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(null)- Maos neue thesen | APuZ 47/1968 | bpb.de

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APuZ 47/1968 Revolution und Gegenrevolution in Osteuropa seit 1948 (null)- Maos neue thesen

(null)- Maos neue thesen

forderung aller überlebenden Opfer der Stalin-sehen Zwangsmethoden und jener Kommunisten, die nicht mehr hinter den XX. Parteitag zurückgehen wollten.

Kurz darauf wurde auch klar, daß entweder längst nicht alle Zwangsarbeitslager aufgelöst oder bereits neue geschaffen worden sind. Die „Komsomolskaja Prawda" brachte im August den Brief eines „Bekehrten", der nebenbei von mehrjähriger Haft in einer „Besserungskolonie" berichtete und hierbei ausplauderte, daß er gemeinsam mit Kriminellen schwere körperliche Arbeit verrichten mußte, bis er endlich „Mitglied des Aktivsowjets" der Kolonie geworden war. Man setzte also sogar die berüchtigte Methode fort, politische Häftlinge mit Kriminellen zu mischen. Das war auch die Methode des SS in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus gewesen, und jeder, der sie kannte, erinnerte sich ihrer mit Schaudern. Die einzige Neuerung in den sowjetischen „Arbeits-und Besserungskolonien" schien darin zu bestehen, daß die „Aktivisten" in einen „Sowjet" kommen konnten. Wer hätte eine solche Erniedrigung der Räteidee für möglich gehalten. Sie war in der Sowjetunion nur noch dazu gut, die Weiterführung des lediglich eingeschränkten Systems der Zwangsarbeit zu verschleiern. Möglicherweise steht die „Sowjet“ -Karriere auch den Kriminellen offen.

Drei Linien Zwiespältiger konnte die Entwicklung kaum noch verlaufen. Man muß jedoch bei aller Zickzackbewegung die Grundlinien im Auge behalten. Trotz des verwirrenden Hin und Hers zeichneten sich während der vierten Phase innerhalb der Sowjetunion drei Tatsachen ab. Ihre wichtigsten Ergebnisse waren das Ende der kollektiven Führung, der Zerfall des geistigen Monopols der Kommunistischen Partei und ein Neuaulbruch der revolutionären Bewegung.

Das Ende der kollektiven Führung durch die Vereinigung der Ämter des Partei-und Regierungschefs stabilisierte zwar Chruschtschows Macht, jedoch nicht die der Partei, in der ein neuer Zyklus von Rivalitäten begann. Von nun an war jedes Wort über Personenkult doppel-sinnig — es konnte Stalin, aber auch Chruschtschow meinen. Auf dem XX. Parteitag hatte es ausdrücklich geheißen, daß man nie mehr eine unbegrenzte Macht zulassen dürfe. Erst durch die im Interesse der osteuropäischen Re-volution liegende Ausschaltung der Molotow-Malenkow-Fraktion ermöglicht, mußte die Machtkonzentration über kurz oder lang zu neuen Konflikten in der Parteispitze, wahrscheinlich auch zwischen Zentralkomitee und Teilen der Mitgliedschaft führen. Die konservative Fraktion hatte nicht nur Reformen, sondern auch Chruschtschows Drang zur Alleinherrschaft gebremst.

Das Ideenmonopol der Kommunistischen Partei ist. die geistige Säule des totalitären Systems. Die Brechung dieses Monopols beendete eine in der Stalinära wurzelnde Tradition. Sie hatte sich bis zum Monopol des General-sekretärs entwickelt. Schließlich durfte niemand mehr außer Stalin selber neue Gedanken äußern. Es gab Ansätze zur Verlagerung dieses unglaublichen Privilegs, das ein großes Volk und eine internationale Bewegung von den geistigen Regungen eines einzigen Mannes abhängig machte, auf Malenkow und später auf Chruschtschow, die als Theoretiker jedoch wenig begabt waren. Sie erteilten daher auch intellektuellen Mitgliedern des Parteiapparates das Wort. Bald ergriffen die Wissenschaftler das Wort von selbst, ohne die Kommunistische Partei und Chruschtschow vorher zu fragen. Auf Konferenzen und Versammlungen trugen sie ihre neuen Gedanken vor.

Der revolutionäre Neuaufbruch fiel erst ins Jahr 1959. Zwei Jahre lang war die Methode der Einschüchterung erfolgreich. 1953 waren Zwangsarbeiter aufgestanden, 1956 Studenten, 1959 fiel das Los auf die Arbeiterjugend. Es ging nicht mehr allein um Stalin, man rebellierte auch gegen Chruschtschow. Und alles, was dem Aufstand von Temir-Tau im Laufe des Jahres schon vorausgegangen war, mündete auch in ihn ein. Aus der historischen Perspektive darf sogar festgestellt werden, daß die Rebellen von 1959 auf den Schultern der Zwangsarbeiter und der Studenten standen. Die revolutionäre Bewegung innerhalb der Sowjetunion war bereits in ihre dritte Periode getreten.

Dem polnischen Posen ist. ein „polnischer Oktober" gefolgt. Wird dem sowjetischen Posen in absehbarer Zeit ein „sowjetischer Oktober" folgen? Vermutlich ja, wenn die Sowjetunion mit dem Stalinismus nicht endgültig aufräumt.

Im polnischen Oktober ist die Ehre der Posener Aufständischen wiederhergestellt worden. Wird im sowjetischen Oktober, falls er kommen sollte, die Ehre aller Aufstände — von Kronstadt bis Temir-Tau — wiederhergestellt werden? Auch dies ist wahrscheinlich. Insgesamt lassen sich die drei Jahre der sowjetischen Entwicklung durch die Umstellung eines Lenintitels charakterisieren. Sie bedeuteten für die osteuropäische Revolution zwei Schritte zurück und einen Schritt vorwärts. Doch der letzte Schritt war größer als die beiden anderen zusammen.

Die dritte Kommunismusform (China)

Am 27. Februar und 12. März 1957 hielt Mao Tse-tung seine berühmten Widerspruchsreden, die, wie wir schon erwähnten, eine geänderte und erweiterte Fassung seiner Hundert-Blumenrede waren. Hatte sich die Erklärung der KPCh vom Dezember 1956 insbesondere mit Konflikten zwischen kommunistischen Staaten und Parteien befaßt, so wandte sich Mao nunmehr seinem eigenen Volk und innerpolitischen Problemen zu.

Mao, der in seiner Schrift „Uber den Widerspruch“ (1937) als erster kommunistischer Philosoph zwischen antagonistischen und nichtantagonistischen Widersprüchen unterschieden hatte, wandte diesen theoretischen Gesichtspunkt jetzt auf die kommunistische Praxis an. Er erneuerte in seinen Reden den dialektischen Grundsatz, daß Widersprüche die Triebkräfte der Entwicklung sind. „Viele wagen nicht zuzugeben, daß es noch Widersprüche im Volke gibt, die doch gerade die Kräfte sind, die unsere Gesellschaft vorantreiben." Mit dieser Bekräftigung hob sich der Maoismus bereits deutlich vom Stalinismus ab, der die Widersprüche in den kommunistischen Ländern vertuschte. Und während die Stalinisten alle objektiven Widersprüche als Sabotageakte des Klassenfeindes interpretierten, der in allen Fällen „liquidiert" werden müsse, sprach Mao von objektiven Widersprüchen im Volke, die nicht durch Zwang, sondern nur durch demokratische Methoden gelöst werden könnten. Das gelte auch für alle Probleme ideologischen Charakters, weil niemand gezwungen werden könnte, etwas Bestimmtes zu glauben und die kommunistische Weltanschauung anzunehmen „Bei der Regelung von Fragen ideologischen Charakters oder von Streitfragen im Volke können wir nur demokratische Methoden anwenden, Methoden der Diskussion, der Kritik, der Überzeugung und Erziehung, nicht aber Zwangs-und Unterdrückungsmaßnahmen."

Mao behauptete sogar, daß sich unversöhnliche Widersprüche in versöhnliche verwandeln könnten. „Der Widerspruch zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, der zwischen der nationalen Bourgeoisie und der Arbeiterklasse besteht, ist eigentlich antagonistischer Art.

Aber unter den konkreten Verhältnissen, die in China bestehen, kann ein solcher antagonistischer Widerspruch, wenn er richtig gelöst wird, in einen nichtantagonistischen umgewandelt werden und auf friedliche Weise gelöst werden." Diese These erklärt eine spezi-frisch maoistische Methode: die der „Gehirnwäsche" oder Bewußtseinsreform. Sie geht davon aus, das Klassenfeinde nicht „liquidiert"

werden müssen, sondern umerzogen Werden können. Die Methode der Umerziehung wird im großen Maßstab auch auf Intellektuelle angewendet, die von Mao (im Unterschied zu den anderen kommunistischen Führern)

schlechthin der Bourgeoisie zugerechnet werden. So schockierend sie sein mag, gegenüber der Methode des Genickschusses ist sie zweifellos noch relativ human.

Mao behauptete ferner, daß sich versöhnliche Widersprüche in unversöhnliche verwandeln können, wobei er das ungarische Beispiel erwähnte. „Unter gewöhnlichen Umständen sind Widersprüche im Volke nicht antagonistisch.

Aber wenn man sie nicht ordentlich behandelt, oder wenn wir in unserer Wachsamkeit nachlassen und nicht auf der Hut sind, kann Antagonismus entstehen. . . Solche antagonistischen Aktionen in verhältnismäßig großem Maßstab, wie sie während der Ereignisse in Ungarn stattfanden, erklären sich durch die Tatsache, daß einheimische und ausländische konterrevolutionäre Kräfte am Werk waren."

Soweit die vier neuen Thesen Mao Tse-tungs. Sie zeigten an, daß sich der Maoismus als eine besondere Form der kommunistischen Philosophie und Politik entwickelte, die nicht mit dem Stalinismus gleichgesetzt werden kann; denn alle Thesen standen im Widerspruch zur stalinistischen Doktrin. Die Bewußtseinsreform stand auch im Widerspruch zur stalinistischen Praxis. Nur die Erklärung der ungarischen Revolution durch konterrevolutionäre Kräfte deutete auf eine gewisse Annäherung an den stalinistischen Standpunkt hin. Die große Diskussion Unter „Volk" verstand Mao Tse-tung allerdings nur jene Personen und Gruppen, „die der Sache des sozialistischen Aufbaus zustimmen, sie unterstützen und dafür arbeiten" Indem er die Zugehörigkeit zum Volk von der Unterstützung seiner Partei und ihrer speziellen Politik abhängig machte, stieß er selbst jene Chinesen ab, die zwar grundsätzlich die Ziele des Kommunismus bejahten, aber aus diesen oder jenen Gründen die kommunistische Praxis für bedenklich hielten.

Hundert Blumen sollten nur noch unter der Voraussetzung blühen dürfen, daß sie „den sozialistischen Aufbau fördern", die „volksdemokratische Diktatur festigen", den „demokratischen Zentralismus stärken" und die „Führung der Kommunistischen Partei" bestätigen. Angesichts solcher Bedingungen, von denen im Mai 1956 noch nichts zu hören war, verblich das farbige Motto von den vielen Denkschulen, die ungehindert miteinander konkurrieren sollten, zu einer grauen und papiernen Phrase.

Dennoch machte das chinesische Volk von der Aufforderung Maos zu einer offenen Diskussion überraschend regen Gebrauch; es stieß alle „Kriterien" beiseite, die seine Meinungsäußerung eingrenzen sollte — es rannte alle Zäune um. Die Bevölkerung sprudelte über und war froh, nach sieben Jahren erzwungenen Schweigens die Zunge wieder lösen zu können. Doch der Tenor klang anders, als die Pekinger Führung ihn wünschte. Das chinesische Volk zog mit Hilfe seiner Intellektuellen die Bilanz der kommunistischen Politik seit Gründung der chinesischen Volksrepublik im Oktober 1949 und hielt zum Teil Gericht über die Kommunistische Partei, weil sich zwischen dieser und ihm eine Kluft gebildet hatte. So wurde die Diskussion zu einem Stück echter Volksdemokratie.

Zwei Stimmen, die eines Wissenschaftlers und die eines Vertreters der acht Satellitenparteien, welche dem Kommando der Kommunisten in der „Einheitsfront" unterstehen, waren besonders bezeichnend für die Stimmung im Lande,.

Der Professor für Chemie und Physik Ko Peichi sagte vor Dozenten der Pekinger Universität: „Als die Kommunistische Partei im Jahre 1949 in unsere Stadt einzog, wurde sie von der Bevölkerung zum Willkommen mit Speise und

Trank empfangen und als Wohltäterin begrüßt. Heute aber kehrt das Volk der Partei den Rücken und meidet sie wie Tod und Teufel. . . Die Ankauf-und Absatzplanung hat Schiffbruch erlitten. Das Resultat ist ein Engpass in der Versorgung . . . Die Partei hat Fehler gemacht, und ihre Führer sollten dafür zur Verantwortung gezogen werden. . . Die Parteimitglieder gebärden sich wie Geheimpolizisten und unterwerfen die Massen ihrer Kontrolle. . . Ich möchte nochmals darauf hinweisen, daß die Massen drauf und dran sind, die Kommunistische Partei zu stürzen und alle Kommunisten zu erschlagen. Wenn die Partei keine Reformen einleitet und alle Anstrengungen unternimmt, um der Degeneration Einhalt zu gebieten, wird unweigerlich der Tag ihres selbstverschuldeten Endes kommen. . . Das Scheitern der Drei-Anti-Kampagne (gegen Korruption, Vergeudung und Bürokratismus — G. B.) hat die Schleusen geöffnet. Noch ist es möglich, diese Flut durch Beseitigung der drei Übel unter Kontrolle zu bringen. Andernfalls wird die Kommunistische Partei von den Fluten mitgerissen und den Fischen zum Fraß vorgeworfen werden."

Der Journalist Chu An-ping, Chefredakteur des Organs der „Einheitsfront", führte in einer Versammlung folgendes aus: „Ich glaube, die Führung des Landes durch eine bestimmte Partei ist nicht gleichbedeutend damit, daß dieses Land der betreffenden Partei gehört. .. Jahrelang standen Eignung und Befähigung vieler Parteimitglieder in einem Mißverhältnis zu ihren Aufgaben. Sie haben zum Schaden des Staates ihre Ämter schlecht verwaltet, und sie waren nicht imstande, sich den Respekt der Massen zu verschaffen, und daraus hat sich ein gespanntes Verhältnis zwischen der Partei und den Massen ergeben. Aber die Schuld liegt weniger bei den einzelnen Parteimitgliedern als bei der Partei selbst, die überall Böcke zu Gärtnern gemacht hat. Ich möchte wissen, ob die Partei etwa denkt, das ganze Land sei eine einzige , königliche Domäne', die man einzig und allein mit den Mitgliedern der kommunistischen Großfamilie bewirtschaften kann. Nach meiner Meinung liegt diese Vorstellung, daß , die Welt der Partei gehört", nicht nur allem Sektierertum zugrunde, sondern sie ist auch die Wurzel vieler Widersprüche zwischen Partei und Parteilosen. Die Handgreiflichkeit des Sektierertums und das schlechte Verhältnis zwischen Partei und Massen sind heute ein für das ganze Land kennzeichnendes Phänomen." Hier traten die wahren Widersprüche zutage, nämlich zwischen dem Volk und der kommunistischen Bürokratie, zwischen den anderen politischen Gruppen und der Kommunistischen Partei, zwischen den Parteilosen und den Kommunisten. Charakteristisch war die Auflehnung gegen den feudalistischen Geist des kommunistischen Machtmonopols, das, wie in Osteuropa, am heftigsten angegriffen wurde, weil man in diesem Monopol die Wurzel aller Übel sieht, an denen auch der Kommunismus selber krankt.

Es war offenkundig, daß sich das chinesische Volk eine Regierung wünschte, die nicht nur aus Kommunisten bestand und fähiger war, die Probleme des Landes zu lösen. In den Augen vieler Millionen Chinesen hatte die KPCh große Verdienste beim Sturz des korrupten Kuomintang-Regimes und bei der nationalen Einigung Chinas erworben, war aber dann selber korrupt geworden und bürokratisch entartet. Es zeigte sich, daß in China eine ähnliche Situation wie in Ungarn, Polen und anderen Ländern Osteuropas bestand. Auch die Forderungen, die zur Lösung der wahren Widersprüche erhoben wurden, erwiesen sich als analog: Übergang zu einem Zweiparteiensystem mit echter Opposition, Beteiligung der anderen politischen Gruppen und der Parteilosen an der Regierung, Trennung von Partei und Staat.

Djilas Ruf nach einer zweiten Partei war also bis nach China gedrungen. Mao selbst gab das zu. In seinen Ausführungen über die Widersprüche im Volke befaßte er sich nicht weniger als sechsmal mit Ungarn! Seine beiden Reden dienten offensichtlich dem Zweck, die Lehren aus den Ereignissen in Osteuropa und speziell in Ungarn zu ziehen. Wie schief Mao Tse-tung die Probleme schon sah, ergab sich aus seiner irrigen Folgerung, daß das alte System nicht gestürzt und das neue nicht errichtet hätte werden können, wenn das kommunistische Gesellschaftssystem dem Kuomintang-System nicht weit überlegen gewesen wäre. In Wirklichkeit wußte zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Kuomintang natürlich noch niemand, ob das neue System besser sein würde — man hoffte es nur. Die Kuomintang wurde nicht gestützt, weil der Kommunismus besser, sondern weil sie korrupt und verfault war; weil sie sich als außerstande erwies, die nationalen und sozialen Probleme zu lösen. Aus einer revolutionären Partei war eine reaktionäre geworden, und ein Teil des chinesischen Volkes schien bereits der Ansicht zu sein, daß sich diese Entwicklung bei der Kommunistischen Partei wiederholte.

Wie geschickt sich das Volk — anders gesonnen und anderer Gestalt als im Bewußtsein Mao Tse-tungs — den Wendungen der offiziellen Politik anzuschmiegen und sie auszunutzen verstand, zeigte die Bildung der „Hundert-Blumen-Gesellschaft" an der Pekinger Universität. Nach außen hin maoistisch, erklärte sie den Marxismus einschließlich seiner maoistischen Version für überholt

Solche Ergebnisse der Diskussion konnten kein Beitrag zur Festigung der kommunistischen Macht sein. Außerdem flackerten im Juni 1957 in mehreren Provinzen neue Unruhen auf. Die chinesische Presse hat selbst von Studenten-und Bauerndemonstrationen berichtet Anscheinend sind sie teils durch die Versorgungskrise, teils durch Versuche zur Unterdrückung der Diskussion ausgelöst worden.

Der neue Kurs sollte so mild wie eine frische Brise sein, doch er schlug in ein Gewitter aus. Kaum vier Wochen blühten die Blumen, dann verzauberten sie sich in „giftiges Unkraut".

Die Unterdrückung begann mit der Entfernung fast aller Personen von ihren Posten, die sich mit ihrer Kritik zu weit vorgewagt hatten. Als abschreckendes Exempel wurden drei Studenten in Wuhan öffentlich hingerichtet, was dafür spricht, daß die Auflehnung unter der Studentenschaft am weitesten verbreitet war. Am 1. August 1957 erließ die Regierung ein Gesetz, das alle mit Zwangsarbeit bedroht, die gegen den Kommunismus auftreten oder eine ihnen übertragene Arbeit verweigern. Als Peking Anfang 1958 das Ergebnis der „Berichtigungskampagne" bekanntgab, zu der die Kommunistische Partei 1957 rund 750 000 ihrer Funktionäre eingesetzt hatte, befanden sich unter den entlarvten „Staatsfeinden" auch 5000 Parteimitglieder, 3000 Jungkommunisten und 200 Mitarbeiter der Zentralregierung — ein Beweis, daß es neben den sonstigen Gegensätzen auch einen gewissen Konflikt zwischen Parteiführung und Mitgliedschaft gab

Tatsache bleibt jedoch, daß man noch nie so offen wie im Frühjahr 1957 in China — außer in den Tagen der ungarischen Revolution — in einem kommunistischen Land diskutiert hat. Wenn auch Mao Tse-tung mehr eine gelenkte als eine freie Diskussion vorgeschwebt hat, ließ er die Zügel mit bemerkenswerter Großzügigkeit schleifen. Manche der ketzerischsten Äußerungen sind im kommunistischen Zentral-organ veröffentlicht worden, in dem sogar von der Gewährung des Streikrechts an die Arbeiter die Rede war. Man öffnete ein großes Ventil, um die Unzufriedenheit entweichen zu lassen. Es war aber offenbar noch längst nicht groß genug, um die Atmosphäre zu reinigen. In den Diskussionen wurde eine strukturelle Reform des Systems verlangt.

Daher griff Mao auf jene Zwangsmethoden zurück, die er im Mai 1956 und noch Anfang 1957 als falsch verurteilt hatte, weil sie doch nichts ausrichten würden. Ohne Zweifel gewann er die Überzeugung, daß zwar eine grundlegende Reform wirklich notwendig sei, aber in einem anderen Sinne, als sie in der offenen Diskussion gefordert worden war. Dies, so scheint mir, ist der wichtigste Grund für die überstürzte Schaffung der Volkskommunen gewesen.

Die Volkskommunen In seiner Widerspruchsrede vom 27. Februar 1957 hatte Mao gesagt, daß die Festigung der landwirtschaftlichen Genossenschaften, die nach dem Vorbild der russischen Kolchosen geschaffen worden waren, „wahrscheinlich fünf Jahre oder noch etwas länger dauern" würde. Daß er sie statt dessen binnen anderthalb Jahren aufhob und durch Kommunen ersetzte, ist nur als Konsequenz der gescheiterten Hundert-Blumen-Kampagne und aus den neuen Unruhen vom Juni 1957 zu erklären, letzten Endes aus der osteuropäischen Revolution und ihrem Ubergreifen auf China.

Im Frühjahr 1958 kündete die Kommunistische Partei einen „großen Sprung" an. Die erste Volkskommune wurde im April in Maos Heimatprovinz Honan gebildet und erhielt den Namen „Sputnik", was heißen sollte, daß sich die chinesische Volksrepublik so schnell wie eine Weltraumrakete vorwärtsbewegt. Als das chinesische Zentralkomitee im August 1958 den Beschluß zur Schaffung der Volkskommunen faßte, waren sie auf dem Lande schon gegründet, weshalb es möglich erscheint, daß Mao Tse-tung die kollektive Führung durchbrochen und sein eigenes Zentralkomitee vor vollendete Tatsachen gestellt hat. In der Sowjetunion hatte die Bildung der Kolchosen mehrere Jahre in Anspruch genommen, in China ist die Schaffung der landwirtschaftlichen Volkskommunen binnen vier Monaten durchgesetzt worden. Dabei gingen die Kommunen in ihrer Zielsetzung noch weit über die der Kolchosen hinaus, die daher in China als „rückständig" und „veraltet" hingestellt wurden. Worin bestehen die Unterschiede?

In ihrer ursprünglichen Form gab es grundsätzlich keine privaten Nebenwirtschaften mehr; nur ein paar Obstbäume und Hühner blieben im Privateigentum.

Die Volkskommunen sind nicht nur Großbetriebe, sondern auch Verwaltungseinheiten, in denen Staat und Wirtschaft verschmelzen.

Die Volkskommunen stellen militärische Miliz-formationen dar; alle Kommunemitglieder beiderlei Geschlechts vom 18. Lebensjahr ab werden zum Milizdienst verpflichtet.

Sie sind auch als politische Erziehungsstätten gedacht; dem zwölfstündigen Arbeitstag schlossen sich anfangs noch zwei Stunden Schulung an.

Schließlich sollen sie landwirtschaftliche Produktionseinheiten und industrielle Betriebe zugleich sein.

Obwohl die Ausgangsmotive für die Schaffung der landwirtschaftlichen Volkskommunen pragmatisch gewesen sein dürften, verbanden sie sich schnell mit ideologischen Zielen. Insgesamt spielten zweifellos folgende Bestrebungen eine Rolle: a) Maximale Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft, wobei die niedrige Technik durch Organisation kompensiert werden sollte. Die als Vorbild herausgestellte Volkskommune „Sputnik" erfüllte ihren Fünfjahrplan in drei Monaten Die Kommunen sollten kollektive Stachanows sein. b) Schaffung eines umfassenden Bewässerungssystems als Vorsorge gegen Dürren, die in China schon oft genug zu Bauernaufständen gefüh-rt hatten, weil man sie für Zeichen hielt, daß der Herrscher nicht mehr das Mandat des Himmels besitze. Das Problem der Wasserbewirtschaftung war schon immer ein Grundproblem Chinas. Einer der damals prominentesten Parteifunktionäre hat 1964 darauf hingewiesen, daß es vor Bildung der Volkskommunen „nach wie vor seiner grundlegenden Lösung harrte" weil die Kräfte der Produktionsgenossenschaften infolge ihrer geringen Kopfzahl nicht ausgereicht hätten. c) Vernichtung des restlichen Eigentums an Boden, Vieh, Geräten und selbst an Gebrauchsgegenständen. Hierbei offenbarte sich, daß die innere Logik des Kommunismus dahin tendiert, außer dem Privateigentum an Produktionsmitteln auch das an Konsumtionsmitteln abzuschaffen. d) Übergang von der kollektiven Arbeit zur kollektiven Lebensweise. Teilweise wurden selbst Kochtöpfe und Teekessel eingeschmolzen, um jegliches Privatleben zu unterbinden und die proletarisierten Bauern zu zwingen, ihre Mahlzeiten ausschließlich in gemeinsamen Kantinen einzunehmen. e) Zerstörung der Familie als Widerstands-zelle gegen Staat und Partei. Die Kinder wurden von den Eltern, die Männer möglichst auch von den Frauen getrennt, um ihnen sowohl das Recht auf Erziehung als auch die Möglichkeit ungestörter Intimitäten zu nehmen. Dem ersten Zweck dienten Säuglingsheime und Kindergärten mit Ganztagsaufenthalt, dem zweiten Zweck entsprechend wurden in manchen Kommunen getrennte Schlafbaracken für Männer und Frauen errichtet, so daß der politische Kommissar auch die Kontrolle über das Liebesleben erhielt; das Zusammentreffen der Eheleute hing faktisch von seiner Genehmigung ab, wobei eine Variante der Orwellschen Vision Wirklichkeit annahm. Die Zeitschrift der kommunistischen Jugendliga schrieb triumphierend, daß durch die Volkskommunen „der Rahmen der individuellen Familie, der Tausende von Jahren bestand, endgültig zerschmettert" sei. f) Überholen der Sowjetunion auf dem Wege zum Kommunismus. Der XX. Parteitag der KPdSU und deren nach Ansicht Maos „fehlerhafte Politik" gegenüber Polen und Ungarn hatten den sowjetischen Führungsanspruch auch in China erschüttert. Aber das sowjetische System, bis dahin als Vorbild gefeiert, wollte Peking ebenfalls nicht mehr gefallen. Mao bezeichnete das sowjetische, von Chruschtschow noch mehr als von Stalin betonte Prinzip des „materiellen Anreizes" in der Produktion als „bourgeois". Tatsächlich appelliert es ja an den Besitztrieb, der gleichzeitig als „Überrest des Kapitalismus im Bewußtsein der Menschen" ideologisch bekämpft wird. Wir dürfen sicher sein, daß der chinesische Parteichef den fundamentalen Widerspruch zwischen den wirtschaftlichen und ideologischen Prämissen der sowjetischen Politik durchschaute und seine Übertragung auf China, soweit noch nicht geschehen, zu verhindern suchte. Die Chinesen sollten statt für Lohn und Prämien aus politischer Überzeugung alle ihre Kräfte in den Dienst der Partei und des Staates stellen. Mao entschloß sich, den Weg zu zeigen, der die sowjetische Fehlentwicklung vermeiden und den Weg zum Kommunismus abkürzen könne. Selbst den Achtzig-und Neunzigjährigen in China wurde versichert, sie sollten beruhigt sein und fest daran glauben, daß sie noch vor ihrem Tode „das Glück des Kommunismus genießen können" Der Übergang von der sozialistischen zur kommunistischen Phase, die Erreichung des kommunistischen Endziels, wurde also binnen fünf oder höchstens zehn Jahren erwartet, während Chruschtschow noch 1959, nach 42 Jahren kommunistischer Macht, davon sprach, daß erst die „materiell-technische Basis" des Kommunismus in der Sowjetunion geschaffen werden müsse. g) Vermeidung einer Disproportion zwischen Industrie und Landwirtschaft durch Industrialisierung des Dorfes. Auch hier versuchte Mao meines Erachtens aus den Fehlern des Sowjet-kommunismus zu lernen. Die Disproportion zwischen Industrie und Landwirtschaft hat eine tiefgehende Störung beider Sektoren der Wirtschaft in Rußland verursacht. Einer der wichtigsten Gründe war das Primat derSchwerindustrie. Mao hat demgegenüber das Prinzip der gleichzeitigen Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft aufgestellt. In den Kommunen soll es dergestalt verwirklicht werden, daß sie ihre eigene Industrie schaffen, um sich mit Werkzeugen und Maschinen selbst zu versorgen. h) Militarisierung der Bauernschaft zwecks Vorbereitung auf einen möglichen Krieg. Die Bauern waren die Grundlage der chinesischen Revolution, und sie sollen auch die soziale Basis eines totalen Guerillakrieges sein, falls Formosa eine Landung oder die USA eine Intervention versuchen. Mao weiß sehr genau, daß sich die Städter für einen solchen Krieg wenig eignen. Es ist sicher kein Zufall, daß die Volkskommunen in ihrer Verpflegung und Ausrüstung autark sein sollen. „Jeder Chinese ein Soldat" — zumindest der Miliz. Jede Volkskommune eine militärische Festung. Militärische Disziplin bei der Arbeit.

So wurden ökonomische, ideologische und militärische Motive verbunden, wobei die politischen die wichtigsten gewesen sein dürften. Mao hatte in seinen Widerspruchsreden gesagt, das entscheidende Ziel bestehe darin, „die Ursache der Unruhen von Grund auf zu vernichten" Die große Diskussion war jedoch in neue Unruhen eingemündet. Deshalb strebte Mao jetzt dasselbe Ziel auf einem anderen Weg an. Dieser Weg bestand im Versuch, alle Formen des menschlichen Lebens einer absoluten Kontrolle durch die Kommunistische Partei zu unterwerfen, wofür die Volkskommune als die geeignetste Organisationsform erschien. Anscheinend sah man in einer solchen Kontrolle die einzige Garantie gegen eine Revolution wie die in Ungarn. Die lückenlose Überwachung aller Chinesen in den Volkskommunen vom frühen Morgen bis in die Nacht sollte jeden Widerstand schon im Keim ersticken.

Im Anschluß an die Bildung der Volkskommunen auf dem Lande wurde im August 1958 auch mit ihrer Errichtung in den Städten begonnen. Sie sollten laut Beschluß des Zentral-komitees vom Dezember 1958 „Organisationen der Produktion, des Handels und der Verteilung sein, gesellschaftliche Organisationen..., in denen die staatliche Verwaltung und die Verwaltung der Kommune ein und dasselbe sind" Die Prinzipien waren dieselben wie für das Land. Es ging um die Errichtung eines allumfassenden, einheitlichen Systems, das an die Stelle der volksdemokratischen Struktur treten sollte. Aber der Widerstand in den Städten scheint noch größer als auf dem Lande gewesen zu sein. Jedenfalls fiel auf, daß 1958/59 1, 3 Millionen Intellektuelle für ein ganzes Jahr aus den Städten aufs Land zur Umerziehung verschickt worden sind

In der Landwirtschaft kam es zum Rückgang der Produktion um ein Drittel, vielfach zum Zusammenbruch der Produktion überhaupt und zum Abschlachten des Geflügels durch die Bauern. Hatten diese an die einstigen Gutsbesitzer bis zu 50 °/o ihrer Ernte abliefern müssen, was von den Kommunisten — mit Recht — als ungeheuerliche Ausbeutung angeprangert worden war, so betrug das Abgabesoll der Volkskommunen an den kommunistischen Staat bis zu 7O°/o. Der Rest reichte kaum noch zum Leben, das auch deshalb kaum noch lebenswert war, weil die Bauern neben ihrem täglichen Essen als Monatslohn manchmal nur eine Schachtel Zigaretten erhielten. Das Geld sollte ja ebenfalls abgeschafft werden.

Im Sommer 1958 kam es aus diesen Gründen wiederum zu Unruhen. Die „Pekinger Volks-zeitung" berichtete freilich erst im Dezember, daß Rebellen in verschiedenen Bezirken die Oberhand gewonnen und „chaotische Zustände" geschaffen hätten. Es wurde von einer „Revolte der Rechtsopportunisten" gesprochen, die „heimtückisch die Parteiführung und die Übernahme der politischen Gewalt durch das Proletariat angriffen", aber noch nicht zur Vernunft gebracht werden konnten. Man hoffe aber, daß „die kleine Gruppe . . . zu der großen revolutionären Gesamtheit zurückkehren" werde.

Folglich müssen Kommunisten an der Spitze der Rebellen gestanden oder sich ihnen angeschlossen haben, wie das auch in Ungarn und Polen der Fall war. Man konnte auch ersehen, daß die Erhebung, obwohl schon im Sommer begonnen, im Dezember immer noch nicht erstickt war. In ganzen Bezirken scheint die Macht an die Aufständischen übergegangen zu sein, die offenbar sofort alle Maßnahmen rückgängig machten, die mit der Bildung von Kommunen verbunden waren.

Ich bin fest davon überzeugt, daß die 1959 begonnene „Berichtigungskampagne" in den ländlichen Volkskommunen, die deren „Überspitzungen" beseitigen sollte, nicht auf sowjetischen Einspruch zurückzuführen war, sondern vor allem auf diese Erhebung, die wesentlich größeren Umfang als alle vorangegangenen Unruhen hatte, und auf den Rückgang der landwirtschaftlichen Erzeugung. Von einer „Kapitulation" Pekings vor Moskaus Redeschwall konnte wahrlich keine Rede sein. Der sowjetische Einspruch zielte auf die Wiederauflösung der Volkskommunen hin; sie wurden zwar reformiert, aber grundsätzlich beibehalten.

Mit den Volkskommunen — darin besteht ihre Bedeutung über China hinaus — entstand ein drittes Kommunismus-Modell, das sich vom sowjetischen wie vom jugoslawischen unterscheidet. Mit dieser neuen Organisationsform beschritt auch China den Weg des National-kommunismus. Er war wiederum mit dem An-spruch verbunden, die beste Form des Kommunismus gefunden zu haben. Was als Versuch geboren wurde, ein chinesisches Ungarn zu verhindern, wurde ungewollt zu einer Fortsetzung der osteuropäischen Revolution, die in China neben dem illegalen nun auch den legalen Weg beschritt.

Der Aufstand in Tibet Im Frühjahr 1958, als in China die Bildung der ländlichen Volkskommunen begann, erhob sich die Bevölkerung Tibets gegen die chinesische Besatzungsmacht, die im Oktober 1950 einmarschiert war. Vergeblich hatte sich die tibetische Nationalversammlung damals an die Vereinten Nationen mit der Bitte um Hilfe gewandt. Im Mai wurde von den Rebellen ein Waffenarsenal und im Herbst die Stadt Tsefang erobert. Die Erhebung breitete sich bis nach Lhasa aus. Als der Dalai Lama am 9. März 1959 ins chinesische Hauptquartier geladen wurde, fürchtete die Bevölkerung um seine Freiheit und sein Leben. Etwa 10 000 Menschen versammelten sich zu seinem Schutz vor dem Palast, der später beschossen wurde. Die tibetische Regierung berief eine Ständeversammlung ein, die erneut die Unabhängigkeit Tibets proklamierte und den Vertrag mit China kündigte, der dem Mönchsstaat 1951 diktiert worden war Ende März 1959 wurde Lhasa zwei Tage lang bombardiert und zur Unterwerfung gezwungen. Der Dalai Lama war inzwischen nach Indien geflohen, wohin ihm viele seiner Landsleute folgten und wo er erklärte, daß schon bis 1958 in Tibet „über tausend Klöster zerstört" worden seien. Die chinesischen Kommunisten hätten Buddha als ein „reaktionäres Element" bezeichnet und die Mönche teils getötet, teils zur Feldarbeit gezwungen. Allerdings wissen wir u. a. aus dem Buch des Österreichers Harrer, der sieben Jahre in Tibet gelebt hat, daß die Mönche angesichts der chinesischen Intervention nicht passiv geblieben sind, sondern teilweise in der kleinen Armee ihres Landes mitgekämpft haben Harrer gab die Zahl der Klöster in Tibet mit etwa tausend an, so daß folglich fast alle zerstört worden sind. Die Mönche konnten nichts mehr verlieren als ihre Religion.

Nun hatte auch Peking sein Ungarn. Die Revolution in Tibet war ebenfalls eine Ausweitung der osteuropäischen Revolution auf asiatischen Boden, und zwar weitgehend in militärischen Formen. Das Echo der großen Ereignisse in Budapest und Warschau, von den anderen Hauptstädten Osteuropas ganz zu schweigen, rollte selbst von den Bergen des Himalaja zurück. Gab es je eine Revolution, die dergleichen vermochte?

Palastrevolte in Peking Im August 1959 fand eine Sitzung des chinesischen Zentralkomitees statt, die einen Riß im Zentrum der Macht offenlegte. Mao Tse-tung sah sich erstmals seit 1935, als er Generalsekretär der Kommunistischen Partei geworden war, von eigenen Genossen in der Führung ernsthaft bedroht. Kein geringerer als der Verteidigungsminister Peng Teh-huai, Marschall der Volksarmee, Mitglied des Politbüros und Held des Korea-Krieges, verlangte eine Änderung seiner Politik, die er als „kleinbürgerlichen Fanatismus" charakterisierte, mit der Begründung, daß sonst ein allgemeiner Aufstand des chinesischen Volkes gegen die Kommunistische Partei befürchtet werden müsse. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß diese Befürchtung aus den Unruhen von 1956, 1957 und vor allem vom Sommer 1958 abgeleitet war, die auch andere führende Persönlichkeiten der chinesischen Volksrepublik bedenklich stimmten, so daß Peng nicht allein stand. Er scheint zumindest vom Generalstabschef der Armee, vom Minister für öffentliche Sicherheit und von zwei stellvertretenden Außenministern unterstützt worden zu sein, die allesamt mit ihm abgelöst wurden. In der Opposition waren also Vertreter des Politbüros, der Armee, des Staatssicherheitsdienstes und der Zentralregierung vereinigt, und am gefährlichsten für Mao war Pengs Popularität. Der Verteidigungsminister soll das Eingreifen der Armee zu seinen Gunsten angedroht haben, falls er abgesetzt werden würde Gefährlich für Mao war auch, daß er hinter dem Rücken des eigenen Zentralkomitees einen Brief an die Moskauer Führung geschrieben und sich deren Unterstützung versichert hatte, denn niemand wußte, wie weit der sowjetische Einfluß in China reichte.

Obwohl auch andere Probleme mitgespielt haben können — genau wie Schukow wurde Peng später vorgeworfen, sich der Parteikontrolle über die Armee widersetzt zu haben —, standen die Volkskommunen im Mittelpunkt des innerparteilichen Konflikts. Der Verteidigungsminister und jene, die ihn unterstützten, lehnten sie nicht insgesamt ab, kritisierten aber ihre Schwächen und Folgen. Peng Thehuai, der seine Einwände in einem Memorandum niedergelegt und statistisches Material gesammelt hatte, wies auf den unzumutbar niedrigen Lebensstandard der Bevölkerung hin, die sich zum Teil von Algen und Blättern ernähre. Er stellte sogar das kommunistische Machtmonopol mit der Bemerkung in Frage, daß man die Kuomintang angeprangert habe, weil sie die ganze Nation beherrschen wollte. Wie dramatisch die Auseinandersetzung gewesen sein muß, geht daraus hervor, daß Mao seinen Rückzug aufs Land angedroht hat, um dort eine neue Armee zur abermaligen Eroberung der Macht aufzustellen.

Der Verteidigungsminister wurde verhaftet und einer Gehirnwäsche unterzogen. Auch seine Fraktionsgenossen schaltete man aus. Sie galten insgesamt als „Rechtsopportunisten", die sich auch gegen die Befehlsgewalt und „Diktatur" der ersten Parteisekretäre ausgesprochen hätten.

Hatte es noch eines letzten Beweises bedurft, daß nach Moskau auch Peking an die Kette der osteuropäischen Revolution und der innerparteilichen Auseinandersetzungen geschmiedet war, zu denen sie überall führt, so gab es nun keinen Zweifel mehr.

Gomulka oder Kolakowski?

Gomulka erneuerte den 1948 abgebrochenen Weg eines polnischen Sozialismus, aber erhebliche Teile der Intelligenz und der Jugend wollten nicht mehr nur nationalen Kommunismus, sondern auch Demokratie. Was sich in Jugoslawien und Ungarn abgespielt hatte, nämlich ein Prozeß des Konflikts zwischen nationalen und weitertreibenden demokratischen Kommunisten, das wiederholte sich nunmehr in Polen. Wie es in Jugoslawien zum Bruch zwischen Tito und Djilas, in Ungarn zwischen Kadar und Nagy gekommen war, so entfaltete sich in Polen die Auseinandersetzung zwischen den Richtungen um Gomulka und Kolakowski. Gleichzeitig bemühten sich die Stalinisten — nach dem Warschauer Vorort, in dem sie zusammentrafen, Natolin-Grup-pe genannt — um die Restauration ihres Systems. Die Jahre zwischen 1957 und 1959 standen im Zeichen des Ringens dieser drei politischen Kräfte.

Die Entstalinisierung geht weiter Die Unterdrückung der ungarischen Revolution erreichte nur zum Teil ihr Nebenziel, auch den Schwung des „polnischen Oktobers" zu brechen. Auf einigen Gebieten lief die Entstalinisierung erst 1957 richtig an.

Am 1. Januar 1957 wurde unter Leitung der Professoren Lange und Bobrowski ein ökonomischer Rat ins Leben gerufen, der ein neues Wirtschaftsmodell entwarf, dessen Grundzug im Abbau der Befehlswirtschaft zugunsten einer gesellschaftlichen Selbstverwaltung der Industrie bestand. Die Wirtschaft sollte weiterhin zentral geplant, aber dezentral verwaltet werden. Die Betriebe sollten eigenständig sein und in die Hände der Arbeiterräte übergehen. Man versuchte, das Prinzip der Planung mit dem der Rentabilität zu verknüpfen. Gleichzeitig war das Bestreben ersichtlich, die verstaatlichten Produktionsmittel auf die Gesellschaft, als deren Repräsentanten die Arbeiter-räte galten, zu übertragen. Prof. Lipinski polemisierte auch gegen das stalinistische Primat der Schwerindustrie, das im Grunde ein Primat der Rüstung sei und zu schwerwiegenden Disproportionen in der Wirtschaft führe. Das neue Wirtschaftsmodell sollte durch eine entsprechende Wirtschaftsreform verwirklicht werden. „Po prostu" kommentierte es als „Garantie für die Beseitigung der Bürokratie und für die Demokratisierung des wirtschaftlichen Lebens. ... So aufgefaßt, soll der Plan kein starres, unwiderruflich verpflichtendes Diktat sein, sondern ein handliches und elastisches Arbeitswerkzeug" Das Modell war zwischen dem sowjetischen und dem jugoslawischen Wirtschaftssystem angesiedelt, neigte aber wesentlich mehr dem letzteren zu.

Zu den Wahlen im Januar 1957 durften erstmals episkopattreue Kandidaten aufgestellt werden. Acht von ihnen wurden gewählt, so daß eine zwar kleine, aber echte Opposition im polnischem Sejm entstand, dessen Bedeutung damit als Ganzes stieg. Zuvor hatten alle kommunistischen Parlamente nur als Abstimmungsmaschinen zur Legalisierung kommunistischer Parteibeschlüsse gedient. Jetzt war eine Bresche in diesen trügerischen Mechanismus geschlagen und der Grundstein zur Wiederherstellung der Souveränität des Parlaments im kommunistischen Machtbereich gelegt. Die Kommunistische Partei gab ihr Monopol auf die Organisation der Jugend in einem Einheitsverband preis. Der zerfallene kommunistische Jugendverband beschloß am 11. Januar 1957 seine Selbstauslösung. An seiner Stelle wurde die Sozialistische Liga gebildet, die, wie sie bekanntgab, nur auf freiwillige Mitglieder Wert legt. Neben der Liga breiteten sich überraschend schnell zwei andere Jugendverbände aus: Pfadfinder und Bauernjugend. Die Pfad-linder sind eine neue Erscheinung in kommunistischen Ländern. Der „Verband polnischer Bauernjugend''entstand als Jugendorganisation der Vereinigten Bauernpartei, die sich gleich der Demokratischen Partei nach dem Oktober aus dem Blocksystem zu lösen versuchte. Es hatte sich auch ein „Verband der jungen Demokraten" gebildet, der jedoch am 16. Januar 1957 wieder aufgelöst werden mußte. Anscheinend wollte Gomulka den Pluralismus der Jugendbewegungen möglichst begrenzen. Dennoch war hier ein Einbruch des demokratischen Prinzips zu verzeichnen; auch bei der Sozialistischen Liga, die zur Beseitigung der Überreste des Stalinismus und zur Entfaltung der Arbeiterräte beizutragen beschloß. „Jede Form von Unrecht und Verletzung der Menschenrechte“ sollte angegriffen werden. Auch die Aufnahme des Begriffs der Menschenrechte war ein neues Moment.

Die Entstalinisierung ging auf dem Gebiet der Literatur und Publizistik ebenfalls voran. Es wurden Schriften von Rosa Luxemburg, Koestler und Deutscher gedruckt, die verfemt gewesen waren. Die Wochenzeitungen „Po prostu" und „Nowa Kultura" spürten den Dunkelmännern der stalinistischen Schreckenszeit nach und verlangten Garantien, die eine Wiederholung des Terrors unmöglich machten.

Hochfeld schrieb, daß nur organisierte Opposition und freie Kritik die Restauration des Stalinismus verhindern könnten

Einen Wiederaufschwung nahm die Wissenschaft, insbesondere die Soziologie. 1957 entstand die Soziologische Gesellschaft, die die Einrichtung von besonderen Lehrstühle für Soziologie an den Universitäten durchsetzen konnte. Wissenschaftler wie Ingarden und Tatarkiewicz, denen die Stalinisten das Lehrrecht abgesprochen hatten, konnten wieder Vorlesungen halten.

Die Neubelebung der wissenschaftlichen, das heißt der kritischen Haltung trug auch zur Versachlichung der ideologischen Diskussionen in Parteikreisen bei. Das zeigte sich auf einer Konferenz über Probleme des Kapitalismus, die im Oktober 1959 in Zakopane stattfand. Hatte bis dahin der Grundsatz gegolten, daß die westliche Wirtschaftsordnung zur Losung des Problems der Armut unfähig sei, und gall eben dies als Beweis für die Gesetzmäßigkeit des kommunistischen Triumpfs im Weltmaßstab, so stellte Prof. Lipinski jetzt fest: „Die marxistische Lehre muß berücksichtigen, daß der sich wandelnde Charakter des Kapitalismus unablässig zu solchen Änderungen der Produktionsmethoden führt, wie sie noch vor kurzem als völlig unwahrscheinlich galten. Der Kapitalismus hat daher in vielen Ländern seiner höchsten Entwicklungsstufe ein Problem gelöst, das bisher in der Geschichte als nicht lösbar gegolten hat und dessen Lösung dem Sozialismus vorbehalten sein sollte -— er zerstörte die Not als Massenerscheinung."

Kolakowskis Programm der „neuen Linken“

Mit dieser Einsicht Lipinskis brach die bisherige sozialökonomische Begründung des Kommunismus in sich zusammen. Kolakowski, der mit seiner Unterscheidung zwischen intellektuellem und institutionellem Marxismus beträchtlich zur Versachlichung der Diskussion beitrug, versuchte daher, ihn geistig und moralisch neu zu fundieren, was — man kann es kaum glauben — von seinen innerparteilichen Gegnern als Versuch zur Restauration des Kapitalismus ausgelegt wurde. Er klagte die Stalinisten an, den Begriff des Kommunismus aut Macht und Produktion reduziert zu haben. „Die intellektuellen und moralischen Werte des Kommunismus sind kein Luxus, keine Verzierung seiner Tätigkeit, sondern die Bedingungen seiner Existenz" Ein Kommunismus, dessen Existenzform die nackte Taktik sei, gehe unweigerlich zugrunde. Das gelte auch dann, wenn er den Klassenkampf über menschliche Erwägungen stelle. Ein Kommunist, der Verbrechen begehe, sei ein Verbrecher, selbst wenn er seiner Partei zu nutzen glaube. Das Individuum könne nicht Gegenstand der historischen, sondern nur der moralischen Beurteilung sein. Niemand dürfe sich hinter „historischen Notwendigkeiten" verstecken und seine Entscheidungen auf anonyme Körperschaften übertragen. Am wichtigsten in dieser Zeit war aber das Programm der „neuen Linken", das Kolakowski formulierte. Die Kommunistische Partei hatte immer als extreme Linke gegolten, und ihre Mitglieder waren hierauf nicht wenig stolz, denn den Begriff „links" brachten sie mit Freiheit und Fortschritt, mit revolutionärem Geist und persönlichem Mut in Verbindung. Aber was hatte der Stalinismus mit Freiheit und Fortschritt zu tun? Hatte diese Art von Kommunismus ihren revolutionären Geist nicht längst ausgehaucht und persönlichen Mut mit Servilität gegenüber den „Führern" vertauscht? Kolakowski stellte eine neue historische Situation fest — „die frühere Linke degenerierte und etablierte sich als Rechte" Deshalb hätte sich innerhalb und außerhalb der Kommunistischen Partei eine neue Linke herausgebildet. Er prägte den Begriff der „kommunistischen Linken", die bereit sein müsse, sich mit allen Linksstehenden sowohl gegen die alte Rechte (den bürgerlichen Konservatismus) als auch gegen die neue Rechte (den Stalinismus) zu verbünden.

Die „Linke" bedeutete für Kolakowski schlechthin das Streben nach Veränderung, aber die revolutionäre Linke sei mehr, nämlich die „Summe aller endgültigen Forderungen an die bestehende Gesellschaft" Sie bedürfe daher einer neuen Utopie und der Entwicklung zu einer revolutionären Bewegung, die nicht mit einer bestimmten Partei identifiziert werden könne. Ihre Haltung sei die eines „permanenten Revisionismus gegenüber der Wirklichkeit" Sie verzichte auf ideelle Kompromisse und auf Mittel, die ihren Grundsätzen widersprechen, aber sie verzichte nicht unbedingt auf Gewalt! Die neue Linke sei „eine Sprengstoffladung, welche die Verhärtung des sozialen Lebens aufbricht, aber sie führt nicht ins Leere" Die Kräfte der Rechten in der Kommunistischen Partei sind „die Kräfte, die beim Stalinismus beharren, also diejenigen, die das System verteidigen, das den Verzicht auf die polnische Souveränität und die Unterstützung eines fremden Nationalismus befürwortet. Es sind die Kräfte, die die Diktatur des doktrinären Schemas im geistigen, die der Polizei im öffentlichen Leben und die militärische Diktatur im Wirtschaftsleben vertreten, die die Unterdrückung der Meinungsfreiheit fördern, die Phraseologie von der Volksherrschaft im Munde führen, hinter der sich die Herrschaft des Apparats verbirgt, die sowohl die Meinung der Bevölkerung als auch ihre Bedürfnisse mißachtet"

Kolakowski nannte sieben programmatische Punkte, die von der neuen Linken im Osten wie im Westen, überall in der Welt, verfolgt werden müßten:

1. Abschaffung aller Privilegien, 2. Abschaffung von Ungleichheit und Diskriminierung sowie Ausbeutung der einen Länder durch die anderen, 3. Kampf gegen die Beschränkung der Freiheit und für die Freiheit der Meinungsäußerung, 4. Verweltlichung des sozialen Lebens, 5. Vernichtung des Rassenhasses, 6. Sieg des rationalen Denkens als integraler Bestandteil des gesellschaftlichen Fortschritts, 7. Beseitigung der Militarisierung des sozialen Lebens und des Denkens.

Dieses Programm wurde im Februar 1957 von „Po prostu" gedruckt, einer Wochenzeitung mit einer Auflage von 150 000 Exemplaren, die auch unter den jungen Offizieren recht beliebt war. Gleich danach begann die Gegenbewegung.

Für jeden, der zu sehen versteht, ist der Bogen sichtbar, der von Djilas bis zu Kolakowski führt, zugleich auch die Entwicklung des Denkens der kommunistischen Linken.

Ansätze zur Restalinisierung Während des Entstalinisierungsprozesses breitete sich schon eine Gegentendenz aus. Sie mag anfangs nur von der Absicht gespeist worden sein, Polen das Schicksal Ungarns zu ersparen, richtete sich aber gegen die Errungenschaften vom Oktober.

Der erste Schritt war die Wiedereinführung der Pressezensur im Februar 1957. Im Mai folgte die Umbesetzung der Chefredaktion des Zentralorgans „Tribuna Ludu", wogegen acht Redakteure mit ihrem Rücktritt protestierten. Noch im gleichen Monat eröffnete Gomulka den Angriff gegen Kolakowski — dessen Anhänger sich um „Po prostu" geschart hatten —, dem vorgeworfen wurde, sich nicht der Partei unterzuordnen. Obwohl die polnischen Journalisten im Juli die Wiederherstellung der Pressefreiheit verlangten, ließ Gomulka die September-Nummer von „Po prostu" beschlagnahmen und die Zeitung selbst am 2. Oktober 1957 verbieten, wogegen noch am selben Abend einige Hundert Studenten demonstrierten. Die Redaktion verteilte zwei offene Briefe an den Parteichef in den Fabriken, aber das weitgehend passive Verhalten der Arbeiter zeigte, daß ihre revolutionäre Energie abgefläut oder erschöpft war. Sie setzten daher auch der Entmachtung der Arbeiterräte im Oktober 1958 keinen ernsthaften Widertand entgegen. Formal blieb die Arbeiterselbstverwaltung bestehen; sie wurde jedoch der Parteikontrolle in der Weise unterworfen, daß zu jedem Arbeiterrat automatisch ein Vertreter der Kommunistischen Partei und der Staatsgewerkschaft gehört und der Betriebsdirektor an seinen Sitzungen teilnimmt 1959 kam es zur Wiedereinführung des verhaßten „sozialistischen Wettbewerbs" in den Betrieben.

Es ließ auch aufhorchen, daß die beiden liberalsten Mitglieder der kommunistischen Parteiführung, Bienkowski und Morawski, im Herbst 1959 ihre Mitgliedschaft im Politbüro verloren. Hingegen rief Gomulka den stalinistischen General Witazewski aus Prag, wohin er ihn abgeschoben hatte, zurück und ernannte ihn zum stellvertretenden Chef des militärischen Geheimdienstes. Gomulka war weich gegenüber den Stalinisten und hart gegenüber den demokratischen Kommunisten, was im Laufe der Zeit seine eigene Position untergrub. Schon war einer von denen, die ihn eingekerkert hatten, Mine, gegen das neue Wirtschaftsmodell mit der Behauptung aufgetreten, daß Polen hinter den anderen kommunistischen Ländern zurückbleibe. Die Natolin-Fraktion wandte sich selbstverständlich gegen jede Art von Arbeiterräten, und ein Anhänger Gomulkas bestätigte ihr noch, daß niemand von den für die Wirtschaft verantwortlichen Personen den Vorschlag ernst genommen habe, „den Betrieben die absolute Freiheit zu geben und die Direktoren durch Arbeiterräte zu ersetzen"

Aber trotz allem war Polen noch immer das Zentrum der geistigen Entwicklung Osteuropas. Unter den Trümmern der Revolution (Ungarn)

Die ungarische Revolution schwelte unter ihren Trümmern weiter und konnte erst im Laufe des Jahres 1957 ausgetreten werden. Einige der wichtigsten Maßnahmen der Regierung Kadar waren die Unterdrückung der rebellischen Intelligenz, der revolutionären Jugend und der restlichen Arbeiterräte.

Verfolgung Am 15. Januar 1957 wurde der Notstand verkündet. Sondergerichte erhielten die Vollmacht, ohne schriftliche Anklage über Revolulionsteilnehmer das Todesurteil zu verhängen. Auch der neugebildete Staatssicherheitsdienst konnte wieder über Tod oder Leben entscheiden. Nochmals entstanden Zwangsarbeitslager. Bis Mitte 1957 waren bereits 60 000 Personen betroffen Noch im Januar sollen zahlreiche Ungarn in die Sowjetunion deportiert worden sein.

Der Schriftstellerverband und die Künstlerverbände wurden verboten, viele Intellektuelle verhaftet, einige — so der Journalist Tolly, der Regisseur Földes und der Pfarrer Gulyäs — hingerichtet. Der Schriftsteller Tibor Dery erhielt neun, der Dramatiker Gyula Hay sechs Jahre Gefängnis. Eingekerkert wurden auch Wissenschaftler wie Bede, Zoltan und Süveges, Künstler wie Bessenyei und Theologen wie Papp Man scheute nicht einmal davor zurück, Jugendliche im Alter von 14 Jahren vor Gericht zu stellen und zum Tode zu verurteilen. Es gab Ansätze zu einer neuen Priesterverfolgung. Dies alles geschah, obwohl Kadar am 1. Mai 1957 öffentlich zugab, daß die schweren Fehler der vergangenen Jahre geeignet waren, in den Massen das Gefühl berechtigter Verbitterung zu wecken Die Verfolgungen und Unterdrückungen zeigten, wie wenig Ansehen die Regierung Kadar im Volke besaß. Die Anwendung von Gewalt ist auch proportional im Verhältnis zur Autorität, die eine Regierung besitzt — je geringer die Autorität, desto größer das Machtaufgebot. Unterdrückung der restlichen Arbeiterräte Obwohl versprochen worden war, die Arbeiterräte unangetastet zu lassen, schränkte eine Verordnung vom 5. Januar 1957 ihre Tätigkeit auf ein Mitspiracherecht bei Prämien und Löhnen ein. Proteste führten zu Massenverhaftungen an den folgenden Tagen. Dem immer unerträglicher werdenden Druck wichen einige Organe der Arbeiterschaft durch ihre Selbstauslösung aus. Am 10. Januar 1957 gab beispielsweise der Zentrale Arbeiterrat des Budapester Industrievororts Csepel bekannt, daß er nicht mehr imstande sei, sein Mandat zu erfüllen. „Wir spielen keine andere Rolle, als die Befehle der Regierung auszuführen. Wir können aber keine Befehle ausführen, die gegen unsere Überzeugungen sind, und wir können nicht unnötig abwarten, wenn Mitglieder unseres Rates verhaftet und ohne jeden Grund gequält werden und wenn die ganze Arbeit des Arbeiterrats als . konterrevolutionär'abgestempelt wird."

Obwohl die Demission verständlich war und in der Parteipresse als „Provokation" bezeichnet wurde, kam sie den Absichten der Regierung entgegen. Kadar wollte nur Arbeiterräte unter der Leitung regimetreuer Kommunisten dulden, und da diese Manipulierung in den meisten Fällen mißlang, verordnete die Regierung durch Erlaß am 30. September 1957 die Auflösung aller Räte. So ging eine der bedeutendsten Errungenschaften der ungarischen Revolution, die Schaffung der Arbeiterselbstverwaltung, wieder verloren, obwohl sie eine wahrhaftig sozialistische Errungenschaft war. Die an ihrer Stelle errichteten Betriebsräte erhielten die Funktion zugewiesen, „wichtige Faktoren bei der Stärkung der Diktatur des Proletariats" zu sein. In der gleichen Verordnung, die scheinbar selbständige Betriebsräte vorsah, wurde unmißverständlich erklärt: „Die Staatsunternehmen werden im Namen des Staates durch den Direktor geführt, dessen persönliche Verantwortung die Bildung der Betriebsräte nicht berührt." Der stalinistische Betriebsdirektor hielt wieder Einzug, jedoch in Fabriken mit Belegschaften, die nicht mehr dieselben waren wie vor der Revolution.

Der Nagy-Prozeß Kadar hatte die Frage, ob Imre Nagy verurteilt werden würde, mehrmals verneint. Dennoch begann am 28. Januar 1958 ein geheimer Prozeß. Er wurde, nach einem Bericht von Gosztony, „verschiedene Male je nach der Entwicklung der sowjetisch-jugoslawischen Beziehungen unterbrochen" Die Entscheidung scheint weniger in Budapest als in Moskau gefallen zu sein. Tibor Meray bezweifelt sogar, „ob der Nagy-Prozeß wirklich von einem ungarischen Gericht geführt wurde oder ob sich das Tribunal nicht wenigstens zum Teil aus Russen zusammensetzte" Beispielsweise enthalte das ungarische Weißbuch Sätze in sehr fragwürdigem Ungarisch — anscheinend handele es sich um Übersetzungen aus einer fremden Sprache.

Vier der Angeklagten — Imre Nagy, Maleter, Szilägyi und Gimes — wurden ohne das Recht auf Berufung zum Tode verurteilt. Nach dem Weißbuch hat nur Gimes seine Handlungsweise bedauert. Laut Kommunique sind die Hinrichtungen am 15. oder 16. Juni 1958 erfolgt. Nagy, der wußte, daß er eines Tages rehabilitiert werden würde, soll erschossen worden sein. Weitere fünf Angeklagte erhielten— ebenfalls ohne das Recht auf Berufung— eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren bis lebenslänglich. Die phantasievolle Urteilsbegründung erinnerte an den Rajk-Prozeß, mit dem Unterschied, daß diesmal keine Selbstbezichtigungen vorzuweisen waren. Entgegen der Behauptung des Urteils, daß eine kleine Verschwörergruppe durch systematische Wühlarbeit und „unter aktiver Mitwirkung der Imperialisten einen bewaffneten konterrevolutionären Putsch entfesselt" habe, hat der von den Vereinten Nationen eingesetzte Untersuchungsausschuß in seinem der Öffentlichkeit am 20. Juli 1957 übergebenen Bericht feststellen können, „daß sich ein ganzes Volk einmütig für die Beibehaltung seiner sozialistischen Errungenschaften bei gleichzeitiger Abschaffung der kommunistischen Diktatur" aussprach, wobei die Erhebung „spontanen Charakter" besaß.

Kadar und das Vorrücken der Stalinisten Der ehemalige stalinistische Kultusminister Ungarns, Revai, hatte schon im März 1957 die Einstellung aller Angriffe auf den Stalinismus verlangt; er forderte auch als erster Nagys Tod. Auch Kadar bezeichnete nun die Forderung nach Entstalinisierung als eine „Piratenflagge", unter der er freilich selbst gesegelt war. Er mußte sich darüber Rechenschaft geben, daß die Stalinisten, falls sie wieder an die Macht kamen, nach seiner eigenen Beteiligung an der ungarischen Revolution fragen würden. Deshalb geriet er zu ihnen in eine ähnlich zwiespältige Lage wie gegenüber den Anhängern Nagys — genau wie Gomulka in Polen —, so daß er eine Politik des Lavierens zwischen beiden Gruppen einschlagen mußte. Nachdem er die eine unterdrückt hatte, bedrängten die andere ihn um so mehr. Am 21. Januar 1958 trat Kadar zur allgemeinen Überraschung „aus gesundheitlichen Gründen" als Ministerpräsident zurück. Das scheint ein Erfolg der Stalinisten gewesen zu sein. Auf dem Parteitag Ende 1959 drangen sie noch weiter vor. Nach einem Bericht hat dieser Kongreß sogar „völlig unter dem Einfluß der Stalinisten und Rakosi-Anhänger gestanden" Für diese These spricht der Zynismus, mit dem die neuerliche Kollektivierung der Landwirtschaft angekündigt wurde. Zumindest war Kadars Stellung innerhalb seiner Partei noch umstritten. Chruschtschow fand sich in Budapest ein, um ihn persönlich zu stützen. Er gab zu, daß der Beschluß zur Intervention in Ungarn auf Widerstand auch in der KPdSU gestoßen ist. Alle Kommunistischen Parteien hätten nach dem XX. Parteitag ein Fieber durchgemacht, aber nun müßten die Uhren wieder aufeinander abgestimmt werden.

Neue Symptome Auf dem Parteitag wurde bekannt, daß sich in Ungarn eine neue illegale Organisation unter den Losungen der Unabhängigkeit und Neutralität gebildet hatte, der es gelungen war, „eine gewisse Menge demokratie-und sowjetfeindliches Material zu drucken" und Einfluß unter „gewissen Kreisen der Studentenschaft und der Intelligenz" zu gewinnen. Sie habe alle Revisionisten, National-kommunisten und die Vertreter der bürgerlichen Parteien vereinigen wollen.

Auf dem Parteitag wurde auch das Buch Erik Molnars über „Einige Wirtschaftsprobleme des gegenwärtigen Kapitalismus" kritisiert. Molnär, ein Kommunist, der zu Kadar hielt, hatte sich mit Stalins Theorie der allgemeinen Krise des Kapitalismus auseinandergesetzt und war hierbei zu ähnlichen Schlüssen wie die polnischen und jugoslawischen Reformer gekommen. Der Klassenkampf habe in den westlichen Ländern das Gesetz der absoluten Verelendung außer Kraft gesetzt. Man könne auch nicht mehr von chronischer Nichtauslastung der Kapazität, permanenter Arbeitslosigkeit und periodischen Krisen sprechen. „Den Tenor oder den Geist meines Buches will ich kurz so interpretieren, daß wir als marxistische Revolutionäre den Tatsachen direkt ins Auge schauen müssen, ohne unseren Blick durch alte Theorien trüben zu lassen. . .. Uns beeinflußt die dogmatische Vergangenheit, eine Bürde, die wie ein Ballast auf uns lastet." Kaum hatte man die Revisionisten der Schule Imre Nagys unterdrückt, da tauchte in Kadars Reihen derselbe Geist auf. Offenbar gab es buchstäblich nichts, was ihn aufhalten und ausrotten konnte.

Die „neue Klasse" und das Laibacher Programm Belgrad, obwohl durch die wortbrüchige Verhaftung Imre Nagys beim Verlassen der jugoslawischen Botschaft im November 1956 brüskiert, schien dennoch von seinem seit 1948 verfolgten Kurs abzugehen, als könnte es sich dem Druck der rückläufigen Tendenzen, die Osteuropa und die Sowjetunion überschwemmten, nicht entziehen. Doch der Konflikt mit Moskau erneuerte sich schon nach Ablauf eines Jahres.

Rückläufige Tendenzen Eine Delegation der KPJ traf sich im August 1957 mit einer Delegation der KPdSU in Bukarest. Die Jugoslawen sagten ihre Teilnahme und Mitarbeit an einer kommunistischen Welt-konferenz zu, die sie vorher abgelehnt hatten. Im Oktober folgte die diplomatische Anerkennung der DDR, deren Repräsentanten mit besonderem Eifer über den Titoismus hergefallen waren und es bald erneut tun sollten.

Belgrad nahm auch die Mitarbeit im Comecon auf, dessen sowjetische Regie nicht übersehen werden konnte, und es schien entschlossen, den vorläufigen Beobachterstatus bald mit der Mitgliedschaft zu vertauschen. Das Verbot der Zeitschrift „Revue 57" und die neuerliche Verurteilung von Milovan Dji-las ließen sich mit ähnlichen Maßnahmen in anderen kommunistischen Ländern vergleichen, obwohl der in Jugoslawien betroffene Personenkreis sehr klein blieb.

Djilas und „Die neue Klasse"

Djilas, der bereits im Gefängnis saß, wurde am 5. Oktober 1957 wegen „feindlicher Propaganda" zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt, nachdem sein Buch „Die neue Klasse" in den USA erschienen war. Er hatte das Manuskript wählend der Haft abgeschlossen und aus dem Gefängnis mit der Bitte geschmuggelt, die Veröffentlichung möglichst bald ohne Rücksicht auf die Folgen für seine Person zu besorgen. Im Vorwort bekannte er sich nun zum demokratischen Sozialismus westlicher Prägung, was bezeugte, daß ein Kommunist in seiner Entwicklung sogar die Grenze des demokratischen Kommunismus überschreiten kann.

Djilas knüpfte an Trotzki an, der die stalinistische Bürokratie aus dem Typus des Berufsrevolutionärs wachsen sah, aber noch nicht bemerkte, daß diese Bürokratie ihrerseits zur Grundlage einer neuen Klasse von Eigentümern und Ausbeutern wurde — Eigentümern insofern, als sie sich des Monopols auf die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und über die Verteilung des Sozialprodukts bemächtigt, Ausbeutern, weil sie am Proletariat, dem sie schmeichelt, in Wahrheit nur noch insoweit interessiert ist, als es ihr durch möglichst hohe Arbeitsproduktivität ein möglichst gutes Leben gestattet. Doch die neue Klasse hat auch das Machtmonopol an sich gerissen und ist — absoluter als die absoluten Monarchen — nicht bereit, es jemals wieder abzugeben oder zu teilen. Schließlich versucht sie, das Denken zu monopolisieren und erlaubt nur noch Ideen, die sie preisen oder die ihren eigenen Gehirnen entstammen.

So ist vom ursprünglichen Marxismus fast nichts als ein Bodensatz geblieben, so sind die ursprünglichen Revolutionäre zu neuen Despoten geworden, so hat sich statt der klassenlosen Gesellschaft in den kommunistischen Ländern eine neue Klassengesellschaft gebildet, und dies alles im Namen der Arbeiterschaft, obwohl das Besitz-, Macht-und Ideen-monopol der neuen Herrenschicht vor allem ein Monopol über die Arbeiter selbst ist, die sie verriet und denen sie mißtraut.

Den Kern der kommunistischen Klasse stellt die Parteibürokratie, und ihre Basis ist die Partei, aus der sie ihren Nachwuchs rekrutiert, deren Gewicht jedoch im gleichen Maße sinkt, wie das der neuen Klasse steigt. Diese verzahnt sich jedoch bis zu einem gewissen Grade auch mit den niederen Schichten und absorbiert deren revolutionäre Elemente. Aber die heroische Epoche des Kommunismus ist vorüber und die neue Klasse hat dem Volk nichts mehr zu sagen. Es käme darauf an, die neuen Despoten ihres Besitzmonopols zu berauben und somit als Klasse wieder zu vernichten. Man müsse den Widerspruch zwischen dem realen Besitz und der formalen Besitzlosigkeit der kommunistischen Klasse im Bewußtsein der von ihr beherrschten Völker intensivieren, um zu wirklichen Veränderungen des kommunistischen Systems zu gelangen, denn nach Stalins Tod habe sich vorerst nur die Methode und nicht das System geändert.

Djilas bezeichnete die Sowjetunion als den am meisten imperialistischen kommunistischen Staat, der nicht freiwillig auf die Beherrschung der anderen kommunistischen Länder verzichte und daher in Konflikt mit deren neuen Klassen gerate, sobald sie stark und selbstbewußt genug geworden seien. „Es ist unmöglich, vorauszusagen, was für Formen die Beziehungen zwischen den kommunistischen Staaten noch annehmen werden. Wie die Zusammenarbeit zwischen den kommunistischen Regierungen verschiedener Länder bald zu Verschmelzungen und Föderationen führen kann, so können Konflikte zwischen kommunistischen Staaten auch zum Krieg führen. . . . Einerseits werden die nationalen Formen des Kommunismus stärker, aber andererseits nimmt der Sowjet-imperialismus. nicht ab. . . . Obwohl die Bedingungen für die weitere Integration mit der Sowjetunion verwirklicht werden, so verwirklichen sich doch die Bedingungen, die zur Unabhängigkeit der osteuropäischen kommunistischen Regierungen führen, noch rascher." Jedoch müsse auch berücksichtigt werden, daß irgendeine Kraft den Nationalkommunismus immer wieder zur Sowjetunion zurückzieht.

Tito sei ein großer Revolutionär, aber ein Mann ohne neue Ideen. Die Erwartung, daß die jugoslawische Partei als Brücke zwischen dem Kommunismus und der Sozialdemokratie dienen könne, habe sich als unbegründet erwiesen. Djilas irrte in mancherlei Hinsicht. Seine Voraussage, daß weitere kommunistische Revolutionen ohne einen Dritten Weltkrieg unmöglich seien, wurde schon durch Kuba widerlegt. Völlig falsch oder verfrüht war die Behauptung, daß der Kommunismus nirgends anders als in Gestalt des Nationalkommunismus existiert. Man gewann auch den Eindruck, daß der Autor die jugoslawische Dynamik und die Bedeutung der jugoslawischen Reformen unterschätzte.

Djilas zog aber als erster die Summe aller Veränderungen, die der Kommunismus vom Beginn bis zur Mitte unseres Jahrhunderts durchschritt. Er wies auch nach, daß er in das Gegenteil seiner Ziele umgeschlagen war. Außerdem gab er eine auf große Erfahrungen und tiefe Einsichten gestützte Analyse der Situation in den kommunistischen Ländern, die sich im ganzen als treffend erwies. Sein Buch ist ein Dokument der osteuropäischen Revolution. Djilas hatte selbst der neuen Klasse angehört, aber freiwillig auf ihre Privilegien verzichtet. Er kehrte zu seinem Ursprung zurück: dem Kampf gegen alle Formen der menschlichen Ausbeutung und Unterdrückung, von wem auch immer sie gehandhabt werden. Insofern war er unvergleichlich konseguenter als jene Kommunisten, die im Besitz der Macht ihre Herkunft vergaßen. Obwohl sich der Autor vom Kommunismus schon losgesagt hatte, stand in seinem Buch der kommunistische Geist gegen die kommunistische Macht auf. Er wurde daher in allen kommunistischen Ländern, einschließlich Jugoslawiens selbst, zum Staatsfeind Nr. 1. Gleichzeitig gingen aber viele seiner Ideen in das neue jugoslawische Parteiprogramm ein.

Das Laibacher Programm Die Belgrader Delegation kehrte von der internationalen Konferenz kommunistischer Parteien, die im November 1957 in Moskau stattfand, enttäuscht und verbittert zurück. Chruschtschow glaubte offenbar, die jugoslawischen Kommunisten nach der Unterdrückung des ungarischen Volkes zu einer Reueerklärung und zur Wiedereingliederung in den Ostblock zwingen zu können. Da sie ihre eigene Verurteilung unterschreiben sollten, verließen sie vorzeitig die Konferenz. Jugoslawien bereitete sofort eine Gegenerklärung zur Moskauer Deklaration vor. Sie wuchs sich zu einem Programm aus, das in deutscher Sprache nicht weniger als 310 Seiten umfaßt. Der Entwurf, der im April 1958 vom VII. Kongreß der jugoslawischen Kommunisten zum Beschluß erhoben wurde, war schon im Februar allen Kommunistischen Parteien zugestellt worden. Das verletzte den sowjetischen Anspruch auf Hegemonie. Chruschtschow war anmaßend genug, von Tito zu verlangen, daß ihm der Entwurf zur Genehmigung vorgelegt werde — man wollte ihn „verbessern", bevor er zur Diskussion gestellt wurde Tito änderte zwar einige besonders kritische Sätze über die UdSSR und den Warschauer Pakt ab, doch die endgültige Fassung war immerhin noch so, daß sie Wutausbrüche in Moskau auslöste. Das war angesichts der Grundgedanken des Laibacher Programms und Chruschtschows Politik auch verständlich. Belgrad hatte sich die Aufgabe gestellt, den gesellschaftlichen Entwicklungsgang der Welt zugleich mit den Erfahrungen des jugoslawischen Kommunismus zu formulieren.

Als Hauptzug der zeitgenössischen Evolution wurde das Erstarken der staatskapitalistischen Tendenzen in Ost und West herausgestellt; im Westen sei das Verschmelzen des Staates mit der Wirtschaft, im Osten das Verwachsen von Partei-und Staatsapparat zu verzeichnen. Hier wie dort werde die Bürokratie zu einer selbständigen Kraft, die ihre Herrschaft über die Gesellschaft errichte und deren Entwicklung bremse. Der Stalinismus habe auf Machtkonzentration, Verflechtung von Partei und Staat, einseitigem Zentralismus und pragmatischer Verfälschung der marxistischen Lehre beruht. Man könne nur weiterschreiten, wenn diese Wurzeln ausgerottet würden. Der Marxismus, jahrzehntelang hinter der Zeitgeschichte zurückgeblieben, müsse vom pragmatischen Druck befreit werden. Es sei nötig, alle zum Hemmschuh gewordenen Institutionen durch Formen der gesellschaftlichen Selbstverwaltung zu ersetzen. Der Knebelung des kommunistischen Gedankenguts sei durch Entfachung des freien Meinungskampfes entgegenzutreten

Die Sozialdemokratie wurde als Bestandteil der Arbeiterbewegung bezeichnet. Man erkannte auch an, daß die westliche Arbeiterschaft eine ganze Reihe bedeutsamer Rechte erworben hat. Obwohl zum Sturz des Kapitalismus auch Gewalt verwendet werden könne, bestehe jetzt die Möglichkeit, im Westen „verschiedene Selbstverwaltungsformen" — etwa die Beteiligung der Arbeiter an der Leitung nationalisierter Industrien — ohne Revolution durchzusetzen.

Die sowjetische Hegemoniepolitik wurde, wie das schon 1952 geschehen war, abermals als neue Form des Kolonialismus angeprangert.

Jugoslawien betonte nochmals sein Recht auf einen eigenen Weg. Entgegen der Deklaration der Kommunistischen Parteien seien nationale Besonderheiten nicht als zweitrangig, sondern für die betreffenden Länder als entscheidend zu betrachten. Allgemeine Gesetzmäßigkeiten könnten bestenfalls ein grober Rahmen sein, der jeweils durch die betreffende Kommunistische Partei ausgefüllt werden müsse.

Die Funktion der Partei wurde im Geiste von Djilas so interpretiert, daß ihre führende Rolle allmählich verschwinden müsse. „Die gesellschaftliche Rolle der Kommunisten Jugoslawiens ist nicht die Rolle einer übergeordneten, von dem Volke getrennten Elite, sondern die Rolle eines gleichberechtigten Teiles der werktätigen Massen." Dieser Bruch mit der leninistischen Parteitheorie war aber mit dem Bekenntnis zum demokratischen Zentralismus und zur Diktatur des Proletariats verbunden, so daß er ein wenig fragwürdig wirkte.

Um so klarer war die Betonung der Arbeiter-selbstverwaltung als Grundlage des jugoslawischen Gesellschaftssystems. Sozialismus bedinge Beseitigung der Lohnarbeit, die nur zu erreichen sei, wenn in allen kommunistischen Ländern die Fabriken in die Verwaltung von Arbeiterräten übergingen. „Bei alledem ist die Tatsache am wichtigsten, daß die Arbeiterklasse nicht Herr ihres Schicksals und so auch nicht zur Haupttriebkraft des gesellschaftlichen Fortschritts werden kann, wenn sie nicht die unmittelbare Kontrolle über die Verwaltung, die Produktion und die Verteilung sicherstellt. In dieser Funktion kann dieselbe kein Regime der staatlichen Kontrolle über den Privateigentümer, kein Staatsapparat und kein staatlicher Direktor ersetzen." Unter diesem Gesichtspunkt war nur Jugoslawien im vollen Sinne des Wortes ein sozialistisches Land, während sich alle anderen kommunistischen Staaten noch mehr oder weniger auf der Vorstufe des Staatskapitalismus befanden. Kolakowski hatte ein Jahr zuvor in Polen das internationale Programm des demokratischen Kommunismus und der „neuen Linken" umrissen, in Laibach beschloß man das Weltprogramm des Nationalkommunismus. Im ersten Fall war der Sprecher noch eine Einzelperson, im zweiten Fall eine ganze Partei.

Der neue Konflikt Die Verabschiedung des Parteiprogramms hatte zur Folge, daß die Sowjetunion und die DDR Kredite kündigten, die sie Jugoslawien gewährt hatten. Chruschtschow brachte Tito wieder mit den „amerikanischen Imperialisten" in Verbindung, und der Nationalkommunismus wurde so dargestellt, als ob er unmittelbar vom amerikanischen und britischen Geheimdienst inszeniert worden sei, um in Osteuropa den Kapitalismus mit Hilfe jugoslawischer Agenten zu restaurieren. Die sowjetischen Führer zeigten sich empört, daß man in Belgrad die „brüderliche Hilfe für das ungarische Volk" eine Intervention genannt hatte.

Die sowjetische Strategie einer erneuten Isolierung Jugoslawiens schreckte nicht einmal vor der Taktik zurück, Djilas gegen Tito auszuspielen. In mehreren Fällen wurde behauptet, daß Djilas Buch „Die neue Klasse" den offiziellen Ansichten Belgrads entspreche. Beispielsweise hieß es in einer tschechoslowakischen Zeitung: „Die Einstellung der jugoslawischen Revisionisten ist in ihrer vulgären Form in dem Buch , Die neue Klasse'von Djilas enthalten" Ähnlich äußerte sich ein sowjetischer Theoretiker namens Butenko Das war Belgrad zuviel. Obwohl man Djilas zu einer hohen Zuchthausstrafe verurteilt hatte, wurde man dennoch mit ihm identifiziert. Tito erklärte, daß die Geschichte Jugoslawien offenbar einen Leidensweg vorgezeichnet, aber auch die Aufgabe zugewiesen habe, den Kommunismus vor Degeneration zu bewahren, damit er aus dem bestehenden Chaos gestärkt hervorgehe. Die jugoslawischen Kommunisten wurden wieder vom Geist der Partisanen erfüllt.

Ulbricht restabilisiert seine Macht Die Auswirkungen der ungarischen Revolution und des „polnischen Oktobers" waren in der DDR auch noch im ersten Halbjahr 1957 zu spüren, doch bald setzte sich wieder die harte Linie durch. Fortwirken der Opposition Anfang 1957 kam es zu einem Vorlesungsstreik an der Ost-Berliner Humboldt-Universität zugunsten eines Dekans, gegen den ein politisches Disziplinarverfahren eingeleitet worden war. An der Leipziger Universität unterschrieben 155 Studenten eine Resolution, die sich unter anderem gegen den Russisch-Unterricht wandte. An der Technischen Hochschule Dresden tauchten Flugblätter auf und mehrere hundert Studenten demonstrierten vor der Mensa gegen das Verbot, nach dem Westen zu reisen.

Auch bei den Dozenten und Wissenschaftlern gärte es weiter. Jänicke vermutet sogar, „daß das eigentliche Schwergewicht einer politisch zielgerichteten Opposition an den Universitäten und Hochschulen bei den jungen Kräften im Lehrkörper beziehungsweise in den wissenschaftlichen Apparaten lag" Er führte als Beispiele drei Oppositionsgruppen junger Wissenschaftler an, die in Ost-Berlin, Leipzig und Halle aufgedeckt wurden. Die Ost-Berliner Gruppe, auch der heimlichen Verbreitung von Schriften Trotzkis und Rosa Luxemburgs angeklagt, verlangte Absetzung Ulbrichts, Neu-bildung der SED-Führung, Aufwertung der Volkskammer zu einem echten Parlament und Umwandlung der Armee in eine Miliz. Die Leipziger Wissenschaftler forderten Pressefreiheit, Bildung unabhängiger Betriebsräte und Auflösung des Staatssicherheitsdienstes, während sich die Haller Opposition zu Harichs Programm bekannt haben soll.

Interesse verdient auch die rem intellektuelle Opposition solcher Wissenschaftler wie der Professoren Kuczynski, Kohlmey und Vieh-weg. Kuczynski versuchte, die chinesische Hundert-Blumen-Kampagne auf die DDR zu übertragen — „wie der Tau die Blumen tränkt, so nährt der Meinungsstreit die Wissenschaft", aber „wer möchte behaupten, daß sich die Wege alle im einzelnen gleichen" Hier wurde also Mao gegen Ulbricht ausgespielt und zugleich eine nationalere Politik angedeutet. Professor Kohlmey trat für neue Formen der Selbstverwaltung in den Betrieben ein. Professor Viehweg, Direktor des Instituts für Agrarwissenschaften, wollte eine Vielfalt echter Genossenschaften anstelle der Kolchosen. Er schlug auch die Umwandlung der MTS in Reparaturwerkstätten vor, genau das, was Chruschtschow 1958 in der Sowjetunion durchführen sollte.

Unterdrückung der Opposition Der SED blieben die beiden Zentren des anhaltenden Widerstandes, Studentenschaft und Wissenschaft, natürlich nicht verborgen. Acht Studentengruppen wurden verhaftet und zu Zuchthausstrafen verurteilt, darunter der Stauffenberg-Kreis in Jena und der Nationalkommunistische Studentenbund in Dresden. Außerdem ist die Verhaftung von mindestens drei Dozentengruppen bekannt. Professor Kuczynski wurde im März 1958 zur Selbstkritik gezwungen, Professor Kohlmey als Direktor des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts abgesetzt, Professor Viehweg erhielt zwölf Jahre Zuchthaus.

In den Jahren 1957/58 sind allein an sechs Universitäten 65 Verhaftungen erfolgt Das hinderte Ulbricht jedoch nicht auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 zu sagen: „Der Marxismus-Leninismus ist die humanste aller Lehren, die es gibt."

Als Exempel für Humanität diente der Harich-Prozeß im März 1957, in dem der Hauptangeklagte wegen Bildung einer „staatsfeindlichen Gruppe" zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Auch sechs seiner Freunde und Mitarbeiter erhielten Zuchthausstrafen. Harich hat ein eindrucksvolles Schlußwort gehalten, nachdem es sein Ziel war, „durch einschneidende Veränderungen der wirtschaftlichen und politischen Struktur der DDR einen möglichen Volksaufstand überflüssig zu machen.... Die Grundlagen des Sozialismus bejahen heißt nicht, die Grundlagen dieses Staates so zu lassen, wie sie augenblicklich existieren, denn dieselben Grundlagen haben in Ungarn zur Revolution geführt."

Dieser Prozeß sowie die anderen gegen Studenten und Dozenten haben zu einer Massen-flucht der Intelligenz aus der DDR geführt. 1957 flohen 1894, 1958 2522 Studenten in den Westen, 1958 befanden sich auch 208 Hochschullehrer unter den Flüchtlingen Nach einer Diskussionsrede Grotewohls auf dem V. Parteitag der SED ging die DDR-Flucht von Mai 1957 bis Mai 1958 im allgemeinen um 62, 4 % zurück, während sie bei der Intelligenz im gleichen Jahr noch um 2, 5% anstieg. Das war nach Ansicht von Hager, Sekretär des Zentralkomitees, ein Aderlaß, den kein Staat auf die Dauer aushalten könne. In dieser Erklärung kündigte sich schon der spätere Mauerbau an.

Ulbricht setzte auf Molotow Es war deutlich, daß Ulbricht den Widerstand der Intelligenz innerhalb und außerhalb seiner Partei mit allen Mitteln brechen wollte und noch immer eine Politik betrieb, die eher Molotow als Chruschtschow entsprach. Hierfür gibt es zwei Belege. Einem Mitglied des Harich-Kreises wurde kurz vor Beginn des Prozesses vom damaligen Generalstaatsanwalt Melsheimer offen gesagt: „Sie haben auf Chruschtschow gesetzt und zu spät bemerkt, daß Molotow der Mann der Zukunft ist." Als Chruschtschow im Februar 1957 für eine Wirtschaftsreform plädierte, untersagte Ulbricht die Veröffentlichung seiner Rede in der DDR.

Wahrscheinlich wußte er auch, daß Schirdewan gewisse Sympathien in Moskau genoß. Dessen einflußreiche Gruppe, aus Vertretern der Parteiintelligenz zusammengesetzt, wurde im Februar 1958 aus der Parteiführung ausgeschlossen. Noch zu diesem Zeitpunkt soll Schirdewan eine ähnliche Politik wie in Polen befürwortet haben, weil sonst ein neuer Aufstand zu befürchten sei. Auch Selbmann ergriff das Wort: „Wir haben im KZ gesessen, während die, die heute alles besser wissen, in Moskau Rundfunkreden gehalten haben." Im September 1958 verlor er sein Amt als stellvertretender Ministerpräsident.

Ulbrichts Macht war wieder stabilisiert, ja bis zu einem gewissen Grade umfangreicher denn je. Daß die Wiederbefestigung des Stalinismus in der DDR selbst Sekretäre des SED-Zentralkomitees zur Verzweiflung treiben konnte, bewies der Selbstmord Zillers am 14. Dezember 1957 nach einer Auseinandersetzung mit Ulbricht.

Der SED-Chef knüpfte dort an, wo er 1952 abbrechen mußte, war aber klug genug, sich nach der Ausbootung Molotows in der Sowjetunion gut mit Chruschtschow zu stellen.

Andere Länder Bulgarien Der Weg Bulgariens wurde durch den Wieder-aufstieg des Stalinisten Tscherwenkoff demonstriert. Tscherwenkoff war 1954 als Parteichef und 1956 auch als Ministerpräsident abgelöst worden. Aber 1958 konnte er bereits wieder die Mehrheit des Zentralkomitees für sich gewinnen, und im Dezember 1959 war er erneut der führende Mann auch im Politbüro der Kommunistischen Partei. Eine Regierungsumbildung sicherte seinen Anhängern die abermalige Vorherrschaft in den obersten Staatsbehörden.

Bulgarien nahm nun Pekinger Kurs. Im Herbst 1958 wurde ein „großer Sprung" verkündet, um den Übergang zum Kommunismus abzukürzen. Wie in China legte man die Kolchosen sowjetischen Typs zu großen Verbänden zusammen. Am 7. Dezember 1958 berichtete das Zentralorgan der Partei über die Gründung der ersten Volkskommune auf bulgarischem Boden. Doch schon am nächsten Tage erschien — offenbar auf sowjetischen Druck — ein Dementi.

Tscherwenkoff setzte gleichwohl seine Bemühungen fort, Bulgarien zu maoisieren. Noch im Januar 1959 pries er die chinesischen Volks-kommunen als Keime des Kommunismus. Gleichzeitig lobte er Mao Tse-tung: „Die Volkskommunen zeigen, daß die die marxistisch-leninistische Lehre meisterhaft anwendende Kommunistische Partei Chinas den rechten Weg des sozialistischen Aufbaus in China gefunden hat."

Ab März 1958 erhob Bulgarien Ansprüche auf das jugoslawische Mazedonien. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich, daß Nationalismus und Nationalkommunismus zweierlei sind. Dem Nationalismus geht es um die Befriedigung territorialer Ansprüche und um die Verwirklichung einer Reichsidee — in diesem Fall Großbulgariens —, beim Nationalkommunismus handelt es sich um die Lösung aus der sowjetischen Hegemonie und um eine neue Daseinsform des Kommunismus schlechthin, der in den stalinistischen Fesseln nicht mehr gedeihen kann. Der Nationalismus ist etwas Altes, der Nationalkommunismus etwas geschichtlich Neues. Sie sind verschiedenen Ebenen und Epochen der Politik zugeordnet. Natürlich können sie sich hier und da auch verbünden. Aber ihre Charaktere stimmen nicht überein. Tschechoslowakei In der Tschechoslowakei wurde die Revolte der Jugend abgebremst und die der Intelligenz gewaltsam unterdrückt. Statt des Stalinismus bekämpfte man den Revisionismus. Außerdem eröffnete die Parteiführung einen neuen Feldzug gegen den „bürgerlichen Nationalismus" unter den slowakischen Kommunisten. Einer von diesen hat später aufgedeckt, daß der hoffnungsvolle Entwicklungsprozeß durch Polizeimethoden unterbrochen wurde. Relativ glimpflich kam noch O. Pavlik — ehemaliger Präsident der slowakischen Akademie der Wissenschaften — davon; er hatte sich im Juni 1956 für eine Reform des Schulsystems eingesetzt und wurde im April 1957 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen.

Auch in der Tschechoslowakei gab es Ansätze einer Grundsatzdiskussion. Der Schriftsteller Svitak wies auf die Unvereinbarkeit von Propaganda und Wissenschaft, der Philosoph Bartos auf die Fragwürdigkeit des dialektischen Gesetzes der „Negation der Negation" hin. Sie wurden jedoch ebenso wie der Physiologe Bures, der gegen die unkritische Übernahme sowjetischer Theorien auftrat, zum Schweigen gebracht.

Gegen jede der verdächtigsten Bevölkerungsgruppen — Studenten, Schriftsteller und Wissenschaftler — sind damals besondere Repressalien eingeleitet worden. An den Universitäten ersetzte man die ordentlichen Aufnahmeprüfungen durch politische Kolloquien, die Einfuhr der polnischen Literatur-und Kultur-zeitschriften wurde verboten und die Mitarbeiter der Slowakischen Akademie der Wissenschaften mußten ab Mai 1959 politische Schulungskurse besuchen.

Rumänien Die rumänische Parteiführung wollte sich gegen eine Wiederholung der Unruhen unter der ungarischen Minderheit sichern. 1957 begann die Rumänisierung dieser Minderheit und ihres autonomen Gebiets. Zunächst jagte eine Säuberungswelle über Siebenbürgen und vor allem über Intellektuelle hinweg. An den ungarischen Schulen wurden rumänische Parallelklassen gebildet, während die ungarischen Klassen in gemischten Schulen aufgelöst werden mußten. Im Juli 1959 verlor die ungarische Bolyai-Universität durch Verschmelzung mit der rumänischen Babes-Universität ihre Selbständigkeit Was war aus dem Prinzip des proletarischen Internationalismus geworden?

Immerhin raffte sich nun auch Rumänien auf, ab Januar 1957 die bäuerliche Zwangsablieferung zu beenden. Im Herbst 1958 wurde aber die Zwangsarbeit wieder eingeführt. Dieses Land erschien der sowjetischen Führung so zuverlässig, daß sie im Sommer 1958 ihre Truppen aus Rumänien abzog.

Albanien Der albanische Parteiführer Hodscha stellte sich im Februar 1957 öffentlich hinter den ungarischen Stalinisten Rakosi, dessen Politik, wie Chruschtschow später sagen sollte, Budapest in ein Schlachthaus verwandelt hatte. Dennoch konnte im Mai 1959, als Chruschtschow Tirana besuchte, noch keine Trübung des sowjetisch-albanischen Verhältnisses festgestellt werden. Die albanischen Stalinisten freuten sich über das Wiederaufleben des Konflikts Moskau-Belgrad. Albanien hatte übrigens einen geringfügigen Anlaß benutzt, um am 16. August 1958 seinen Gesandten aus Jugoslawien abzuberufen und dieses Land zu beschuldigen, ein Terror-System zu unterhalten, das alle unterdrücke, die dem Marxismus-Leninismus treu geblieben seien. Djilas war hiermit sicher nicht gemeint.

Der Westkommunismus Im Westkommunismus setzte sich die Diskussion über den XX. Parteitag und über die sowjetische Intervention in Ungarn fort. Auch die Abfallbewegung ging weiter. Die Kommunistische Partei Italiens gab für das Kalenderjahr 1955/56 den Verlust von 20 000, für das Kalenderjahr 1956/57 aber den zehnfachen Verlust von 200 000 Mitgliedern zu. Noch schwerer traf sie die Kündigung der Aktionseinheit durch die Nenni-Sozialisten im Februar 1957. Nenni begründete die Kündigung damit, daß die italienischen Kommunisten, trotz des Interviews von Togliatti, die sowjetische Intervention in Ungarn gebilligt hätten. Hatte sich 1956 ein Zersetzungsprozeß erst in Schweden und Holland bemerkbar gemacht, so gerieten nun die kommunistischen Parteien weiterer Länder in den Strudel. Moskau stellte „revisionistische Gruppen" in Dänemark, Italien, Österreich, Brasilien, Kanada und in den USA fest. Ihre Gemeinsamkeiten bestanden in Sympathien für Jugoslawien, für die ungarische Revolution und den „polnischen Oktober".

Doch bliesen auch die Stalinisten zur Sammlung. Spaltung Kommunistischer Parteien.

In Schweden gründete der Stalinist Persson 1958 den „Kommunistischen Arbeiterverband", nachdem er den Eindruck gewonnen hatte, daß die Kommunistische Partei dem Revisionismus verfallen sei.

In Holland stellten die Anhänger Brugs eigene Kandidaten zu den Parlamentswahlen vom 12. März 1959 auf und erhielten als Sonderpartei rund 35 000 Wählerstimmen gegenüber 144 000 der offiziellen KP

In der Kommunistischen Partei Brasiliens, der stärksten Lateinamerikas, hatte das sowjetische Eingreifen in Ungarn zu einer großen Diskussion in der kommunistischen Presse geführt. Auf Parteibefehl sollte diese Diskussion Ende Februar 1957 abgebrochen werden. Als die Redakteure sich weigerten, wurden 26 von ihnen entlassen und die Büros der Redaktionen im Handstreich von der Parteiführung besetzt. Hierüber erbittert, erklärte das Präsidiumsmitglied Baräte seinen Austritt und bildete eine eigene Vereinigung, der sich außer Kommunisten und Sozialdemokraten auch Nationalisten anschlossen. Sie wurde durch den Parteichef Prestes, der sich 1924 bis 1927 durch seine Guerilla-Kolonne legendären Ruhm erworben hatte, zunächst heftig bekämpft, 1958 aber mehr und mehr unterstützt, so daß die Partei — nun aut den Gegendruck der Stalinisten hin — endgültig auseinander-fiel

Die dramatischste Entwicklung vollzog sich jedoch in Dänemark. Als einzige Kommunistische Partei Westeuropas schickte die KP dieses Landes eine Delegation zum Laibacher Pareitag der jugoslawischen Kommunisten, über Jen von Moskau aus der Boykott verhängt worden war. Die Entsendung der Delegation zeigte den Einfluß Aksel Larsens, der schon seit 1932 an der Parteispitze stand und die Kommunistische Partei dänisieren wollte. Dies stachelte den Widerstand der Stalinisten an, die noch den überwiegenden Einfluß besaßen und den Parteiapparat beherrschten. Im August 1958 setzten sie einen Beschluß des Zentralkomitees durch, wonach die grundlegenden Thesen des jugoslawischen Programms falsch und für die kommunistische Bewegung schädlich seien. Nun verfaßte und veröffentlichte Larsen im September 1958 ein Memorandum, das die bedingungslose Abhängigkeit der Kommunisten von der UdSSR und das Fortleben der stalinistischen Tradition kritisierte. Die Moskauer „Prawda" griff ihn als zweiten kommunistischen Parteiführer Westeuropas an. Dem folgten Attacken eines holländischen und eines SED-Stalinisten — erstmals kam es zu Zwistigkeiten zwischen den Kommunistischen Parteien des Westens. Chruschtschow schickte seinen Vertrauten Pospelow nach Kopenhagen, damit er auf Larsens Sturz hinarbeite: Tatsächlich wurde er am 15. November 1958 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Drei Monate später, am 15. Februar 1959, gründete er die Sozialistische Volkspartei. Rund 3000 Kommunisten — fast 20 u/o der gesamten Mitgliedschaft — gaben ihre Parteibücher zurück und traten in die neue Organisation ein Ihr schlossen sich auch unzufriedene Sozialdemokraten und linke Intellektuelle an. Im Grunde entstand die Sozialistische Volkspartei als eine Form des Nationalkommunismus.

Folgen der Ermordung Nagys im Westen Es ist aber zweifelhaft, ob Larsen Tausende von Kommunisten in seine neue Partei hätte mitziehen können, wenn der westliche Kommunismus Mitte 1958 nicht von einem dritten Schock heimgesucht worden wäre. Dieser Schock wurde durch die Hinrichtung Imre Nagys und seiner Gefährten in Ungarn ausgelöst. Waren 1956 vor allem intellektuelle Kräfte abgesprungen, so verließen nun auch zahlreiche Arbeiter die Kommunistischen Parteien. Ein führender italienischer Kommunist hat später eingestanden, daß es in Italien erst „nach einigen Jahren" möglich war, den abermaligen Rückschlag wettzumachen und „erneut beträchtliche Kräfte der Intelligenz und der Arbeiter zu gewinnen" Unter anderem trat der Kulturredakteur der „Unitä" zurück. In England erklärte Lewis Horner, kommunistischer Generalsekretär der Bergarbeiter-Gewerkschaft, daß er nicht länger schweigen könne. In Frankreich sah sich Henri Lefebvre, einer der brillantesten kommunistischen Theoretiker, zur weiteren Mitarbeit außerstande. In den USA trat das kommunistische Paradepferd, der Schriftsteller Howard Fast, demonstrativ aus der Partei aus.

In der Schweiz machte das Beispiel Dänemarks Schule, allerdings mit dem Unterschied, daß hier keine neue Partei, sondern eine überparteiliche Vereinigung entstand. Im Kanton Neuenburg wurde Ende 1958 gemeinsam von Kommunisten und Linkssozialisten eine „neue sozialistische Linke" gegründet, zu der ein erheblicher Teil der aktivsten Kommunisten stieß Im Kanton Genf protestierten zwei Redakteure der kommunistischen Parteizeitung durch ihren Rücktritt. Nach der „Neuen Zürcher Zeitung" war die Ermordung Nagys und Maleters der Tropfen, der das Gefäß ihrer Auflehnung zum Überfließen brachte.

Kommunistische war in Die Partei der USA ihrer Existenz bedroht. Drei führende Funktionäre — Gates, Charney, Schneidermann — wollten sich von der Sowjetunion auch durch die Trennung vom Begriff des Kommunismus distanzieren. Sie schlugen die Umwandlung der Partei in eine überparteiliche „Assoziation politischer Aktionen" vor, was ihnen auch beinahe gelungen wäre.

Der Nagy-Prozeß trieb die theoretische Besinnung des westlichen Kommunismus weiter voran. Auch hier setzte sich Larsen an die Spitze. Obwohl vor allem wegen seiner Solidarisierung mit Tito ausgeschlossen, ließ ein 1959 von ihm ausgearbeitetes Schriftstück erkennen, daß er sich dem Standpunkt von Djilas näherte, also ebenfalls vom Nationalkommunismus zum demokratischen Kommunismus überging. Er bezeichnete den Leninismus als veraltet, die Diktatur des Proletariats als falsch und den demokratischen Zentralismus als gefährlich. Das hätte Tito nicht unterschrieben, und damit waren auch die Prinzipien, auf die sich Chruschtschow berief, in Frage gestellt.

In Westeuropa rückten die Kommunistischen Parteien näher zusammen als jemals zuvor. Gewiß hat dieser neuen Entwicklung auch die am 1. Januar 1959 angelaufene Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zugrunde gelegen. Am 1. April 1959 fand eine erste Beratung westeuropäischer Kommunisten statt, deren Auftrag darin bestand, eine größere Konferenz vorzubereiten. Diese Konferenz trat im November 1959 in Rom zusammen. An ihr waren 17 Parteien beteiligt. Vertretern der SED wurde die Teilnahme verweigert So begann die Absonderung des westeuropäischen Kommunismus. Damit trat der Regionalismus als neuer Faktor auf, der die osteuropäische Revolution begünstigen sollte und zum Teil schon eines ihrer vielen Ergebnisse war. (wird fortgesetzt)

Fussnoten

Fußnoten

  1. Komsomolskaja Prawda, 16. 8. 1959.

  2. Mao Tse-tung, über die richtige Lösung von Widersprüchen im Volke, Peking 1959, S. 24.

  3. Ebenda, S 17.

  4. Ebenda, S. 11

  5. Ebenda, S. 20

  6. Ebenda, S. 9.

  7. Ebenda, S. 62.

  8. Jen Min Jih Pao, Peking, 31. 5. und 8. 6. 1957.

  9. Ebenda, 2. 6. 1957.

  10. Mehnert, Peking und Moskau, Stuttgart 1962, S. 240.

  11. Ostprobleme vom 21. 6. 1957, S. 625/26.

  12. Mehnert, Peking und Moskau, S. 246.

  13. Mao Tse-tung, Uber die richtige Lösung von Widersprüchen im Volke, S. 39.

  14. Z. B. in: Hing-tschi vom 1. 9. 1958 (Leitartikel).

  15. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18. 10. 1958.

  16. Tao Dschu, Volkskommunen auf dem Vormarsch, Peking 1965, S. 19.

  17. Mehnert, Peking und Moskau, S. 451.

  18. Jen Min Jih Pao, Peking, 6. 8. 1958.

  19. Mao Tse-tung, über die richtige Lösung von Widersprüchen im Volke, S. 68.

  20. Ostprobleme vom 13. 5 1960, S. 297.

  21. Mehnert, Peking und Moskau, S. 258.

  22. Osnabrücker Tagespost, 24. 12. 1958.

  23. Ostprobleme vom 28. 10. 1960, S. 692.

  24. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17. 11. 1959.

  25. H. Harrer, Sieben Jahre in Tibet.

  26. D A. Charles in: The China Quarteiey, London Nr 8/61.

  27. Po prostu 25/27.

  28. Kersten, Aufstand der Intellektuellen, S. 84/85.

  29. Po prostu, 5/57.

  30. Politica, Januar 1965.

  31. L. Kolakowski, Mensch ohne Alternative, S. 161.

  32. Ebenda, S. 158

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  37. Tribuna Ludu, Warschau, 11. 10. 1958.

  38. Ostprobleme vorn 15. 5. 1959, S. 319.

  39. Ungarn unter Sowjetherrschaft, S. 65.

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  42. E. Kiraly, Die Arbeiterselbstverwaltung in Ungarn, Aufstieg und Niedergang 1956— 58, München 1961, S. 79.

  43. Ebenda, S. 83.

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  45. Gosztony in: Politische Studien, Nov. /Dez. 1966, S. 706.

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  47. Ostprobleme vom 15. 8. 1958.

  48. New York Times, 21. 6. 1957.

  49. V. von Zsolnay in: Ungarn, zehn Jahre danach, S. 41.

  50. Ostprobleme vom 5. 2. 1960, S. 67.

  51. Ostprobleme vom 1. 4. 1960, S. 211,

  52. Djilas, Die neue Klasse, S. 239 ff.

  53. Löwenthal, Chruschtschow und der Weltkommunismus, S. 82.

  54. Das Programm des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, Belgrad 1958, S. 55.

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  57. Prawda, Moskau, 4. 6. 1958.

  58. Pravda, Bratislava, 11. 1. 1959.

  59. Sowjetwissenschaft, Ost-Berlin, Nr. 12/58.

  60. M. Jänicke, Der dritte Weg, S. 155.

  61. Einheit 5/57.

  62. M. Jänicke, Der dritte Weg, S. 144.

  63. W. Ulbricht, Die Sicherung des Friedens..., Ost-Berlin 1958, S. 11.

  64. Einheit (Ostbüro der SPD), Das Wort hat Dr. W. Harich, S. 10.

  65. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. 10. 1959.

  66. M. Hertwig, Die Wahrheit über Wolfgang Harieh und seine Freunde, S. 7.

  67. Die neue Opposition in der SED, Ostbüro der SPD, S. 9.

  68. Rabotnitschesko delo, Sofia, 15. 1. 1959.

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  71. H. Weber, Konflikte im Weltkommunismus, S. 270.

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