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"So eng wie Lippen und Zähne"? | China und seine Nachbarn | bpb.de

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"So eng wie Lippen und Zähne"? Chinas Beziehungen zu Nordkorea

Eric J. Ballbach

/ 14 Minuten zu lesen

Chinas Beziehungen zu Nordkorea sind komplex. Geprägt von historischen, ideologischen und strategischen Faktoren sind den bilateralen Beziehungen Grenzen gesetzt, die sich nicht zuletzt aus einer Priorisierung von Beijings Interessen im Hinblick auf Nordkorea ergeben.

Die koreanische Halbinsel ist immer wieder eine Quelle von Spannungen und Instabilität – insbesondere Nordkoreas Atomwaffenprogramm und sein aggressives außen- und sicherheitspolitisches Verhalten stellen eine Bedrohung nicht nur für die regionale Sicherheit dar. China, als Nordkoreas engster Verbündeter und wichtigster Handelspartner, spielt in dieser Dynamik eine entscheidende Rolle. Doch sind Chinas Beziehungen zu Nordkorea komplex und vielschichtig. Geprägt von historischen, ideologischen und strategischen Faktoren sind den bilateralen Beziehungen auch Grenzen gesetzt, die sich nicht zuletzt aus einer bestimmten Priorisierung von Beijings Interessen im Hinblick auf Nordkorea ergeben. So spricht sich China zwar konsequent gegen die Entwicklung des nordkoreanischen Atomprogramms aus, schätzt jedoch die Vermeidung von Chaos und Instabilität als noch wichtiger ein. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Haltung Beijings, dass ein zu starker Druck auf Pjöngjang letztlich nicht nur Chinas Einfluss auf Nordkorea einschränken würde, sondern sich auch als destabilisierend erweisen könnte. Die internationale Gemeinschaft sollte sich daher nicht zu sehr darauf verlassen, dass das nordkoreanische Nuklearproblem durch chinesischen Druck gelöst werden kann – zumal der strategische Wert Nordkoreas für Beijing im Zuge des sich zuspitzenden Konflikts zwischen China und den USA sowie des russischen Krieges gegen die Ukraine wieder zugenommen hat.

Historische Entwicklung

Die Geschichte der Beziehungen zwischen China und der koreanischen Halbinsel umfasst den Aufstieg und Fall von Dynastien, Kaiserreichen und modernen Staaten. Der Beginn der modernen Beziehungen lässt sich auf die Gründung der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK) 1948 und der Volksrepublik China (VRC) 1949 datieren. Unmittelbar nach der Gründung der VRC nahmen beide Länder am 6. Oktober 1949 diplomatische Beziehungen zueinander auf. Viele der Instrumente, die Kim Il Sung in Korea und Mao Zedong in China in den ersten Jahren ihrer Herrschaft einsetzten, bauten auf den Erfahrungen des jeweils anderen auf: Landreformen, der Aufbau eines Personenkults, zentrale Wirtschaftsplanung und die gemeinsame ideologische wie militärische Erfahrung des Kampfes gegen den "US-Imperialismus". Chinas Eingreifen in den Koreakrieg (1950–1953) bewahrte Kims Regime vor einer drohenden Niederlage und prägte fortan die "besonderen Beziehungen" beider Länder.

Dennoch waren jene Beziehungen oft turbulent und wurden in den frühen Jahren etwa durch die gezielte Ausschaltung opponierender Faktionen wie etwa der China nahestehenden Yanan-Gruppe belastet. In diesem Prozess wurden nicht nur potenzielle politische Rivalen mit engen Beziehungen nach China sowie zur Sowjetunion ausgeschaltet, sondern auch deren kultureller Einfluss zurückgedrängt. Dies geschah etwa durch das Verbot chinesischer Schriftzeichen in nordkoreanischen Zeitungen oder ein Sprachbereinigungsprogramm, im Zuge dessen chinesische Lehnwörter durch originär koreanische Begriffe ersetzt werden sollten. Zusätzlich tilgte Nordkorea im Zuge des Aufbaus eines monolithischen Führungssystems den Beitrag Chinas im Koreakrieg aus der nordkoreanischen Geschichtsschreibung. Mit der Chuch’e-Ideologie wurde sukzessive eine Staatsideologie etabliert, die die politische, wirtschaftliche und militärische Eigenständigkeit Nordkoreas betonte und insbesondere Lakaientum (sadae) gegenüber Großmächten strikt zurückwies.

Außenpolitisch manipulierte Kim Il Sung die zunehmende Spaltung zwischen der Sowjetunion und China sowohl als Vehikel für die Ausweitung der eigenen taktischen und strategischen Position als auch für die Sicherstellung von Hilfe. 1961 schloss Nordkorea zuerst mit der Sowjetunion den Vertrag über Freundschaft, Kooperation und gegenseitige Unterstützung ab und wenige Tage später mit China den Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand. Beide Abkommen sahen explizit auch die wechselseitige militärische Unterstützung im Falle eines bewaffneten Angriffs vor.

Dennoch wurden die sino-nordkoreanischen Beziehungen weiterhin von internen und externen Entwicklungen belastet, etwa von der plötzlichen Annäherung Beijings an Washington nach der Chinareise von US-Präsident Richard Nixon 1972, der Reform- und Öffnungspolitik der chinesischen Führung unter Deng Xiaoping ab Dezember 1978, Chinas faktischer Akzeptanz des Status quo einer geteilten Halbinsel durch die Annäherung an Seoul sowie der strikten Ablehnung einer militärisch erwirkten Wiedervereinigung der Halbinsel durch den Norden. Ferner kritisierte Beijing die geplante erbliche Machtübergabe von Kim Il Sung an Kim Jong Il als "Überbleibsel des Feudalismus".

Nach dem Ende des Kalten Krieges gipfelten die Spannungen zwischen beiden Staaten in dem, was Nordkorea als den "größten Verrat Chinas" betrachtete: die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Südkorea 1992. Mit der Entscheidung, den Handel mit dem Norden von konzessionellen Vereinbarungen und Tauschgeschäften auf einen Marktansatz umzustellen, wurde schließlich "das letzte Band der 'brüderlichen' politischen Grundlage der chinesisch-nordkoreanischen Beziehungen durchschnitten", und die "strategischen, wirtschaftlichen und politischen Grundlagen der 'besonderen Beziehung' zwischen China und Nordkorea" brachen zusammen. Während der chinesische Handel mit Südkorea rapide expandierte, nahm die Bedeutung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Nordkorea immer weiter ab. Wenngleich die historischen und ideologischen Bande, die China und Nordkorea einten, an relativer Bedeutung einbüßten, verschwanden sie doch nie vollständig.

Der Verlust der sowjetischen Unterstützung und die kumulierten Auswirkungen der verfehlten Wirtschaftspolitik führten Mitte der 1990er Jahre in Nordkorea zu einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise und einer Hungersnot. Um einen ökonomischen und politischen Kollaps Nordkoreas zu verhindern, stimmte China großzügigeren Bedingungen für seine Nahrungsmittel- und Treibstoffexporte nach Nordkorea zu. Auch wenn der bilaterale Handel insgesamt eingebrochen war, wuchs die Abhängigkeit Nordkoreas von China damit sukzessive an. Hierzu trugen letztlich auch die sich verschlechternden diplomatischen Beziehungen Nordkoreas zu seinen weiteren Nachbarn bei.

Nach Nordkoreas erstem Atomtest 2006 stimmte China für die UN-Sanktionen, die den Export von Luxusgütern und bestimmten Waffen nach Nordkorea untersagten und die Bereitstellung von Finanzmitteln einschränkten. Dennoch stieg der bilaterale chinesisch-nordkoreanische Warenhandel sprunghaft an. Trotz des Scheiterns diplomatischer Bemühungen zur Beilegung des Konflikts um Nordkoreas Nuklearprogramm und des zweiten nordkoreanischen Atomtests 2009 sowie der provokativen Militäraktionen Nordkoreas gegen Südkorea im darauffolgenden Jahr setzte sich China zu jener Zeit für eine Vertiefung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Nordkorea ein. Diese Annäherung geschah vermutlich auch vor dem Hintergrund von Kim Jong Ils Schlaganfall im August 2008 und des damit verbundenen verkürzten Nachfolgeplans, um einen stabilen Machtwechsel zu gewährleisten. Der Besuch des damaligen chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao in Pjöngjang 2009 signalisierte diesen Politikwechsel. Kim Jong Il reiste 2010/11 insgesamt viermal nach China. In diesem Zeitraum wuchs auch der bilaterale chinesisch-nordkoreanische Warenhandel von 1,7 Milliarden US-Dollar 2006 auf 6 Milliarden US-Dollar im Jahr 2012. Chinas Anteil am nordkoreanischen Handel machte 2006 fast 40 Prozent, 2012 fast 70 Prozent des nordkoreanischen Außenhandels aus.

Beziehungen unter Xi Jinping und Kim Jong Un

Nachdem in den letzten Lebensjahren von Kim Jong Il ein verstärkter Kontakt und Austausch geherrscht hatte, kehrten die bilateralen Beziehungen nach dem Führungswechsel in beiden Ländern zu Beginn der 2010er Jahre wieder zu ihrem früheren Muster zurück: "kaltherziges Lächeln in der Öffentlichkeit und Äußerungen kaum verhohlener Verachtung hinter den Kulissen". Zusätzlich zu Nordkoreas immer provokanterem Verhalten im Zuge der Nuklearfrage wuchsen die Spannungen zwischen beiden Ländern auch aufgrund von Kims Vorgehen gegen potenzielle politische Herausforderer, die eng mit China verbunden waren. 2013 ließ Kim Jong Un seinen Onkel Jang Song Thaek hinrichten, der der chinesischen Führung nahestand. 2017 ordnete er die Ermordung seines Halbbruders Kim Jong Nam an, der angeblich unter chinesischem Schutz in Macau gelebt hatte. Diese Aktionen lösten in Chinas sicherheitspolitischer Community eine bis dato beispiellose Debatte über den Wert und Nutzen enger Beziehungen zu Nordkorea aus. Am 27. Februar 2013 veröffentlichte Deng Yuwen, ein einflussreicher chinesischer Journalist und ehemaliger stellvertretender Herausgeber der Zeitschrift der Zentralen Parteischule "Xuexi Shibao", einen Beitrag in der "Financial Times" mit dem Titel "China Should Abandon North Korea". Nicht wenige Beobachter sahen dies als Anzeichen für einen grundlegenden Kurswechsel der chinesischen Nordkoreapolitik, nach dem Beijing Nordkoreas Provokationen nicht länger dulden würde.

Die Kluft zwischen der VRC und der DVRK vergrößerte sich weiter, als Nordkorea 2017 seinen sechsten und bisher stärksten Atomwaffen- und mehrere Raketentests durchführte, die zum Teil mit wichtigen diplomatischen Anlässen Chinas zusammenfielen. Als Reaktion stimmte Beijing der Durchsetzung einer Reihe von UN-Sanktionen zu, die etwa die Einfuhr nordkoreanischer Kohle und Textilien untersagten, Vermögenswerte nordkoreanischer Personen und Institutionen einfroren, die Ausfuhr von Erdöl und Erdgas nach Nordkorea stark einschränkten und die Rückführung nordkoreanischer Arbeitsmigranten vorsahen.

Die Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte zwischen den USA und der DVRK ab 2018 führte zu einem neuerlichen Wandel der chinesischen Politik gegenüber Nordkorea. Diesem lag die Überlegung zugrunde, dass sowohl China als auch Nordkorea von der Wiederherstellung der bilateralen Beziehungen und der Koordinierung der Positionen vor dem geplanten Gipfeltreffen zwischen US-Präsident Donald Trump und Kim profitieren würden. Zwischen März 2018 und Juni 2019 kamen der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Xi Jinping, und Kim zu insgesamt fünf Gipfeltreffen zusammen. Damit demonstrierte Xi, dass China seinen Einfluss auf seinen Nachbarn nicht verloren hatte, dass es die Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel mitbestimmen konnte und wollte und dass eine Lösung der Nordkoreafrage letztlich nicht ohne China erzielt werden kann. Im Anschluss an das erste Treffen zwischen Trump und Kim traf Xi mit Kim zusammen, lobte die "positiven Ergebnisse" des Gipfels und bekräftigte Chinas Unterstützung für Nordkorea, "unabhängig davon, wie sich die internationale und regionale Lage entwickelt".

China setzte seine Bemühungen um die Wiederherstellung der Beziehungen seit 2020 fort, nachdem Nordkoreas Außenhandel während der Covid-19-Pandemie fast vollständig zum Erliegen gekommen war. Bereits im Januar 2020 versetzte die nordkoreanische Führung das Land in einen strikten Lockdown, um eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus zu verhindern. Nach Angaben der südkoreanischen Zentralbank schrumpfte Nordkoreas Wirtschaft 2020 um 4,5 Prozent auf ein Bruttoinlandsprodukt von etwa 29,7 Milliarden US-Dollar.

Im Gegensatz zur chinesischen Kritik vor allem 2017 lobte Xi in einer Botschaft an Kim Jong Un im Oktober 2020 die "bemerkenswerten Errungenschaften des Kim-Regimes beim Aufbau (…) des Sozialismus" und hob insbesondere Kim Jong Uns "starke Führung" hervor. Anfang 2021 berichteten chinesische Staatsmedien, dass Kim mit Xi Botschaften ausgetauscht habe, in denen die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen China und Nordkorea angesichts des neu wahrgenommenen Drucks seitens der USA betont wurde. In einer mehr als symbolischen Geste öffnete die DVRK Ende März 2023 erstmals seit Beginn der Pandemie die Grenze für eine einreisende Person: den neuen chinesischen Botschafter in Nordkorea, Wang Yajun.

Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine und der Zuspitzung des Konflikts zwischen den USA und China hat sich auch die strategische Lage in Nordostasien geändert und der strategische Wert Nordkoreas hat sich für Beijing – und Moskau – erneut erhöht. Dabei sind die heutigen Beziehungen weniger durch eine besondere ideologische Bindung gekennzeichnet als von dem geteilten Interesse, den US-amerikanischen Einfluss in der Region zurückzudrängen. Aus Chinas Sicht kann Nordkorea als force multiplicator dienen, um Amerikas Position im Pazifik herauszufordern. "Einfach ausgedrückt: Je mehr Länder bereit sind, die von den USA geführte Sicherheitsordnung im indopazifischen Raum herauszufordern oder zu erschweren, desto besser."

Nukleare Diplomatie

Als Nordkorea 1993 seinen Austritt aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen ankündigte und die sogenannte Erste Nuklearkrise provozierte, die beinahe in einem Krieg eskalierte, reagierte China relativ zurückhaltend. Beijing unterstützte zwar die Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel und widersetze sich dem angedrohten Austritt Nordkoreas aus dem Atomwaffensperrvertrag, sprach sich jedoch gegen die Verhängung von Sanktionen zur Lösung des Problems aus. Die Übernahme einer weitergehenden Rolle im diplomatischen Prozess zur Entschärfung der Nuklearkrise lehnte China hingegen ab – entgegen den Erwartungen der USA, die den Schlüssel zur Lösung der Nordkoreakrise in Beijing sahen. Entsprechend war Beijing auch kein Akteur in jenen Gesprächen, die 1994 zu dem zwischen den USA und Nordkorea vereinbarten Genfer Rahmenabkommen über das nordkoreanische Atomprogramm führten. Zwischen 1997 und 1999 nahm China neben den USA sowie Nord- und Südkorea jedoch an den Vier-Parteien-Gesprächen teil, die darauf zielten, die Beziehungen zwischen den USA und Nordkorea zu normalisieren und das Waffenstillstandsabkommen von 1953 durch einen Friedensvertrag zu ersetzen – ein Format, das letztlich ergebnislos blieb.

Im Gegensatz zur Ersten Nuklearkrise griff Beijing in der im Oktober 2002 beginnenden Zweiten Nuklearkrise nun aktiv in die diplomatischen und politischen Bemühungen zu ihrer Beilegung ein. Nachdem die USA unter der Administration von Präsident George W. Bush bilaterale Verhandlungen mit Nordkorea strikt abgelehnt hatten und unter dem Eindruck der dramatischen Verschärfung der US-DVRK-Beziehungen, versuchte Beijing die weit auseinanderliegenden Positionen Washingtons und Pjöngjangs mittels "Pendeldiplomatie" zu überbrücken, um eine militärische Auseinandersetzung auf der koreanischen Halbinsel zu verhindern. Nach einer gescheiterten Verhandlungsrunde zwischen den drei Akteuren im April 2003 gelang es China mit einer Kombination aus Warnungen und Zusicherungen, Nordkorea im Juli 2003 zur Zustimmung zu einem mit den USA und Südkorea abgestimmten Vorschlag zu bewegen, die trilaterale Initiative durch die Einbeziehung Russlands, Japans und Südkoreas zu den sogenannten Sechs-Parteien-Gesprächen (Six-Party Talks, 6PT) auszuweiten. Als primäre Plattform für die Verhandlungen mit Nordkorea sollten die 6PT parallel zur Denuklearisierungsfrage auch weitere Themen wie die Normalisierung der US-DVRK-Beziehungen adressieren, wobei Beijing die Ansicht vertrat, dass Nordkorea im Gegenzug für seine Denuklearisierung Sicherheitsgarantien und wirtschaftliche Vorteile erhalten sollte. Trotz einiger Fortschritte kollabierte der multilaterale Prozess jedoch 2009, nicht zuletzt aufgrund nicht zu überbrückender Meinungsunterschiede zwischen den USA und Nordkorea, weiterer Provokationen durch Pjöngjang und dem nach wie vor ausgeprägten Misstrauen zwischen den beteiligten Akteuren.

Als der Nuklearkonflikt ab 2017 erneut zu eskalieren drohte, unterstützte China einerseits zwar den bilateralen Verhandlungsansatz zwischen den USA und Nordkorea, war jedoch gleichermaßen darauf bedacht, die Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel mitzubestimmen, wie es nach den Gipfeltreffen zwischen Xi und Kim zum Ausdruck kam.

Chinas strategische Interessen

China war, ist und wird auch weiterhin entschlossen sein, die entscheidenden Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel im Sinne der eigenen Interessen mit zu beeinflussen. Chinesische Beamte fassen die grundlegende Nordkoreapolitik des Landes mit den drei Neins zusammen: kein Krieg, kein Chaos, keine Atomwaffen. Demnach ist die Vermeidung von Krieg und Instabilität an der chinesischen Grenze ganz deutlich die oberste Priorität für Beijing, gefolgt von der Aufrechterhaltung stabiler Beziehungen zu Nordkorea und schließlich der Denuklearisierung Nordkoreas sowie weiteren langfristigen Zielen wie dem Abbau der US-Truppenpräsenz in Südkorea.

Kein Krieg und kein Chaos

Für China ist das Ziel vorrangig, Instabilität in Nordkorea zu vermeiden. Zu den potenziellen Bedrohungen gehören neben militärischen Konflikten auch jene eines Kollapses des nordkoreanischen Regimes, Flüchtlingsströme, der Ausbruch von Krankheiten, Naturkatastrophen, der Zusammenbruch der nordkoreanischen Wirtschaft, Atomwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen, die in unzuverlässige Hände fallen, und radioaktiver Niederschlag bei einem Atomschlag auf der Halbinsel oder bei nordkoreanischen Atomtests. Wie 2017 die negative Reaktion Chinas auf die Stationierung des Terminal High Altitude Area Defense Raketenabwehrsystems in Südkorea durch die USA zeigt, ist Beijing zudem äußerst sensibel mit Blick auf eine Nutzung südkoreanischen Territoriums, die Chinas Sicherheitsinteressen beeinträchtigt.

Denuklearisierung

Trotz der Priorisierung der Vermeidung von Instabilität und Chaos bleibt die Beseitigung des nordkoreanischen Atomprogramms für Beijing ein wichtiges außen- und sicherheitspolitisches Ziel. Obwohl sich China konsequent gegen die Entwicklung des nordkoreanischen Atomprogramms ausspricht, zeigt es grundlegendes Verständnis für die nordkoreanischen Sicherheitsinteressen. China teilt Nordkoreas Sicht, dass das Gefühl der Unsicherheit Pjöngjangs primär das Ergebnis einer feindlichen Politik der USA und der Republik Koreas seit dem Ende des Koreakrieges 1953 sei. Vor diesem Hintergrund meinen einige Beobachter, China wolle, dass Nordkorea seine Atomwaffen behält, um den USA Probleme zu bereiten. Doch diese Einschätzung berücksichtigt nicht das Ausmaß der Sicherheitsherausforderungen, die das nordkoreanische Nuklearprogramm letztlich für China darstellt. Beijing betrachtet ein nukleares Nordkorea als destabilisierend, weil es eine Begründung für US-Militäreinsätze und mögliche Interventionen in der Region liefert, regionale Akteure wie Japan und Südkorea dazu veranlasst, ihre Verteidigungskapazitäten zu stärken und den Ruf nach der Entwicklung eigener nuklearer Fähigkeiten in diesen Ländern aufkommen lässt – all dies ist den strategischen und sicherheitspolitischen Interessen Chinas abträglich. Beijing bevorzugt daher weiterhin ein schrittweises Vorgehen, einen zweigleisigen Prozess, um sowohl die Denuklearisierung voranzutreiben als auch ein Friedensregime auf der koreanischen Halbinsel zu realisieren.

Stabile Beziehung zu Nordkorea

China strebt eine Beziehung zu Nordkorea an, die es Beijing ermöglicht, die Stabilität an seiner Grenze zu wahren und die Entwicklungen auf der Halbinsel zu beeinflussen. China betrachtet eine solche Beziehung nicht als unvereinbar mit dem Ziel der Denuklearisierung. Dabei sind sozialistische Solidarität und historische Bindungen für Xi weitaus weniger wichtig als eine berechenbare Beziehung, die es Beijing ermöglicht, seinen Einfluss auf das Regime in Pjöngjang zu wahren. Obwohl der 1961 geschlossene Vertrag über gegenseitigen Beistand 2021 erneuert wurde, bleibt der Status dieses Vertrags unklar. Infolgedessen ist strittig, wie oder ob China Nordkorea in einer Krise tatsächlich militärisch unterstützen würde. China hat auch angedeutet, dass es bei der Reaktion auf Ereignisse in Nordkorea im Einklang mit seinen eigenen Interessen handeln werde. Die staatliche "Global Times" erklärte 2017 in einem Leitartikel, dass China Nordkorea nicht zu Hilfe kommen würde, wenn Pjöngjang Raketen auf amerikanisches Territorium abschießen und Vergeltungsmaßnahmen erleiden würde. Sollte es zu einem Konflikt auf der Halbinsel kommen, wird sich das chinesische Militär möglicherweise nicht zum Schutz des nordkoreanischen Regimes engagieren, sondern primär seine eigenen Interessen schützen und sicherstellen.

Einfluss und Prestige

China strebt eine Schlüsselrolle bei den Friedensverhandlungen mit Nordkorea an, weil es Einfluss auf die Entwicklung der Lage auf der Halbinsel nehmen will, sowohl in Hinblick auf seine unmittelbaren Sicherheitsinteressen als auch im Rahmen seines breiteren geopolitischen Wettbewerbs mit den USA. Indem China ein wichtiger Akteur in den internationalen Verhandlungen bleibt, kann es einen gewissen Einfluss auf den Prozess behalten. Gleichzeitig möchte China die Nordkoreafrage nutzen, um sein eigenes regionales und internationales Ansehen als Akteur der internationalen Politik zu verbessern, der zur Lösung der dringendsten globalen Probleme beitragen kann.

Fazit

Die VRC, so lässt sich regelmäßig vernehmen, besitze den Schlüssel zur Lösung der Nuklearfrage auf der koreanischen Halbinsel, da letztlich nur Beijing über den notwendigen politischen Einfluss und entsprechende wirtschaftliche Druckmittel verfüge, um die DVRK zur Aufgabe ihres Nuklearprogramms zu bewegen.

Doch trotz historischer ideologischer Bande, einer vertraglichen Allianz und einer mitunter engen wirtschaftlichen Beziehung überdeckt die insbesondere von chinesischer Seite wiederholt bemühte Beschreibung einer "in Blut besiegelten" Beziehung, "so eng wie Lippen und Zähne", oft eine Realität asymmetrischer Abhängigkeit sowie gegenseitigen Misstrauens, Ressentiments und sogar Antipathie.

Zweifelsohne besitzt China einen mit keinem anderen Land zu vergleichenden Zugang zu Nordkorea und angesichts der Abhängigkeit Pjöngjangs von chinesischer Wirtschaftshilfe und dem Handel mit China über beispiellose wirtschaftliche Druckmittel. Doch letztlich kann China diese wirtschaftlichen Druckmittel nicht oder nur sehr bedingt politisch einsetzen. Denn auch wenn Beijing das Ziel der Denuklearisierung Nordkoreas mit der internationalen Gemeinschaft teilt, so bleibt die Vermeidung von Chaos und Instabilität sowie die Sicherstellung von Beijings Einfluss auf Nordkorea oberste Priorität. Die Nutzung von Nordkoreas ausgeprägter wirtschaftlicher Abhängigkeit als politisches Druckmittel birgt für Beijing daher die Gefahr, exakt die befürchteten Instabilitäten selbst zu forcieren. China besitzt daher ein strategisches Interesse daran, den nordkoreanischen Staat intakt zu halten, während Pjöngjang auf Beijing als entscheidende Quelle wirtschaftlicher und diplomatischer Unterstützung angewiesen ist. Die Wahrnehmung, dass China den Druck auf Nordkorea erhöhen und politischen Einfluss auf Nordkorea ausüben könne, um Pjöngjang zur Aufgabe seines Nuklearprogramms zu bewegen, entbehrt vor diesem Hintergrund letztlich jeglicher realistischen Grundlage – insbesondere, da sich mit der zunehmenden Rivalität zwischen China und den USA der strategische Wert Nordkoreas jüngst wieder spürbar vergrößert hat.

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ist promovierter Politikwissenschaftler und Korea Foundation Fellow in der Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
E-Mail Link: eric.ballbach@swp-berlin.org