß der soziale Organismus zu faulen begann.

„Für uns steht außer Zweifel, daß die Fehler Stalins mit dem zunehmenden Gewicht zusammenhingen, das die bürokratischen Apparate im wirtschaftlichen und politischen Leben der Partei gewonnen haben." 158a) Das werfe die Frage nach der Mitverantwortung der gesamten politischen Führungsgruppe in der Sowjetunion auf, die sich bei der Verherrlichung Stalins zumindest etwas mehr hätte zurückhalten können.

Zur Frage einer evtl, erforderlichen institutioneilen Veränderung führte er aus, man brauche zwar nicht das ganze System abzuschaffen, aber zweifellos müßten innerhalb dieses Systems tiefgreifende Umgestaltungen vorgenommen werden, um in Zukunft die Beteiligung der Arbeiterschaft an der Leitung des wirtschaftlichen und sozialen Organismus zu garantieren.

Togliatti zog vier Schlüsse. 1. Das sowjetische Modell könne außerhalb der UdSSR nicht mehr verbindlich sein, 2. die innere Vielfalt des Kommunismus mache eine einheitliche Führung unmöglich, 3. eine immer größere Autonomie des Urteils sei wünschenswert, 4. die Aufgabe der italienischen Kommunisten werde darin bestehen, „eine eigene Methode und einen eigenen Weg zum Sozialismus" zu finden. Vielfach ist von Togliattis Interview nur der Begriff des Polyzentrismus im Gedächtnis haften geblieben, und selbst er wurde willkürlich interpretiert. In seinem originalen Sinn bezog er sich nicht auf die Herausbildung verschiedener Zentren des Kommunismus, sondern auf dessen wachsende Vielfalt, die eine Komintern oder ein Kominform nicht mehr erlaube. Zumindest ebenso wichtig waren die Ansprüche auf geistige Autonomie und auf einen eigenen Weg zum Sozialismus — so hatte ja auch der jugoslawische Nationalkommunismus begonnen. Wichtig war ferner, daß Togliatti ebenso wie Tito die Ursachen des Stalinismus im sowjetischen System zu suchen begann. Seine Forderung nach Leitung der sowjetischen Wirtschaft und Gesellschaft durch die Arbeiter enthielt die Idee der Arbeiterräte und warf die Frage auf, wer in der Sowjetunion an der Macht war.

Das sowjetische Parteipräsidium fühlte sich durch Togliattis Interview derart brüskiert, daß es eine spezielle Stellungnahme des Zentralkomitees der KPdSU für nötig hielt. In ihr wurde die Mitverantwortlichkeit der Mitglieder des Stalinschen Politbüros bestritten. Einige „Einschränkungen" der Demokratie, die in der Stalinzeit notwendig gewesen seien, um „feindselige Strömungen" in der Kommunistischen Partei zu beseitigen, wären kein Grund, um eine Änderung des sowjetischen Systems zu verlangen. Den Stalinismus führten die Verfasser des Kommuniques, das Togliatti namentlich nannte, wiederum auf die persönlichen Eigenschaften Stalins zurück.

Damit war klar, daß Chruschtschow keine Strukturreform der UdSSR einleiten, sondern den in der Sowjetunion jahrzehntelang aufgestauten Haß auf Stalins Leiche abwälzen wollte. Das Ergebnis sollte ein Freispruch der Kommunistischen Partei und die Neustabilisierung ihres Machtmonopols sein. Nur die Herrschaftsform, nicht das System sollte geändert werden. Deshalb waren für Chruschtschow alle Kommunisten gefährlich, die wie Togliatti nach den Ursachen des Personenkults fragten. Wenn ihre Haltung um sich griff, konnte die KPdSU zu Reformen gedrängt werden, die sie nicht vorgehabt hatte.

Für das sowjetische Parteipräsidium war es vorteilhaft, daß Togliatti unter den kommunistischen Parteiführern der westlichen Hemisphäre vorerst isoliert blieb. Nur in der Kommunistischen Partei der Niederlande äußerte sich eine starke Gruppe in ähnlichem Sinne; Ende 1956 bildete sie unter Führung von Brug eine eigene Fraktion, die sich jedoch nicht von der Partei abspaltete.

In der Kommunistischen Partei Schwedens nahmen die Dinge einen anderen Lauf. Hier sagte sich eine starke Gruppe von Moskau los, weil Stalin zu Unrecht verdammt worden sei.

Folgen der Intervention in Ungarn Das Eingreifen sowjetischer Truppen in Ungarn führte zu einer psychologischen Erschütterung der öffentlichen Meinung des Westens, die auch den westlichen Kommunismus berührte. Innerhalb eines Jahres erlebte er seinen zweiten Schock, der noch tiefer als der erste wirkte. Konnte der XX. Parteitag von den Kommunisten im Westen vor der Bevölkerung ihrer Länder so gedeutet werden, daß die KPdSU mit den Methoden der Vergangenheit brach, so entwertete die Niederwalzung der ungarischen Revolution dieses Argument bereits wieder.

Nach meiner Schätzung verlor allein der westeuropäische Kommunismus wegen der sowjetischen Intervention in Ungarn mindestens 250 000 Mitglieder. In Italien, Frankreich und Dänemark sagten sich jeweils 10— 20 °/o aller Kommunisten von ihren Parteien los. In Norwegen traten 3000, in Dänemark 4000, in Finnland 5000 Mitglieder aus den kommunistischen Parteien aus. In Island und Dänemark legten die Vorsitzenden der Freundschaftsgesellschaften mit der Sowjetunion, Laxness und Bendten, ihre Ämter nieder. In Schweden gaben kommunistische Intellektuelle und Gewerkschaftssekretäre öffentliche Erklärungen gegen die Sowjetunion ab. Die Kommunistische Partei Norwegens empfahl Chruschtschow und Kadar, Beobachter der UNO nach Ungarn zu lassen

Am stärksten machte sich die Empörung über die militärische Intervention unter den kommunistischen Journalisten bemerkbar. Die Redakteure des englischen „Daily Worker" standen vor der Tür ihres Chefredakteurs „geradezu Schlange, um ihm ihren Rücktritt mitzuteilen" fast die Hälfte der Redakteure, unter ihnen die Korrespondenten in Budapest und Warschau, gaben ihren Posten auf. Von den 21 Redaktionsmitgliedern des Zentralorgans der dänischen Kommunisten wiesen 16 in einer gemeinsamen Stellungnahme die sowjetische Politik in Ungarn zurück.

Was in den osteuropäischen Staaten — ausgenommen Jugoslawien und Polen — nur geflüstert werden durfte, konnte von den westlichen Kommunisten offen ausgesprochen werden, soweit sie schon die Möglichkeit kritischer Äußerungen in ihren Zeitungen hatten. Es ist wesentlich aut das Drängen und den Einfluß der kommunistischen Journalisten zurückzuführen, daß die Zentralorgane der Kom

8. Die vierte Phase: 1957— 1959

Abbildung 1

Die vierte Phase war eine Zwischenetappe der osteuropäischen Revolution, in der sie auf vielen Gebieten zurückgedrängt wurde und fast aus dem Blickfeld verschwand. Es kam zu einer neuen Verhärtung der kommunistischen Systeme. Die Rückgriffe auf Stalins Methoden gegenüber Ungarn und Polen ließ viele Stalinisten wieder hoffen, da die Niederschlagung der ungarischen Volkserhebung das Ende der osteuropäischen Revolution schlechthin zu bedeuten schien.

Aber dieser Schein war trügerisch. Zwar folgte der Flut tatsächlich zunächst eine Ebbe, jedoch nur für sehr begrenzte Zeit. Die Tendenz zur Restalinisierung verquickte sich schließlich mit dem Untergründigen Fortschreiten der osteuropäischen Revolution, die auch hier und da wieder an die Oberfläche trat. Freilich wich sie von ihrem Kerngebiet an die Peripherie nach Asien und Westeuropa aus. Innerhalb Ost-europas schritt sie nur in Jugoslawien ungehindert fort. Das Wichtigste ist jedoch, daß auch die Sowjetunion ihr „Posen" erlebte. Schon vorher bildete sich dort eine neue Ebene der Entstalinisierung heraus.

Die geistigen Auseinandersetzungen jener Jahre — auch in Polen und Ungarn — waren für die weitere Entwicklung Von derart großer Bedeutung, daß wir ihrer Darstellung größeren Raum als der offiziellen Politik der Kommunistischen Parteien widmen müssen. Sie nahmen die Zukunft voraus und enthüllten jene konträren Tendenzen, die für viele Kommunisten schicksalhaft werden sollten. In den Kommunistischen Parteien vollzog sich eine zwar meist noch nicht politische, aber doch eine geistige Spaltung. In vier Fällen brachen sie jedoch auch politisch entzwei. munistischen Parteien des Westens ab 1956 teilweise zu Diskussionsforen wurden, statt weiterhin nur die Stereotypen der jeweiligen „Linien" zu drucken. Togliattis Interview und diese Diskussionen waren die Ansätze der Entstalinisierung des Westkommunismus. Ihren Ausgangspunkt bildete die vom Feuilletonisten der norwegischen Parteizeitung öffentlich gestellte Frage, ob die Loyalität gegenüber der Sowjetunion weiterhin das Kriterium des politischen Bewußtseins der Kommunisten sein könne

Chruschtschow zwischen Molotow und Dudinzew Die beiden gegensätzlichen Tendenzen der vierten Phase zeichneten sich am verwirrendsten in der Sowjetunion ab.

Das Eingreifen sowjetischer Truppen in Ungarn hatte zu heftigen Diskussionen an den sowjetischen Hochschulen und Universitäten geführt. Chruschtschow griff zu offenen Drohungen gegenüber den Studenten: „Wenn Ihr mit der Regierung unzufrieden seid, braucht Ihr die Universität nur zu verlassen und arbeiten zu gehen! Wir haben in den Kolchosen Asiens und in den Bergwerken Sibiriens genügend Arbeitsplätze ..." Das waren keine leeren Worte. Allein in Leningrad wurden — laut „Komsomolskaja Prawda“ vom 18. März 1958 — 4300 Studenten von den Hochschulen und Universitäten verwiesen. Etwa 3000 Studenten aus Moskau, Leningrad und Kiew sind verhaftet und wegen „Staatsverbrechen" vor Gericht gestellt worden. Im Arbeitslager Potjma 7 lebten sie ausgerechnet mit den jungen Prostalinisten Georgiens zusammen, die man ebenfalls abgeurteilt hatte

Eine junge Deutsche, die damals in der Sowjetunion studierte und als Kommunistin kurz danach in die DDR zurückging, schmuggelte Trotzkis Buch „Stalins Verbrechen" über die Grenzen — eine Schrift, die unter den russischen und ausländischen Studenten von Hand zu Hand ging. Nach dem Bericht dieser deutschen Studentin breitete sich an den sowjetischen Universitäten die Meinung aus, daß die alten stalinistischen Apparatschiki leben, während die guten Kommunisten tot sind. Die junge Kommunistin bildete einen oppositionellen Zirkel innerhalb der SED, in der das Studium der Trotzki-Schrift fortgesetzt wurde. Es ist denkbar, daß jugendliche Kommunisten anderer kommunistischer Länder ähnliche Impulse aus Moskau oder Leningrad mitgebracht haben.

Symptome der Rcstalinisierung Chruschtschow rief auch eine Anzahl der prominentesten sowjetischen Schriftsteller zusammen und erklärte ihnen, daß er nicht zögern werde, einige Schriftsteller erschießen zu lassen, falls das nötig sei, um eine Revolution in Rußland nach ungarischem Vorbild zu verhindern.

Vor Künstlern sagte der Parteichef, was Kunst sei, bestimme nach wie vor die Partei.

Schon am 17. Januar 1957 begann er mit einer Abschwächung seiner Verurteilung Stalins, der trotz gewisser Fehler und Irrtümer „ein vorbildlicher Kommunist" gewesen wäre. Vor Studenten lobte Chruschtschow Stalin deshalb, weil er sich gut aut die Vernichtung von Feinden verstanden hätte: „In diesem Sinne bin ich auch ein . Stalinist'. Niemals werde ich zögern, Gewalt anzuwenden, um Lenins Werk zu retten." Er wurde vom stellvertretenden Generalstaatsanwalt der Sow jetunion, Kudrjawzew, sekundiert, der einem amerikanischen Juristen freimütig erklärte: „Wenn es notwendig ist, werden wir die alten Methoden wieder einführen." In der theoretischen Zeitschrift der KPdSU erschien ein von drei Autoren gezeichneter Artikel, in dem es hieß: „Die Ansichten Stalins zur Frage des Staates und der Diktatur des Proletariats haben den Standpunkt des Marxismus-Leninismus zum Ausdruck gebracht."

Am 16. Juni 1957 wurden zehn von 13 Redakteuren der Zeitschrift „Geschichtsprobleme" gemaßregelt, weil sie „nur die Irrtümer Stalins" kritisiert, die „gegenwärtigen revisionistischen Tendenzen" verschwiegen, eine objektive Beurteilung von Bakunin, Kautsky und Lassalle versucht und eine klare Stellungnahme zum „faschistischen Charakter der ungarischen Revolution" vermieden hätten. Die drei übriggebliebenen Redakteure gelobten, Stalins Werk nach wie vor als „entscheidend" zu betrachten. Besonders heißer Zorn ergoß sich über den (abgesetzten) Chefredakteur Burdschalow, weil er Sinowjew gelobt hat.

Im Jahre 1959 wurde auch die Redaktion der philosophischen Zeitschrift umbesetzt. Sie hatte sich vorübergehend mehr mit den inneren Widersprüchen der Sowjetunion als mit einer Analyse der „Prozesse, die in der kapitalistischen Welt vor sich gehen befaßt.

Zwischen diese beiden Eingriffe fiel 1958 die Hexenjagd auf den Dichter und Schriftsteller Boris Pasternak, der (und weil er) für seinen Roman „Doktor Schiwago" den Nobelpreis erhielt. Man scheute sich nicht, Pasternak in der Parteipresse „schlimmer als ein Schwein" zu nennen und seine Ausweisung aus der Sowjetunion zu fordern.

Auch die Russifizierungspolitik gegenüber den nationalen Minderheiten wurde wieder aufgenommen. Sie setzte mit Verurteilung des Freiheitskampfes der kaukasischen Berg-völker gegen den Zarismus als „reaktionäres Unternehmen" ein. Im Januar 1959 gab die „Prawda" zu erkennen, daß Russisch zur „Muttersprache" aller Bürger der Sowjetunion werden müsse. Das war im gleichen Monat, als Chruschtschow auf dem XXL Parteitag der KPdSU ausdrücklich hervorhob, daß an der Spitze des erfolgreichen Sowjetkommunismus „viele Jahre J. W. Stalin stand"

Auch außenpolitisch suchte Chruschtschow das gewaltige Echo des XX. Parteitags abzuschwächen. In Prag ließ er verlauten, daß spezifische Besonderheiten der einzelnen Länder keine speziellen Wege zum Kommunismus rechtfertigen würden, und in Sofia, daß keine zwei Arten von Sozialismus bestünden: Ungeachtet der Besonderheiten gebe es nur einen, den marxistisch-leninistischen Weg. Mit dieser Relativierung einer der wichtigsten Thesen des XX. Parteitags sollte weiteren Seitensprüngen in Osteuropa vorgebeugt werden. Sie war sogar als Widerruf der Belgrader Deklaration vom Mai 1955 aufzufassen. Tatsächlich bahnte sich ein neuer Konflikt mit Jugoslawien an, das zunächst in den Ostblock zurückzukehren schien. Belgrad entsandte auch Vertreter zur internationalen Konferenz der Kommunistischen Parteien nach Moskau. Der jugoslawische Chefdelegierte Kardeij machte jedoch gemeinsam mit Gomulka und Kaclar den sowjetischen Plan einer neuen Komintern zunichte. Außerdem weigerte er sich, einer Erklärung aller regierenden Kommunistischen Parteien zuzustimmen, die nicht den (stalinistischen) Dogmatismus, sondern den (nationalkommunistischen) Revisionismus als Hauptgefahr der kommunistischen Bewegung bezeichnete. Als Belgrad im Frühjahr 1958 den Entwurf eines neuen Parteiprogramms der KPJ publizierte, wurde dieser sowohl von Moskau als auch von Peking mißbilligt und getadelt. Chruschtschow warf den jugoslawischen Führern auf dem V. Parteitag der SED im Jahre 1958 vor, daß ihr Programm keine Spur von Kommunismus enthalte, sondern eine „verschlechterte Variante" sozialdemokratischer Plattformen sei. Peking klagte Belgrad des „Neo-Bernsteinismus" an und bezeichnete die Verurteilung der jugoslawischen Kommunisten durch die Resolution des Kominform vom 8. Juni 1948 „im wesentlichen für richtig". Sie hätten „während der Ereignisse in Ungarn die Clique des Verräters Nagy unterstützt" und unter dem Vorwand des Stalinismus „die Einheit der Länder des sozialistischen Lagers zu sprengen" versucht. Es gab also eine Allianz Moskaus und Pekings gegen Belgrad, obwohl sich Mao Tse-tung schon im März 1956 gegen die neuen Thesen des XX. Parteitags der KPdSU ausgesprochen hatte.

Das Neuaufleben des Konflikts mit Belgrad war von einer verstärkten Aktivität Moskaus im Comecon begleitet. Im Mai 1958 wurde die Koordinierung der Wirtschaftspläne zur „Hauptform" für die wirtschaftliche Zusammenarbeit der kommunistischen Länder Europas erklärt. Dies bedeutete den Versuch, die Wirtschaftspläne zu einem System allseitiger Abhängigkeit der Volksdemokratien von der Sowjetunion zu verflechten. Chruschtschow nahm Stalins Hegemoniepolitik wieder auf.

Auf der anderen Seite traten zwischen 1957 und 1959 wichtige Veränderungen in der UdSSR ein.

Erneute Zusammenballung der Macht Das wichtigste politische Ereignis auf der offiziellen Ebene war die Entmachtung der Molotow-Malenkow-Gruppe. Molotow und Ma-lenkow, nach Stalins Tod ursprünglich Verfechter entgegengesetzter Konzeptionen, hatten sich gegen Chruschtschow verbündet, um seinen Reformkurs zu bremsen. Es war ihnen gelungen, die Mehrheit des Parteipräsidiums, das an die Stelle des früheren Politbüros getreten war, zu gewinnen. Am 18, Juni 1957 beschloß das Präsidium, Chruschtschow seiner Funktion als Ersten Sekretär der KPdSU zu entheben — der neue Parteichef sollte Molotow heißen. Das Verhältnis stand 7 : 4 gegen Chruschtschow, der jedoch unverzüglich darauf bestand, daß ein so wichtiger Beschluß nur von einer Vollversammlung des Zentral-komitees gefaßt werden könne. Mit Hilfe von Marschall Schukow, der Flugzeuge der Luftwaffe zur Verfügung stellte, wurden Chruschtschows Anhänger aus allen Teilen der Sowjetunion eilends nach Moskau geholt. Binnen kurzer Zeit hatte Chruschtschow 107 Mitglieder des Zentralkomitees zusammengezogen. Die Vollversammlung entfernte Molotow, Malenkow und Kaganowitsch aus Präsidium und Zentralkomitee. Später wurden auch Bulganin, Woroschilow, Perwuchin und Saburow ihrer Spitzenfunktionen enthoben. Am schmerzvollsten für Chruschtschow war, daß sich sogar sein Günstling Schepilow der konservativen Fraktion angeschlossen hatte. Von den Vollmitgliedern des Parteipräsidiums waren ihm nur Mikojan, Kiritschenko und Suslow zur Seite getreten. Selbst seine große Anhängerschaft im Zentralkomitee konnte ihn über die Unstabilität seiner Macht nicht länger täuschen. Außerdem waren einige Argumente seiner Gegner — etwa, daß er durch seine Enthüllungen über Stalin das moralische Kapital der KPdSU in der internationalen Arbeiterbewegung vergeudet habe — nicht ohne Zugkraft. Unter diesen Umständen brauchte Chruschtschow dringend Unterstützung im Volk. Gleichzeitig mußte er die Hauptbasen seiner Gegner, den zentralen Staatsapparat und die obersten Wirtschaftsorgane, so weit wie möglich schwächen. Das sind ohne Zweifel zwei wichtige, wenn nicht die entscheidenden Motive seiner Reformen gewesen, die in die Jahre 1957— 1959 fallen. Hier liegt wohl auch die Erklärung für den Widerspruch jener Periode, in einem Atemzug die Entstalinisierung zu stoppen und zu forcieren. Immer waren es Chruschtschows Gegner, die ihn weitertrieben, als er eigentlich wollte. Alle seine Erwägungen spielten sich offensichtlich in den Denkkategorien der Macht und des Kräf-teverhältnisses ab. Nur so ist auch die 25prozentige Reduzierung des Parteiapparats zu verstehen. Chruschtschow wollte sich innerhalb seiner eigenen Machtbasis aller unsicheren Kantonisten, das heißt aller Anhänger seiner innerparteilichen Gegner und Rivalen, entledigen. Das schwächte keineswegs die Macht des Parteiapparats. Dessen Einfluß wurde in der Chruschtschow-Ära vielmehr ständig erweitert. Beispielsweise stieg die Zahl seiner hauptamtlichen Vertreter innerhalb des Parteipräsidiums, das alle Mächtegruppen repräsentieren soll, von einem im März 1953 auf neun im Dezember 1957 an

Das entscheidende Zentrum der Partei in kommunistischen Ländern ist nicht das Politbüro oder Präsidium, sondern immer das Sekretariat des Zentralkomitees. Der Umfang seiner Vertretung im Politbüro oder Präsidium kann als Maßstab der jeweiligen Parteimacht gelten. Absolut ist sie nie. Staat, Armee, Sicherheitsdienst und Wirtschaft erlangen mit der Zeit ein tendenziell immer größer werdendes Eigengewicht, das zur Herausbildung spezifischer Interessen führt. Die Gesamtheit dieser Machtfaktoren und der Kommunistischen Partei bildet das kommunistische System, das keineswegs mit der Gesellschaft insgesamt zusammenfällt. Und innerhalb dieses Systems kommt es ständig zu einer Verschiebung der Kräfte. Was sich in der osteuropäischen Revolution als Gesamtprozeß abspielt — nämlich der Konflikt zwischen Gravitation und Zentrifugalkraft —, geht im kleineren Maßstab auch innerhalb eines jeden kommunistischen Systems vor. In jedem kommunistischen Land sind formell parteigebundene Fliehkräfte wirksam. Deshalb beobachten die Kommunistischen Parteien außerordentlich mißtrauisch die geringsten Anzeichen jeder Verselbständigung von Institutionen, die vielfach ihrer eigenen Initiative entsprangen, was innerhalb dieser Institutionen als Beweis mangelnden Vertrauens empfunden wird.

Die Entmachtung der Molotow-Malenkow-Fraktion war mit einer Verstärkung der Parteikontrolle über Staat und Wirtschaft verbunden. Dann wurde die Parteischraube innerhalb der Armee angezogen. Im Oktober 1957 verlor Marschall Schukow seine Mitgliedschaft in den höchsten Parteikörperschaften und sein Amt als Verteidigungsminister; er war als potentieller Bonaparte verdächtigt worden.

Man warf ihm insgeheim Widerstand gegen die politische Erziehung der Armee und Personenkult vor: er hatte sich ein Porträt in Lebensgröße anfertigen lassen.

Im März 1958 übernahm Chruschtschow auch das Amt des Ministerpräsidenten, von dem er Bulganin ebenso verdrängte wie vorher Malenkow. Damit war er Staats-und Parteichef zugleich. Die „kollektive Führung" hatte sich wiederum, wie schon unter Stalin, nur als Übergangsphase bewährt. Abermals konzentrierte sich die Macht in den Händen einer Person. Chruschtschow führte den Personen-kult, diesmal um sich selbst, wieder ein. Wie bei Stalin wurde es jetzt üblich, hinter die Nennung seines Namens das Wort „persönlich" zu setzen. Alles, was geschah, war, wie es beispielsweise in der „Prawda" vom 18. Mai 1959 hieß, dem „Ersten Sekretär der KPdSU und Oberhaupt der Sowjetregierung, dem Genossen Nikita Sergej. ewitsch Chruschtschow persönlich" zu verdanken. Schon das Wort „Oberhaupt" erübrigte im Grunde jeglichen Kommentar. Nur hatte Chruschtschow durch seine Enthüllungen über die Stalinzeit den Unfehlbarkeitsanspruch der Partei selber zerstört. Das erwies sich als eine Begrenzung seiner realen Macht, die er nicht zu überwinden vermochte. Insofern war sein Narzißmus ungefährlicher als derjenige Stalins; er entwickelte sich auch weit weniger in die Breite und Tiefe. Dennoch war das Wiederaufkeimen des Personenkults ein wichtiges Merkmal dieser Phase. Es blieb nicht auf die Sowjetunion beschränkt.

Die Reformen Im Juli 1957 wurde die Industrieverwaltung dezentralisiert. Obwohl diese Reform nur eine entfernte Ähnlichkeit mit der jugoslawischen Dezentralisierung hatte, kam eine einschneidende Umbildung der Regierung zustande. Die meisten Fachministerien verschwanden und ihre Vollmachten gingen auf 105 regionale Wirtschaftsräte über. Das war ein erster Schritt von der Total-zur Rahmenplanung. Er erlaubte eine bessere und unbürokratischere Ausnützung der regionalen Reserven, verwirrte aber auch die Zuständigkeiten. Da ein Teil der Industrie weiterhin unter zentraler Leitung verblieb und ein anderer den örtlichen Behörden unterstellt worden war, liefen die Fäden der drei Kompetenzen fast ständig durcheinander. Außerdem wurde den einzelnen Industrieunternehmen weiterhin die Autonomie vorenthalten. Dem ersten Schritt muß17 ten daher entweder weitere folgen oder es blieb nur die Alternative der zentralistischen Restauration. Die tiefere Bedeutung der Industriereform bestand tatsächlich darin, „daß sie einen Übergang darstellte, der zur Lösung wichtiger Probleme drängte" die nicht mehr von der Tagesordnung gestrichen werden konnten. Damals wurden die ersten Weichen für die Liberman-Reformen gestellt.

Die 1957/58 eingeleitete Reform der Landwirtschaft war etwas gründlicher. Sie umfaßte die Auflösung der Maschinen-und Traktorenstationen, den Verkauf ihrer Maschinen und den Wegfall der Zwangsablieferungen sowohl für Kolchosen als auch für private Hofwirtschaften. Damit holte die Sowjetunion reformkommunistische Experimente Jugoslawiens, Ungarns und Polens nach. Zum katastrophalen Ergebnis der stalinistischen Landwirtschaftspolitik hatte gehört, daß der Viehbestand im März 1953 unter dem des Jahres 1916 im zaristischen Rußland lag. Die Kolchosen und Sowchosen waren noch nicht einmal zur ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Brot imstande. Deshalb betrieb Chruschtschow fieberhaft die Erweiterung der Anbaufläche durch Neulandgewinnung.

Von erheblicher Bedeutung waren auch gewisse Ansätze einer Justizreform. Die im Dezember 1958 verabschiedeten neuen Strafrechtsgrundlagen wiesen vor allem insofern eine rechtsstaatliche Tendenz auf, als nur noch Delikte geahndet werden können, die im Strafgesetzbuch fixiert sind. Der Begriff „Volksfeind" wurde gestrichen, allerdings schon wenig später durch den des „Parasiten" ersetzt. Die Bestrafung eines Täters darf nur noch im Rahmen eines Gerichtsurteils und nicht mehr allein auf Grund eines (oft erpreßten) Geständnisses erfolgen. Auch die Sippen-haftung ist abgeschafft worden. Es entstand ein schmaler Raum privater Sphäre. So wurde die Zurückdrängung der Geheimpolizei rechtlich festgelegt, freilich nur durch eine vorerst sehr schwache Schranke. Kenner der Materie sind der Ansicht, daß diese Schranke nicht auf Initiative der Parteiführung, sondern als „Folge einer langen und hartnäckigen Diskussion in den Kreisen der sowjetischen Juristen (und) ihres Drucks auf die Parteiorgane" errichtet worden ist. Allerdings schränkte die soge-nannte „Rechtsverfolgung durch das Kollek-tiv" die rechtsstaatliche Tendenz wieder ein. So sind z. B. nicht nur die Unionsrepubliken aufgrund der Strafgesetzgebung befugt, „Parasiten", die sich ihrer Arbeitspflicht entziehen, mit zwei bis fünf Jahren Verbannung zu bestrafen, sondern auch neugeschaffene Kameraden-und Dorfgerichte sind bevollmächtigt, außerhalb des ordentlichen Rechtswegs kleinere Strafen zu verhängen.

Ebenso widerspruchsvoll war die Erziehungsund Bildungsreform des Jahres 1958. Die Wiedereinführung der von Stalin aufgehobenen Schuldgeldfreiheit hatte eine erhebliche Beschränkung der Berufswahl zur Folge. Die Durchbrechung des Bildungsprivilegs der neuen Klasse verkoppelte sich mit der Verpflichtung aller Studenten und Schüler zur praktischen Arbeit in den Betrieben.

Geistige Veränderungen Auch die erste der geistigen Veränderungen war vom Zwiespalt gezeichnet. Unter Stalin hatte das Staatseigentum als höchste Form des Eigentums gegolten, auf dessen Niveau auch das genossenschaftliche Eigentum der Kolchosen gehoben werden sollte. 1958 wurde diese These als falsch verworfen, denn von ihrem Standpunkt war der Verkauf des staatlichen Maschinenparks der MTS an die genossenschaftlichen Kolchosen ein historischer Rückschritt. Deshalb mußte die kommunistische Ideologie auf den neuesten Stand pragmatischer Polik gebracht werden. Die neue These von der Gleichwertigkeit des staatlichen und genossenschaftlichen Eigentums stimmte jedoch ganz und gar nicht mit der Tatsache überein, daß Chruschtschow die Umwandlung vieler Kolchosen in Staatsgüter eingeleitet hatte. Das ist ein Beispiel, wie praktische Reformen eine Reform der Ideologie nachziehen können. Zugleich zeigt es auf, welche Verwirrung 1958 in der Sowjetunion geherrscht haben muß, da doch die neue Theorie teilweise auch der neuen Praxis widersprach.

Es besteht aber kein Zweifel, daß die Abwertung des Staatseigentums nicht nur apologetische Bedeutung besaß. Aus einem umfangreichen Bericht über eine wissenschaftliche Konferenz, die theoretische Fragen des kommunistischen Aufbaus erörterte und Mitte 1958 stattfand, geht einwandfrei hervor, daß schon eine beträchtliche Anzahl Wissenschaftler und Theoretiker aus dem geistigen Käfig des Stalinismus ausgebrochen war. Laut Laptew darf das Kolchos-Eigentum schon deshalb nicht geringer als das staatliche bewertet wer-den, weil es mehr als Gruppeneigentum ist und die Mitglieder am Ertrag nur beteiligt sind (ohne jedoch Verfügungsgewalt zu besitzen).

Nemtschinow deckte den Scheinkommunismus auf, der in Naturalentlohnung innerhalb von Kolchosen besteht, die manchmal nicht einmal das Existenzminimum gewährleisten können (Kommunismus soll ja volle Bedürfnisbefriedigung auf der Grundlage eines Überflusses sein). Nach Ostrowitjanow wird die Geld-und Warenwirtschaft (sie sollte schon unmittelbar nach der Oktoberrevolution verschwinden, wurde aber nur vorübergehend durch den Kriegskommunismus ersetzt) auch im Kommunismus möglicherweise „noch eine Zeitlang beibehalten werden" Konrod schlug eine Neuformulierung der sozialistischen Produktionsverhältnisse vor, die man nicht länger als Beziehungen der freundschaftlichen Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe verklären dürfe — als sozialistisch könnten übrigens nur solche Produktionsverhältnisse bewertet werden, „die auf der Verteilung nach der Leistung und auf der Aneignung des Mehrprodukts einzig und allein (!) durch die Werktätigen basieren" Damit war eine alte Forderung der europäischen Arbeiterbewegung, ja selbst die Lassallesche Konzeption des vollen Arbeitsertrags wieder aufgegriffen und verschleiert angedeutet, daß die neue bürokratische Klasse, weil sie nicht werktätig ist, keinen Anspruch auf das Sozialprodukt hat.

Angesichts der sowjetischen Verurteilung des Anarcho-Kommunismus im neuen jugoslawischen Parteiprogramm mußte es verblüffen, daß die KPdSU noch im gleichen Jahr den jugoslawischen Grundgedanken der gesellschaftlichen Selbstverwaltung zu übernehmen begann, wenn sie ihn auch seltsam modifizierte. Unter Hinweis auf Chruschtschows Thesen zum XXL Parteitag hieß es Ende 1958 in einer sowjetischen Zeitschrift: „In der Periode des kommunistischen Aufbaus häufen sich die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Voraussetzungen für das zukünftige Absterben der inneren Funktionen des Staates und ihrer Ablösung durch gesellschaftliche Organisationen für die Verwaltung der kommunistischen Wirtschaft und Kultur." Gleichzeitig hieß es aber: „Die weitere Entfaltung der sozialistischen Demokratie . .. bedeutet nicht das . Absterben', sondern die Festigung des sozialistischen Staates" der durch Heranziehung gesellschaftlicher Verbände und Mobilisierung ehrenamtlicher Mitarbeit noch gestärkt werden müsse. Außerdem wurde eine spanische Wand zwischen dem inneren und dem äußeren Staat errichtet. Nur der innere übertrage seine Funktionen schrittweise auf gesellschaftliche Organisationen, während der äußere sich erst dann in einen Halbstaat verwandeln könne, wenn es kein „imperialistisches Lager" mehr gebe.

Dennoch markierte das verschämte Plagiat der jugoslawischen Selbstverwaltung einen Wendepunkt, hinter dem sich der Weg, falls man ihn nicht mehr verließ, immer weiter vom stalinistischen Staatskommunismus entfernte. In Chruschtschows Referat auf dem XXL Parteitag der KPdSU war ausdrücklich vom Absterben des Staates die Rede. Die theoretische Zeitschrift „Kommunist" malte anschließend sogar eine „Weltgesellschaft mit kommunistischer Selbstverwaltung" aus.

Es tauchten jedoch zwei verschiedene Ansichten darüber auf, wer die führende Rolle im Komplex der gesellschaftlichen Selbstverwaltung spielen soll. Während der Theoretiker Dawletkeldijew die Ansicht vertrat, daß die führende Rolle den Sowjets zufallen könne (die als „eigentliche Massenorganisationen in Stadt und Land" nur noch in seinem Kopf bestanden), ließ ein anderer Theoretiker namens Jegorow verlauten: „Die Partei wird länger bestehen als der Staat" Aber auch er war der Meinung, daß die Kommunistische Partei später ebenfalls absterben wird und ihre Funktionen „auf Organe übergehen, deren System die kommunistische Selbstverwaltung bildet" Wie wir noch sehen werden, schloß sich Chruschtschow dieser Ansicht nur bedingt an. Im Zuge seiner eigenen geistigen Entwicklung distanzierte er sich von Dawletkeldijew und von Jegorow, aber ebenso von Stapanjan, der im Oktober 1958 die These von der ungleichmäßigen Entwicklung des sozialistischen Weltsystems aufgestellt hatte, obwohl er wissen mußte, daß die ungleichmäßige Entwicklung des Kapitalismus in der marxistisch-leninistischen Theorie als entscheidende Kriegs-ursache galt. 1959 war noch nichts ausgegoren. Den sprechendsten Beweis lieferte das abermalige Verschieben der Ausarbeitung eines neuen Programms bis zum nächsten Parteitag. Noch größere Aufmerksamkeit verdient eine Konferenz des Philosophischen Instituts der Akademie der Wissenschaften, die vom 21. bis 26. April 1958 nach Moskau einberufen wurde. Zum erstenmal seit 1932, als das stalinistische Zentralkomitee den Marxismus-Leninismus zur unantastbaren Staatsphilosophie erhoben hatte, fand eine verhältnismäßig offene Diskussion über den Dialektischen Materialismus als dem philosophischen Kern der kommunistischen Ideologie statt. Dieses Ereignis war an sich schon bedeutsam genug, jedoch erregender waren einige Referate und Symptome. Zunächst zeigte sich, daß der Dialektische Materialismus, obwohl ihm die Weihe einer Zentralwissenschaft verliehen worden war, im Grunde noch immer ein Provisorium ist. Nicht einmal über seine Grundbegriffe — Widerspruch und Gegensatz, Materie und Entwicklung — herrscht Klarheit. Auch das soge-nannte Grundgesetz der Dialektik — Entwicklung als Einheit und Kampf der Gegensätze — fanden Karabanow, Gajdukow und andere Philosophen wenig ideal. Ein sowjetischer Philosoph tschechischer Abstammung, Kolman, nannte als Grundwiderspruch der Materie den zwischen Raum und Zeit, obwohl Raum und Zeit nach Engels nur Daseinsformen der Materie und nicht diese selber sind. Kolman kritisierte die Große Sowjetenzyklopädie wegen ihres primitiven Definitionszirkels. Er meinte, die moderne Physik sei zwar eine großartige Bestätigung der Dialektik und des philosophischen Materialismus, sie bestätige aber zugleich die Notwendigkeit der formalen Logik, die auch heute noch „eine riesige Bedeutung für die Entwicklung der Wissenschaft" habe. Bis dahin war die formale Logik als verschimmelte Methode der reaktionären Metaphysik und als Gegensatz zur Dialektik bezeichnet worden. Nun soll sie in die dialektische Logik offenbar zu dem Zweck eingebaut werden, den sophistischen Mißbrauch der Dialektik einzudämmen; denn einige „Dialektiker" hatten sich bereits bis zu der Behauptung verstiegen, daß materielle Widersprüche auch zu legitimen Widersprüchen des Urteils führen könnten. Dieser Einstellung, die jegliche wissenschaftliche und philosophische Tätigkeit zu entwerten drohte, stemmte sich eine ganze Reihe Konferenzteilnehmer durch die gemeinsame Rehabilitierung der formalen Logik entgegen, weil „die logi-sehe Widerspruchsfreiheit eine notwendige Bedingung für das Wahrsein der Urteile" sei.

Viele der sowjetischen Philosophen waren sich auch darüber einig, daß die Dialektik in der Stalinzeit als Ketzertum galt, weil sie die Phraseologie des glücklichen Lebens, das jeden Tag glücklicher werde, bedenklich störte.

Nun müßten die gesellschaftlichen Widersprüche wieder als Triebkräfte der sozialen und politischen Entwicklung anerkannt werden. Damit wird die Dialektik von den Kommunisten auf den Kommunismus selbst angewendet.

Diese neue Erscheinung ist in ihrer gewaltigen Bedeutung nur mit der Marx-Renaissance zu vergleichen. Die Dialektik stellt ihrem ursprünglichen Wesen nach eine Methode radikaler und rücksichtsloser Kritik dar; sie kann zu ähnlichen Ergebnissen wie die Marxsche Analyse des Kapitalismus führen. Daher war dieses Resultat der philosophischen Konferenz am allerwenigsten geeignet, den Männern um Chruschtschow und diesem selber Vertrauen in die Intelligenz einzuflößen. Das konnte um so weniger der Fall sein, als sie von einem der Philosophen gleichsam warnend darauf hingewiesen wurden, daß eine „Teillösung der Widersprüche (etwa des Stalinismus — G. B.) deren Wiedererstehung im nachfolgenden Zyklus zur Folge hat"

Auf der Konferenz machte sich auch erstmals ein geistiger Einfluß Mao Tse-tungs in der Sowjetunion bemerkbar. Fedosew lobte ihn direkt, Dudel verschwieg seinen Namen, doch bestand sein gesamtes Referat aus einer Rezeption der maoistischen Ideen, wie sie in den philosophischen Schriften des chinesischen Parteiführers niedergelegt worden waren Stalins Wegfall als „Klassiker" hatte anscheinend ein geistiges Vakuum geschaffen, das von Chruschtschow zumindest auf philosophischem Gebiet nicht ausgefüllt werden konnte. Mao bot sich als neuer und einzig lebender Klassiker an, was zu gegebener Zeit auch einen politischen Führungsanspruch Pekings begünstigen konnte. War es ein Zufall, daß Chruschtschow die chinesischen Volks-kommunen schon 1958 altmodisch nannte und im Mai 1959 mit dem chinesischen Verteidigungsminister in Tirana zusammentraf, um ein Komplott gegen Mao zu schmieden?

Zum Kreis der geistigen Veränderungen in dieser Phase gehörte schließlich auch eine Neubewertung der Wissenschaft. Man wird sie ebenfalls in jene Wandlungsprozesse einreihen können, die für lange Zeit die Richtung der Entwicklung zu bestimmen vermögen, ohne daß sie dem oberflächlichen Betrachter, der sich ganz im Sinne des Vulgärmarxismus schon vielfach angewöhnt hat, nur noch nach „materiellen Fakten" Ausschau zu halten, überhaupt zu Gesicht kommen. 1959 erschien ein Aufsatz von W. J. Jelmejew über die Rolle der geistigen Arbeit, der ohne Übertreibung sensationell genannt werden kann. Er revidierte nämlich den kommunistischen Produktivitätsbegriff, rückte den antiintellektuellen Vorurteilen zu Leibe und stellte insgeheim ein neues Wertsystem auf. Der Autor stellte fest, daß die physische Arbeit nur noch ein Prozent der Weltproduktion an Energie ausmacht. Zu den einfachen Arbeitern gesellen sich in den Betrieben immer mehr Menschen mit Oberschul-, Fach-und Hochschulbildung. „Die Hauptrichtung der Entwicklung . . . ist die Umwandlung der körperlichen in ingenieur-technische Arbeit". Infolgedessen dürfen nicht länger allein diejenigen — das heißt die Arbeiter — als produktiv gelten, deren Tätigkeit in der unmittelbaren Erzeugung materieller Güter besteht. Gesellschaftliche Produktion heißt, daß in der industriellen Gesellschaft alle Produkte gemeinsame Erzeugnisse eines kombinierten Arbeitspersonals sind. Auch die Ingenieure und Techniker „werden zu produktiv Tätigen, und deshalb gehören sie zusammen mit den körperlich Arbeitenden zu den Produktivkräften der Gesellschaft".

Daneben treten die Naturwissenschaften und technischen Wissenschaften neuerdings als ein besonderer Produktionszweig auf. „Wenn die Arbeit der Ingenieure und Techniker der erste Schritt bei der Umwandlung einer bestimmten Art der geistigen Tätigkeit in produktive Arbeit war, so ist der zweite Schritt in dieser Richtung die Vereinigung der wissenschaftlichen Arbeit mit der produktiven". In einigen Industriezweigen hat die wissenschaftliche Tätigkeit sogar jetzt schon die Bedeutung unmittelbar produktiver Arbeit erlangt. „So bedarf zum Beispiel die Lenkung von Kernprozessen in den Atomreaktoren und deren Kontrolle der wissenschaftlichen Arbeit. Das trifft auch auf die Arbeit mit den elektronischen Rechenmaschinen zu. Unter diesen Bedingungen verwandelt sich der Wissenschaftler in einen produktiv Tätigen. . . ." Während die Handarbeit bei der Bedienung von Maschinen im Zuge der Automation überflüssig wird, erlangt die intellektuelle Seite des Produktionsprozesses „ständig wachsende Bedeutung"

Der Kenner des Marxismus wird darauf verweisen, daß Marx schon im „Kapital" die gesellschaftliche Produktion im gleichen Sinne wie Jelmejew 90 Jahre später aufgefaßt hat.

Das zeigt jedoch nur auf, wie weit der stalinistische Kommunismus hinter Marx zurückgeglitten war. Soweit er sich überhaupt auf Marx berufen konnte, ist er ein Vulgärmarxismus gewesen. In der Zeit von 1957 bis 1959 war jedoch nicht nur eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen Marxismus zu verzeichnen, sondern gleichzeitig auch der beginnende Versuch, die neuen Wirklichkeiten theoretisch zu erfassen, wobei im Ansatz schon über Marx hinausgegangen wurde. Marx hatte die Arbeiterschaft immer für die entscheidende Kraft der industriellen Gesellschaft gehalten, bei Jelmejew wird sie plötzlich auf den dritten Platz verwiesen, und nicht etwa im Sinne der Parteibürokratie. In seinem Gesellschaftsbild wird zwar auch die Basis von der Arbeiterschaft gestellt, doch eigentlich nur noch im negativen Sinne der Repräsentanz körperlicher Arbeit, deren Umfang und deren Bedeutung ständig schmilzt. Der Arbeiter hat nur noch eine Chance, wenn er die Stufe des Technikers und Ingenieurs erklimmt. Die Ingenieure und Techniker müssen ihrerseits das Niveau der wissenschaftlichen Forschung erreichen, weil die moderne Industrie immer mehr nach Einführung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse in den Produktionsprozeß drängt. So ergibt sich eine neue, dreistufige Hierarchie der Gesellschaft. Auf der obersten Stufe stehen die Wissenschaftler, auf der mittleren die Ingenieure und Techniker, auf der untersten die Arbeiter und kleinen Angestellten. Demgegenüber bezeichnen sich die Kommunistischen Parteien meist noch immer als Arbeiterparteien, und sie pochen in der Regel darauf, daß ihre Staaten solche der Arbeiter sind. Aus dem Blickwinkel Jelmejews gesehen kann man das nur rückständig und lächerlich nennen. Wissenschaft oder Ideologie?

Die Kommunistische Partei kommt in Jelmejews Schema überhaupt nicht mehr vor. Wenn sie in einem zurückgebliebenen Land die Forcierung der industriellen Revolution überneh-men kann, so ist sie in einer modernen Industriegesellschaft überflüssig. Die zweite industrielle Revolution, deren geistige Verarbeitung Jelmejew als erster unter den sowjetischen Kommunisten versucht hat, räumt mit den Ergebnissen der ersten aut und walzt die Gesellschaft abermals um, viel gründlicher, als eine politische oder soziale Revolution dies vermöchte. Es fragt sich, ob die kommunistischen Revolutionen vielleicht nur Erfüllungsgehilfen der industriellen sind, ob die kommunistische Weltrevolution eventuell nur als Ausläufer der industriellen Weltrevolution begriffen werden kann. Dies würde heißen, daß ihre Chancen im wesentlichen auf zurückgebliebene Länder beschränkt sind. Jedenfalls fällt auf, daß die meisten kommunistischen Staaten, angefangen von der Sowjetunion selbst, zum Zeitpunkt der kommunistischen Machtergreifung Entwicklungsländer waren. Indessen ist es trotzdem möglich, daß die anderen Fälle — zum Beispiel die Tschechoslowakei — mehr als Ausnahmen von einer Regel sind. Schließlich kann auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß eine Kommunistische Partei es versteht, sich von den Verhältnissen eines zurückgebliebenen Landes auf die Situation einer modernen Industriegesellschaft umzustellen. Dies verlangt aber in jedem Falle von ihr, daß sie die Ideologie nicht mehr über die Wissenschaft stellt. Kann sie das tun, ohne ihre Macht zu gefährden? Müßte die politische Partei nicht durch eine Partei der Wissenschaft abgelöst werden? In einer modernen kommunistischen Industriegesellschaft entsteht unweigerlich die Alternative: Primat der Ideologie oder Primat der Wissenschaft?

Der Übergang von Stalin zu Chruschtschow war in der Sowjetunion mit dem Hinüberwachsen von der ersten in die zweite industrielle Revolution verbunden. Es ging nicht nur darum, die kommunistischen Herrschaftsformen von jenen Kompetenzen zu befreien, die nach dem marxistischen Schema der Sozialformationen eigentlich aus dem Zeitalter der Sklaverei und des Feudalismus stammten — Zwangsarbeit an industriellen Projekten und staatliche Leibeigenschaft in den Kolchosen Sowchosen , und — man mußte sie auch den Erfordernissen einer höheren Phase der Industriegesellschaft anpassen, als sie in der UdSSR bis zum Zweiten Weltkrieg bestand. Vor allem war es nötig, jene neuen gesellschaftlichen Kräfte, die von der ersten industriellen Revolution hervorgebracht worden waren, aber zunächst im Schatten zwischen Arbeitern und Unternehmerstaat standen —-Techniker und Ingenieure auf der einen, Manager und Wissenschaftler auf der anderen Seite —, in das kommunistische Herrschaftssystem einzugliedern. Unter Stalin waren alle Angehörigen dieser Gruppe als potentielle Feinde verdächtig. Man bezahlte ihnen zwar hohe Gehälter, betrachtete sie aber als bourgeois. In der Stalinzeit galt die Intelligenz lediglich als eine labile „Zwischenschicht" und als ebenso unzuverlässig wie das Kleinbürgertum in den westlichen Ländern. Am liebsten hätte man neben jeden Angehörigen der Intelligenz einen politischen Kommissar gesetzt.

Obzwar Jelmejews Aufsatz seiner innersten Tendenz nach die Grenzen des Kommunismus schon überschritt, scheint er den theoretischen Ausgangspunkt einer solchen Eingliederung gesetzt zu haben. Am 29. September 1959 faßte das Zentralkomitee der KPdSU einen Beschluß über die Rolle der Wissenschaft im technischen Fortschritt und über die Einführung wissenschaftlicher Errungenschaften in der Produktion, der die „Schaffung wissenschaftlicher Forschungsinstitute direkt bei den Großbetrieben" vorsah, aber auch darauf bestand, daß „die schöpferische Weiterentwicklung der Wissenschaft und Technik in untrennbarer Verbindung mit der Praxis des kommunistischen Aufbaus" erfolgt. Im ideologischen Vor-spruch hieß es, daß in der Sowjetunion „alle notwendigen Voraussetzungen für eine schöpferische Entwicklung der Wissenschaft und Technik geschaffen worden" seien. Hierbei wurde etwas vergessen. Zu diesen Voraussetzungen gehört nämlich auch eine freie Atmosphäre des unbehinderten Meinungsstreits, die speziell für die Wissenschaft ebenso notwendig ist wie das tägliche Brot für den Menschen. Eine weitere Voraussetzung, die noch unerfüllt war, bestand im Zugang zu allen Informationen über die wissenschaftliche und technische Entwicklung des Westens.

Es mutete merkwürdig an, daß Chruschtschow auf der gleichen Sitzung des Zentralkomitees, die den besagten Beschluß über die Wissenschaft faßte, endgültig wieder den Biologen Lyssenko auf den Schild hob, der schon von Stalin protegiert worden war und eine unheilvolle Rolle bei der Unterdrückung jener Genetiker gespielt hatte, die der Morgan-Mendel-Schule angehörten. Nach dem XX. Partei-tag von seinem Amt als Präsident der landwirtschaftlichen Lenin-Akademie verdrängt, war er schon im September und Dezember 1958 erneut positiv hervorgehoben worden.

Ebenso kontrovers zum Wissenschaftsbeschluß erschien eine Stellungnahme des Zentralkomitees, die sich gegen die Honorierung wissenschaftlicher Vorlesungen im Dienste der Unionsgesellschaft zur Verbreitung politischer und wissenschaftlicher Kenntnisse wandte: „Man muß erreichen, daß die Lektoren für die Vorlesungen in der Regel kein Honorar erhalten, um mit der Zeit ganz zu unbezahlten Vorlesungen überzugehen." Hier brach das antiintellektuelle Ressentiment bereits wieder durch. Anscheinend tobte in Chruschtschows Brust ein erbitterter Kampf zwischen kommunistischer Tradition und moderner Industriegesellschaft. Beide verlangten ihr Recht, aber ihre Ansprüche liefen und laufen weit auseinander. Was dem einen Kontrahenten bewilligt wird, geht meist auf Kosten des anderen. Dieses Dilemma treibt viele Kommunisten, die gern modern sein wollen, bis an den Rand der Verzweiflung.

Offiziöse und offizielle Entstalinisierung Es wird noch darzustellen sein, wie der kleine und unscheinbare Aufsatz Jelmejews eine größere Umgestaltung des kommunistischen Weltbilds bewirkt hat, als das beim gesamten Chruschtschowismus trotz seiner vielbändigen Emphasen der Fall war. An dieser Stelle wollen wir nur noch erwähnen, daß die geistigen Veränderungen meist von Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften ausgegangen sind, also in erster Linie von Wissenschaftlern statt von Parteiideologen. Fast möchte man sagen, die sowjetische Akademie der Wissenschaften sei schon zu einer besonderen Institution der Entstalinisierung geworden. Zwischen der Entstalinisierung von oben und jener von unten hat sich in der vierten Phase der osteuropäischen Revolution eine Plattform gebildet, die im Unterschied zu den parteioffiziellen Stellungnahmen eine offiziöse Ebene ist; zwar nicht verbindlich, aber durch den festen Rückhalt ihrer Argumente äußerst wirksam. Von dieser Plattform aus wird sowohl die Enstalinisierung von oben als auch die von unten beeinflußt.

Was die erste betrifft, so verwarf die KPdSU in dieser Phase nur wenige Axiome des Stalinismus als falsch oder überholt. Als falsch die berüchtigte Formel von der ständigen Zuspitzung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus, als überholt die These von der kapitalistischen Einkreisung des Sowjetstaats. Diese beiden Axiome hatten eine Einheit gebildet, da sie von der innen-und außenpolitischen Seite her gemeinsam den Massenterror theoretisch rechtfertigen sollten. Als Konsequenz ihrer Verwerfung wurde von Chruschtschow auf dem XXL Parteitag im Januar/Februar 1959 verkündet, daß der Sozialismus in der Sowjetunion nicht nur vollständig, sondern auch endgültig gesiegt habe und durch keine Kraft der Welt mehr rückgängig gemacht werden könne Es war unschwer zu erkennen, daß er diese Konsequenz als Stütze seiner Koexistenztheorie brauchte. Nach Stalin würde von einem endgültigen Sieg des Sozialismus in der UdSSR erst beim weltumspannenden Triumpf des Kommunismus gesprochen werden können. Chruschtschow revidierte diese Behauptung, indem er erklärte, daß die Gefahr einer „Restauration des Kapitalismus" in der UdSSR infolge der Entstehung des sozialistischen Weltsystems mit einer Milliarde Menschen gebannt sei. An diesen drei gemäßigten Revisionen ist vielleicht am besten zu ermessen, wieweit die offiziöse Ebene schon vorgeprellt war.

Aber selbst sie war noch zaghaft im Vergleich zu bestimmten Ausdrucksformen der Entstalinisierung von unten, die sich in der vierten Phase wesentlich verbreiten und vertiefen konnte, wenn ihnen auch ein größerer Erfolg noch versagt blieb.

Direkte Aktionen von unten Nach der Deportation tausender „Unruhestifter" aus den größeren Städten der Sowjetunion scheint es in den Jahren 1957/58 verhältnismäßig ruhig geblieben zu sein. 1959 kam es jedoch wieder zu direkten Aktionen, deren Vielfalt die Ereignisse des Jahres 1956 übertraf.

Was die vier Studenten getan hatten, die im Januar wegen „schwerer Verbrechen" abgeurteilt wurden, ließ sich nicht ermitteln. Jedoch informierte die Komsomol-Zeitung ihre Leser in einer einzigen Mai-Nummer gleich über zwei Fälle des Untergrunds. In einem Haus seien „Schreibmaschinen . . ., zahlreiche Matrizen, ein Vervielfältigungsapparat und Stöße antisowjetischer Literatur" entdeckt wor-

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Welt vom 28. 4. und 18. 5. 1956.

  2. Hertwig, Die Wahrheit über Wolfgang Harich und seine Freunde, S. 1.

  3. Ebenda.

  4. Schenk, Im Vorzimmer der Diktatur, S. 304.

  5. Das Problem der Freiheit im Lichte des wissenschaftlichen Sozialismus, Ost-Berlin 1956, Band 1,

  6. Zwerenz, in: Das Ende einer Utopie, Freiburg 1963, S. 183.

  7. Ebenda, S. 184/85.

  8. Wirtschaftswissenschaft, Mai 1957, S. 135.

  9. H. Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist, München 1967, S. 328.

  10. Ließ, Rumänien zwischen Ost und West, Hannover 1965, S. 50.

  11. Schöpflin, Die Lage der Minderheiten in Osteuropa, in: Osteuropa, Heft 2/3 1966, S. 136.

  12. Ließ, Rumänien zwischen Ost und West, S. 40.

  13. The Review, Brüssel, Nr. 2/63.

  14. Kersten, Aufstand der Intellektuellen, S. 217.

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  27. Alexandrow, Das Leben des Nikita Chruschtschow, S. 149.

  28. Weber, Konflikte im Weltkommunismus, S. 118/19.

  29. Po prostu, Warschau, Nr. 45/56.

  30. Tschu En-lai, Bericht über die Frage der Intellektuellen, Peking 1956, S. 13.

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  33. Prawda, Moskau, 30. 12. 1956.

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  39. Alexandrow, Das Leben des Nikita Chruschtschow, S. 154.

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  43. Yale Law Journal 8/57.

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  46. Woprosi Filosofii, Moskau 9/59.

  47. D. Burg, in: Osteuropa 9/64, S. 641.

  48. Chruschtschow, Uber die Kontrollziffern für die Entwicklung der Volkswirtschaft. .., Ost-Berlin 1959, S. 5.

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  50. Schapiro, Die Geschichte der KPdSU, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 47/61 vom 22. 11. 1961.

  51. Kommentar von G. Berkenkopf, in: Ostprobleme vom 3. 1. 1958.

  52. So z. B W. Bronska-Pampuch, in: Ostprobleme vom 6 3. 1959.

  53. Ostprobleme vom 6. 3. 1959, S. 150.

  54. Ebenda, S. 154.

  55. Ebenda, S. 161.

  56. Ebenda, S. 161.

  57. Ostprobleme vom 16. 10. 1959, S. 667.

  58. Ebenda, S. 664.

  59. Ebenda.

  60. Das Widerspruchsprinzip in der neueren sowjetischen Philosophie (Dokumentation des Osteuropa-instituts), herausgegeben von der Universität Freiburg/Schweiz, Dortrecht 1959, S. 63.

  61. Ebenda, S. 65.

  62. Ebenda, S. 12.

  63. Ebenda, S. 11/12/13.

  64. Kultur und Fortschritt, Gesellschaftswissen-schafliche Beiträge, Ost-Berlin, Dezember 1959 — das Datum der Originalveröffentlichung in russischer Sprache konnte nicht festgestellt werden.

  65. Prawda, Moskau, 30. 6. 1959.

  66. Partijnaja shisn, Moskau 18/59.

  67. Leningradskaja Prawda vom 13. 1. 1959.

Weitere Inhalte

Günter Bartsch, freier Journalist, geb. 13. 2. 1927 in Neumarkt/Schlesien. Von 1948 bis 1953 in leitenden Positionen der kommunistischen Jugendbewegung. Bruch mit dem Kommunismus nach dem 17. Juni 1953. Veröffentlichungen u. a.: Kommunismus, Sozialismus und Karl Marx, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Heft 72, Bonn 1968-’.