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1923 als Schlüsseljahr für 1933? | Deutschland 1933 | bpb.de

Deutschland 1933 Editorial Die Krise der Welt - 1933 und 2023 1923 als Schlüsseljahr für 1933? Ausnahmerecht, Gewalt und Selbstgleichschaltung. Die "Machtergreifung" der NSDAP 1933 "Alles erstirbt in Angst". Deutsche Juden im ersten Jahr der NS-Herrschaft 1933 in globalgeschichtlicher Perspektive Der Aufschwung der Anderen. Weimars ökonomische Krisenherde und der Aufstieg des Nationalsozialismus Medien und Propaganda 1933

1923 als Schlüsseljahr für 1933?

Volker Ullrich

/ 17 Minuten zu lesen

Das Jahr 1923 war in Deutschland von einer galoppierenden Inflation, der Ruhrbesetzung, politischer Polarisierung sowie Umsturzplänen von links und rechts gekennzeichnet. Dennoch führt kein gerader Weg zur Machtübertragung an die Nationalsozialisten zehn Jahre später.

Er glaube, Geschichte gründlich zu kennen, schrieb der Schriftsteller Stefan Zweig in seiner im Exil verfassten Autobiografie "Die Welt von gestern", doch seines Wissens habe sie "nie eine ähnliche Tollhauszeit von solchen riesigen Proportionen produziert". Die Rede war von 1923 – einem Jahr, in dem die Geldentwertung in Deutschland schwindelerregende Ausmaße annahm, das politische System dem Kollaps nahe war, rechte und linke Extremisten zum Sturm auf die Republik ansetzten und separatistische Bestrebungen im Rheinland den Bestand des Reiches bedrohten. Im Herbst 1923 stand das Land buchstäblich am Abgrund. Schon Zeitgenossen erschien es fast wie ein Wunder, dass die erste deutsche Demokratie diese existenzielle Gefährdung überlebte.

Ruhrbesetzung

Das Jahr hatte bereits mit einem Paukenschlag begonnen. Am 11. Januar waren französische und belgische Truppen ins Ruhrgebiet einmarschiert. Zur Begründung wurde angeführt, dass die deutsche Regierung ihren im Friedensvertrag von Versailles übernommenen Verpflichtungen zur Lieferung von Schnittholz, Telegrafenstangen und Kohle nicht nachgekommen sei. Doch das war ein Vorwand. In Wirklichkeit ging es Frankreich darum, Deutschland in seiner Wirtschaftskraft nachhaltig zu schwächen, indem es das wichtigste deutsche Industrierevier unter seine Kontrolle brachte. Auf diesem Wege hofften die maßgeblichen französischen Politiker und Militärs, allen voran Ministerpräsident Raymond Poincaré, doch noch erreichen zu können, was ihnen in Versailles wegen des Widerstands der Amerikaner und Briten verwehrt geblieben war: die Abtrennung der linksrheinischen Gebiete vom Deutschen Reich und damit Sicherheit vor dem potenziell gefährlichen Nachbarn im Osten auf erdenkliche Zeit.

Die Ruhrbesetzung löste in Deutschland einen Aufschrei der Empörung und eine Welle nationaler Solidarität aus. "Im Augenblick ist jeder Klassenhass der Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber durch die patriotische Welle hinweggeschwemmt worden. Das ganze Land scheint in einer Einheit verschmolzen", beobachtete der britische Botschafter in Berlin, Edgar Vincent D’Abernon. Die deutsche Regierung unter Reichskanzler Wilhelm Cuno, vormals Generaldirektor der Hamburger Großreederei Hapag, unterbrach alle Reparationsleistungen an Frankreich und Belgien und rief die Bevölkerung zum "passiven Widerstand" auf. Die Besatzungsmächte antworteten mit rigorosen Gegenmaßnahmen. Beamte, die ihren Befehlen nicht Folge leisteten, wurden ausgewiesen, Betriebe stillgelegt, Lieferungen von Kohle aus dem besetzten Gebiet in das Reich untersagt, Kundgebungen und Streiks verboten, Zeitungen unter Vorzensur gestellt. Auf Verstöße gegen ihre Anordnungen reagierten die Besatzungstruppen mit großer Härte. Bei gewaltsamen Zusammenstößen gab es immer wieder Tote.

Dadurch sahen sich jene Kräfte in Deutschland ermutigt, die nur darauf warteten, vom passiven in den aktiven Widerstand überzugehen. Im März und April verübten Sabotagekommandos zahlreiche Sprengstoffanschläge auf Eisenbahnanlagen im besetzten Gebiet. Einer der Terroristen, der ehemalige Freikorpskämpfer Albert Leo Schlageter, wurde im Mai von einem französischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt und erschossen. Die gesamte politische Rechte, von den Deutschnationalen bis zu den Nationalsozialisten, feierte Schlageter als nationalen Märtyrer. Der Dramatiker Hanns Johst, der spätere Präsident der NS-Reichsschrifttumskammer, widmete ihm ein Schauspiel, das ihn als "Ersten Soldaten des Dritten Reiches" verklärte. Die Uraufführung sollte am 20. April 1933, Hitlers erstem Geburtstag als Reichskanzler, im Staatlichen Schauspielhaus Berlin stattfinden.

Im Laufe des Frühjahrs und Frühsommers 1923 wurde deutlich, dass der passive Widerstand auf Dauer nicht durchzuhalten war. Denn er verursachte ungeheure Kosten. Die ausgewiesenen Beamten mussten unterstützt, die Löhne der Arbeiter in den stillgelegten Betrieben fortgezahlt werden. Gleichzeitig brachen die Steuereinnahmen aus dem besetzten Gebiet weg. Den steigenden Finanzbedarf deckte die Regierung durch eine hemmungslose Betätigung der Notenpresse. Die Verschuldung des Reiches stieg sprunghaft an, und mit ihr beschleunigte sich der Verfall der deutschen Währung.

Inflation

Die Inflation hatte bereits im Weltkrieg eingesetzt. Das Deutsche Reich hatte den Krieg nicht durch eine Erhöhung der Steuern, sondern überwiegend durch inländische Anleihen finanziert – in der irrigen Annahme, dass man dem besiegten Gegner die Rückzahlung aufbürden könne. Und die demokratischen Nachkriegsregierungen hatten keine Anstrengungen unternommen, um den Haushalt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die Inflationspolitik bot einen doppelten Vorteil: Einerseits konnten dadurch soziale Leistungen finanziert und radikale Tendenzen in der Arbeiterschaft aufgefangen werden; andererseits war sie ein probates Mittel, um den Alliierten die Unerfüllbarkeit ihrer Reparationsforderungen vor Augen zu führen.

Die Entwertung der Währung verlief zunächst schleichend und dann in immer schnellerem Tempo. "Wie die Fieberkurve eines Schwerkranken zeigt der Dollarstand täglich den Fortschritt unseres Verfalls", bemerkte der Diplomat und Kunstmäzen Harry Graf Kessler Anfang November 1922, als für einen Dollar bereits 9.000 Mark gezahlt werden mussten. Zwischen Februar und April 1923 gelang es der Reichsbank noch einmal, den Außenwert der deutschen Währung bei rund 21.000 Mark für einen Dollar zu stabilisieren. Danach aber setzte sich der Sturz ins Bodenlose fort. Ende Juli notierte der Dollar bereits mit über einer Million Mark.

Parallel dazu stiegen die Preise nicht nur täglich, sondern stündlich. Anfang August hielt der an der Technischen Hochschule in Dresden lehrende Romanist Victor Klemperer eine bezeichnende Episode fest: Auf der Rückfahrt von ihrem Urlaub an der Ostsee bestellte seine Frau Eva in einem Wartesaal eine Tasse Kaffee: "Die Preistafel zeigte 6.000 M. Das verschwand, während sie trank. Beim Kassieren verlangte der Kellner 12.000. Sie sagte, es hätte doch vorhin dort 6.000 gestanden. Ach, Sie waren schon während des alten Preises hier? Dann zahlen Sie 6.000!"

Die Hyperinflation traf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlich hart. Zu den Verlierern gehörten vor allem Sparer und jene Bürger, die Kriegsanleihen gezeichnet hatten und nun mitansehen mussten, wie sich ihre Vermögen buchstäblich in Nichts auflösten. Schwer zu leiden hatten auch die Rentner und Empfänger öffentlicher Unterstützungen, weil die Zahlungen immer erst verzögert und unzureichend der galoppierenden Geldentwertung angepasst wurden. Das galt auch für Beamte, Angestellte und Arbeiter, die feste Monatsgehälter bezogen. Eindeutig privilegiert waren hingegen die Sachwertbesitzer, deren Vermögen an Grund- und Hausbesitz unangetastet blieb, sowie alle, die Schulden gemacht hatten und diese nun mit wertlosem Geld abtragen konnten. Zu den Inflationsgewinnern zählten vor allem die industriellen Großunternehmen. Ihr Anlagevermögen blieb stabil, und sie erhielten billige Kredite, die es ihnen erlaubten, für einen Spottpreis Fabrikanlagen, Immobilien und ganze Firmen zu erwerben. Besonders skrupellos ging der Ruhrindustrielle Hugo Stinnes vor. Er kaufte zusammen, was nur zu kaufen war: Betriebe, Landgüter, Schiffe, Hotels, Zeitungen. So entstand ein riesiges Wirtschaftsimperium, wie man es in Deutschland noch nicht gekannt hatte. Es gebe im ganzen Land keinen zweiten, schrieb die Zeitschrift "Die Weltbühne" im März 1922, der "soviel Macht in seiner Hand zusammengeballt hat wie Hugo Stinnes".

Nicht nur das Geld verlor weitgehend seinen Wert. Auch bisher gültige Normen und Werte erfuhren eine fundamentale Entwertung. Tugenden wie Sparsamkeit, Rechtschaffenheit und Gemeinsinn verloren ihre Verbindlichkeit; Egoismus, Skrupellosigkeit und Zynismus waren Trumpf. Der Verlust des Vertrauens in die Währung zog den Verlust des Vertrauens in die bestehende politische und gesellschaftliche Ordnung nach sich. Worauf war denn noch Verlass, wenn das möglich war? Diese Frage stellte sich wie viele Angehörige seiner Generation auch der damals 17-jährige Klaus Mann, der älteste Sohn Thomas Manns. "Unser bewusstes Leben begann in einer Zeit beklemmender Ungewissheit", schrieb er in seiner Autobiografie "Der Wendepunkt". "Da um uns herum alles barst und schwankte, woran hätten wir uns halten, nach welchen Gesetzen orientieren sollen?"

Da die Zukunft ungewiss war, lebten viele Menschen für den Genuss des Augenblicks. "Nach uns die Sintflut" lautete die Devise. Die Vergnügungsindustrie boomte wie nie zuvor. Clubs, Bars, Nachtlokale schossen wie Pilze aus dem Boden. Eine wahre "Tanzwut" griff um sich. Nacktheit wurde mit einer nie zuvor gekannten Freizügigkeit zur Schau gestellt. In Berlin machte die Nackttänzerin Anita Berber Furore. Grell geschminkt, dem Kokain zugeneigt, verkörperte die knabenhaft schlanke, dunkle Schönheit wie keine zweite die fiebrige Atmosphäre der Inflationszeit.

Luxus und Vergnügungsgier der Neureichen kontrastierten scharf mit dem Elend der breiten Masse der Bevölkerung. Das Geld, über das man verfügte, möglichst rasch auszugeben, bevor es weiter an Wert verlor, wurde zu einer Überlebensfrage. In Phasen besonders schneller Teuerung kam es zu regelrechten "Kaufpaniken". Vielerorts griffen die notleidenden Menschen zur Selbsthilfe und plünderten Gemüseläden und Bäckereien. Wie die überkommenen Moralvorstellungen lösten sich auch die traditionellen bürgerlichen Eigentumsbegriffe auf. Kriminalitätsdelikte nahmen im selben Tempo zu, wie der Wert der Mark verfiel. Eine "Art Alltagsanarchismus", ein Kampf aller gegen aller, war die Folge.

Politische Zerreißproben

Bis Sommer 1923 hatte die fortschreitende Verelendung eine explosive Stimmung aus Erbitterung und Verzweiflung erzeugt. Sie entlud sich in einer Serie von Streiks. Am 13. August trat Reichskanzler Cuno, der mit seiner Politik auf ganzer Linie gescheitert war, zurück. Reichspräsident Friedrich Ebert beauftragte den Vorsitzenden der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP), Gustav Stresemann, mit der Nachfolge. Der rhetorisch brillante Parlamentarier, der sich nach 1918 von einem Herzensmonarchisten zum Vernunftrepublikaner gewandelt hatte, bildete eine Große Koalition aus DVP, linksliberaler Deutscher Demokratischer Partei (DDP), katholischem Zentrum und SPD. "Noch niemals zuvor hat eine Regierung ihr Amt in einem schwierigeren Augenblick übernommen als dem gegenwärtigen", berichtete der österreichische Gesandte Richard Riedl aus Berlin. Die Probleme, vor die sich Stresemann und sein Kabinett gestellt sahen, waren in der Tat erdrückend. Der passive Widerstand an der Ruhr stand faktisch vor dem Zusammenbruch. Die Hyperinflation ging von Tag zu Tag ungebremst weiter. Als Stresemann sein Amt antrat, stand der Dollarkurs bei 3,7 Millionen Mark, bis Ende September stieg er auf 160 Millionen.

Ohne eine Sanierung der Währung war an eine wirtschaftliche Erholung nicht zu denken. Das aber setzte voraus, dass mit der finanziell untragbaren Subventionierung des Ruhrkampfes Schluss gemacht wurde. Am 26. September verkündete Stresemann den Abbruch des passiven Widerstands. Die nationalistische Rechte entfesselte daraufhin eine wüste Kampagne gegen ihn. Noch am gleichen Tag verhängte die bayerische Staatsregierung den Ausnahmezustand und ernannte den Regierungspräsidenten von Oberbayern, Gustav Ritter von Kahr, zum "Generalstaatskommissar" mit weitreichenden Vollmachten. Das kam einem Akt der Auflehnung gegen die Regierung in Berlin gleich. Diese verhängte am 27. September den Ausnahmezustand über das Reich und betraute Reichswehrminister Otto Geßler mit der vollziehenden Gewalt. Doch vor einer offenen Kraftprobe mit dem abtrünnigen Bayern scheute Stresemann nicht zuletzt deshalb zurück, weil er sich für diesen Fall der Loyalität der Reichswehr nicht sicher sein
konnte.

Nicht nur der schwelende Konflikt mit Bayern belastete die Arbeit der Großen Koalition. Im Herbst 1923 hielt man in Moskau die Situation reif für einen bewaffneten Aufstand, einen "deutschen Oktober", der die proletarische Revolution nach Mittel- und Westeuropa tragen und die Sowjetunion aus ihrer Isolierung befreien sollte. Als Sprungbrett sollte der Eintritt der Kommunisten in die sozialdemokratisch geführten Landesregierungen von Sachsen und Thüringen dienen. Doch auf einer Konferenz der Betriebsräte in Chemnitz am 21. Oktober zeigte sich, dass das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale und die KPD-Führung die Kampfbereitschaft der Arbeiterschaft überschätzt hatten. Mit großer Mehrheit wurde der Antrag abgelehnt, in einen Generalstreik einzutreten, der das Signal zum Aufstand geben sollte. Der "deutsche Oktober" fand nicht statt. Ein isoliert bleibender Aufstand in Hamburg wurde rasch niedergeschlagen.

Übte die Reichsregierung gegenüber den Provokationen aus München ein erstaunliches Maß an Nachsicht, so ging sie mit umso größerer Härte gegen die Einheitsfrontregierungen in Sachsen und Thüringen vor. Am 22. Oktober rollten Eisenbahnzüge, vollbesetzt mit Reichswehrtruppen aus allen Teilen Deutschlands, über die sächsische Grenze. "Sachsen ist mit Reichswehr überschwemmt; in zahllosen Trupps von 6–8 Mann patrouilliert scharfbewaffnetes, von Württemberg und Mecklenburg eingerücktes Militär durch die Straßen", beobachtete die Autorin Thea Sternheim in Dresden. Nachdem sich der sächsische Ministerpräsident, der SPD-Politiker Erich Zeigner, geweigert hatte, mitsamt seinem Kabinett zurückzutreten, begann am 29. Oktober die formelle Reichsexekution. Ein Reichskommissar wurde eingesetzt, der umgehend die Regierung Zeigner ihres Amtes enthob. Aus Protest gegen die ungleiche Behandlung Sachsens und Bayerns traten in Berlin die SPD-Minister am 2. November aus der Regierung der Großen Koalition aus. Stresemann führte fortan eine bürgerliche Minderheitsregierung. Vier Tage nach dem Bruch der Großen Koalition rückten Reichswehrtruppen in Thüringen ein und erzwangen auch hier das Ende der SPD/KPD-Regierung.

Der Ruf nach einem "starken Mann", der mit eiserner Hand Ordnung ins Chaos bringen und Deutschland von den Fesseln des Versailler Vertrages befreien sollte, erscholl nun in den Kreisen der radikalen Rechten immer lauter. Die Hoffnungen richteten sich dabei vor allem auf den Chef der Heeresleitung, Hans von Seeckt. Seit Mitte September wurde der General von maßgebenden Vertretern des Reichslandbundes, der mächtigen Lobbyorganisation der ostelbischen Großagrarier, der rechtskonservativen Deutschnationalen Volkspartei und des rechtsextremen Alldeutschen Verbandes bestürmt, sich als ein "Militärkanzler" für eine autoritäre Lösung der Krise zur Verfügung zu stellen. Seeckt zeigte sich nicht abgeneigt. Ihm schwebte, für den Fall, dass Stresemanns Regierung ihren parlamentarischen Rückhalt verlieren sollte, die Einsetzung eines Drei-Männer-Direktoriums vor, in dem er selbst eine führende Rolle einnehmen wollte. Auch der Großindustrielle Stinnes sprach sich im September gegenüber dem US-Botschafter in Berlin, Alanson Houghton, für die Einsetzung eines Diktators aus, der unter anderem dafür sorgen sollte, den Achtstundentag, die größte sozialpolitische Errungenschaft der Novemberrevolution von 1918/19, zu beseitigen.

Hitler-Putsch

Am weitesten gediehen waren die Pläne zur Errichtung einer "nationalen Diktatur" in Bayern. Hier war es vor allem der Vorsitzende der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), Adolf Hitler, auf den sich die Erlösungssehnsüchte und Erweckungsphantasien der deklassierten oder von der Deklassierung bedrohten Schichten der Bevölkerung richteten. Mit seinen Hasstiraden gegen die "Novemberverbrecher", den "Schandfrieden" von Versailles und die "jüdisch-kapitalistischen Schieber und Wucherer" füllte er Woche für Woche die größten Versammlungssäle Münchens. Seit Januar 1923 verzeichnete die NSDAP einen starken Zulauf; die Zahl ihrer Mitglieder erhöhte sich bis November auf über 55.000.

Gerüchte über einen bevorstehenden Putsch machten die Runde. Anfang September kam es auf einem "Deutschen Tag" in Nürnberg zum Schulterschluss zwischen Hitler und General Erich Ludendorff, dem heimlichen Diktator Deutschlands in den letzten beiden Weltkriegsjahren. Mit ihm im Bunde konnte der "Führer" der NSDAP hoffen, die Reichswehr für einen geplanten Coup zu gewinnen. Mit- und Gegenspieler Hitlers in Bayern war das sogenannte "Triumvirat": Generalstaatskommissar von Kahr, Generalleutnant Otto Lossow, der Chef der Reichswehr in Bayern, der im Oktober wegen Befehlsverweigerung von Geßler entlassen worden war, den Kahr aber unmittelbar danach mit der Weiterführung seines Kommandos betraut hatte, und schließlich Oberst Hans von Seißer, der Chef der bayerischen Landespolizei. Auch diese drei Männer strebten eine "nationale Diktatur" an, die Initiative dazu sollte aber von der Reichswehrführung in Berlin ausgehen. Sie wussten von den Direktoriumsplänen Seeckts und wollten sich dessen Bestrebungen anschließen. Hitler aber wollte die Diktatur in München ausrufen und von hier aus nach dem Vorbild von Benito Mussolinis "Marsch auf Rom" im Oktober 1922 den "Marsch auf Berlin" antreten.

Am Abend des 8. November nutzte er eine Versammlung im Bürgerbräukeller, um die "nationale Revolution" zu proklamieren. Buchstäblich mit vorgehaltener Pistole presste er Kahr, Lossow und Seißer die Zusage ab, sich seinem Putsch anzuschließen. Doch kaum war es dem Triumvirat gelungen, sich aus dem Bürgerbräukeller zu entfernen, holte es auch schon zum Gegenschlag aus. Reichswehr und bayerische Landespolizei standen somit gegen die Putschisten, und damit war das Unternehmen zum Scheitern verurteilt. Der Versuch Hitlers und Ludendorffs, durch einen Demonstrationszug durch die Innenstadt am Mittag des 9. November das Blatt noch einmal zu wenden, endete im Kugelhagel vor der Feldherrnhalle.

So dilettantisch der Putsch ins Werk gesetzt worden war und so burleske Züge die Inszenierung im Bürgerbräukeller trug, so ernst zu nehmen war doch das, was sich in der Nacht zum 9. November in München zutrug. Für einige Stunden glaubten sich Hitlers Sturmtruppen im Besitz der Macht, und sofort begannen sie, Angehörige der politischen Linken und jüdische Bürger zu terrorisieren und zu verhaften. Der rasche Zusammenbruch des Putsches verhinderte Schlimmeres. Doch warfen die Vorgänge bereits ein Schlaglicht auf das, was sich zehn Jahre später, nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, in ganz Deutschland ereignen sollte.

Ein schlimmes Vorzeichen für Kommendes war auch ein Ereignis, das sich am 5. November, drei Tage vor Hitlers Putsch, im Berliner "Scheunenviertel", einem beliebten Wohnquartier für viele aus dem Osten eingewanderter Juden, zugetragen hatte. Eine durch antisemitische Agitatoren aufgehetzte Menge plünderte jüdische Geschäfte und Wohnungen und misshandelte Juden auf offener Straße. "Berlin hat sein Judenpogrom gehabt. Berlin ist geschändet worden. Eine Schmach für ein Volk, das sich zu den zivilisierten zählt", schrieb der sozialdemokratische "Vorwärts".

Mit dem gescheiterten Putsch im Bürgerbräukeller waren die Diktaturpläne der Rechten fürs Erste diskreditiert. "Das Schlagwort der nationalen Diktatur ist in seiner Hohlheit entlarvt", kommentierte der Journalist Ernst Feder im liberalen "Berliner Tageblatt". Ungewollt hatten Hitler und Ludendorff dazu beigetragen, die verhasste Republik von Weimar zu festigen.

Auf die Nachricht vom Putsch hatte Reichspräsident Ebert noch in der Nacht zum 9. November die vollziehende Gewalt auf General Seeckt übertragen, die seit dem 26. September Reichswehrminister Geßler innegehabt hatte. Angesichts der zwielichtigen Rolle, die der Chef der Heeresleitung in den Wochen zuvor gespielt hatte, schien das für manche Beobachter ein riskanter Schritt zu sein. Tatsächlich aber hatte Ebert einen klugen Schachzug getan, der die auf den General gesetzten Hoffnungen der Republikgegner durchkreuzte. Denn indem er Seeckt direkt seiner Weisungsbefugnis unterstellte, band er ihn zugleich an sich und verpflichtete ihn auf die Verteidigung der bestehenden Verfassungsordnung. Die Direktoriumspläne waren damit vom Tisch.

Trügerische Erholung

Mitte November erreichte die Hyperinflation ihren bizarren Höhepunkt. Am 14. November überstieg der Dollarkurs erstmals die Billionengrenze, am 15. stand er bei 2,52 Billionen. An diesem Tag wurde eine neue Währung, die Rentenmark, ausgegeben, auf die sich noch die Große Koalition Mitte Oktober mit der Schaffung der Rentenbank verständigt hatte. Am 20. November konnte der Kurs des Dollars bei 4,2 Billionen stabilisiert werden. Die Reichsbank setzte ein Umtauschverhältnis von einer Billion Papiermark gleich einer Rentenmark fest. Das bedeutete faktisch eine Rückkehr zum Vorkriegs-Dollarkurs von 4,20 Mark. Das "Wunder der Rentenmark" trat nicht über Nacht ein. Es dauerte einige Zeit, bis das Publikum Zutrauen zum neuen Zahlungsmittel fasste. Doch Anfang Dezember waren die Zeichen der Besserung bereits zu erkennen. "Man sieht in den Lebensmittelgeschäften wieder vergnügte Käuferinnen. Ein erster Hoffnungsstrahl dringt durch das Dunkel", beobachtete Harry Graf Kessler in Berlin.

Mitten in die Phase der Erholung wurde Stresemann gestürzt. Er hatte, einem Misstrauensantrag der SPD zuvorkommend, am 23. November im Reichstag die Vertrauensfrage gestellt. "Was Euch veranlasst, den Kanzler zu stürzen, ist in sechs Wochen vergessen, aber die Folgen Eurer Dummheit werdet Ihr noch zehn Jahre lang spüren", schrieb Ebert seinen Parteifreunden ins Stammbuch. Nachfolger Stresemanns wurde der Partei- und Fraktionsvorsitzende des Zentrums, Wilhelm Marx. Er bildete am 30. November eine bürgerliche Minderheitsregierung aus Zentrum, DVP, DDP und Bayerischer Volkspartei. Mithilfe eines Ermächtigungsgesetzes, das am 6. Dezember den Reichstag passierte, setzte das Kabinett die begonnene Politik der Stabilisierung entschlossen fort. Durch einen Personalabbau im öffentlichen Dienst und eine Kürzung der Beamtengehälter wurden die Ausgaben rigoros beschränkt, und auf der anderer Seite durch eine Reihe von Steuernotverordnungen die Einnahmen deutlich erhöht, sodass die Regierung nach langer Zeit wieder einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen konnte. "Nun geht das Krisenjahr zu Ende", notierte der britische Botschafter D’Abernon am 31. Dezember 1923. Wenn man zurückblicke, dann erkenne man erst, "wie nah dieses Land am Abgrund stand".

"Nichts hat das deutsche Volk – dies muss immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden – so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation", schrieb Stefan Zweig in "Die Welt von gestern". Und auch der Publizist Sebastian Haffner kam in seiner 1939 im englischen Exil verfassten "Geschichte eines Deutschen" zu dem Ergebnis, das Jahr 1923 habe "Deutschland fertig" gemacht – "nicht speziell zum Nazismus, aber zu jedem phantastischen Abenteuer". Tatsächlich hatte sich die Krisenerfahrung von 1923 tief in die kollektive Mentalität der Deutschen eingebrannt. Dass alles wankte, es keine Sicherheiten mehr gab und auf nichts Verlass war – das wirkte als Trauma nach. Für viele Hunderttausende hatte die Inflation Vermögen und gesellschaftlichen Status zunichte gemacht. Besonders das Bildungsbürgertum litt unter dem Verlust materieller Sicherheit und der privilegierten Stellung, die es im Kaiserreich besessen hatte. In der verklärenden Rückschau erschienen die Jahrzehnte vor 1914 als "die gute alte Zeit", als Hort von Stabilität und bürgerlicher Sekurität.

Nur sechs Jahre nach der Inflationsperiode erlebte die Weimarer Republik "ihre Höllenfahrt in den Abgrund einer beispiellosen Depression". Noch stärker als 1923 griff eine allgemeine Katastrophen- und Endzeitstimmung um sich, erhielten die ohnehin virulenten Ressentiments gegen das "System" von Weimar noch einmal kräftigen Auftrieb. Hitler, der dank der Protektion durch die bayerische Justiz nach einer nur kurzen Haft in der Festung Landsberg 1924 in eine zweite politische Karriere hatte starten können, verstand es wie kein zweiter Politiker, sich als nationaler Messias zu inszenieren und die Heilserwartungen des Publikums auf sich zu
lenken. Dennoch führt kein gerader Weg zur Machtübertragung an die Nationalsozialisten. Die Weimarer Republik hatte 1923 eine erstaunliche Überlebensfähigkeit bewiesen, und sie hätte vielleicht auch die noch schwereren Jahre von 1930 bis 1933 überstehen können, wenn an der Spitze des Staates ein Mann wie Ebert gestanden hätte, der entschlossen war, die parlamentarische Demokratie mit allen Mitteln zu verteidigen. In ihrer zweiten Existenzkrise aber fehlte der Republik der zuverlässige Rückhalt beim Reichspräsidenten.

Hinter dem ehemaligen kaiserlichen Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, seit 1925 im Amt, sammelten sich die Kräfte, die nachholen wollten, was ihnen 1923 noch nicht gelungen war: die verhasste Republik zu Fall zu bringen und eine autoritäre Ordnung aufzurichten. Ende Januar 1933 wähnten sie sich am Ziel. Im "Kabinett der nationalen Konzentration" besaßen Hitlers konservative Bündnispartner ein deutliches Übergewicht. Doch die Vorstellung, man könne den Demagogen für die eigenen sozialreaktionären Interessen einspannen und die Dynamik seiner Bewegung unter Kontrolle halten, sollte sich als grandiose Illusion erweisen. Hitler brauchte nur wenige Monate, um alle Gegenkräfte auszuschalten und eine nationale Diktatur zu etablieren, die in ihrer Radikalität und Menschenverachtung allerdings weit über das hinausging, was sich die Republikgegner in Wirtschaft, Reichswehr und Politik 1923 erträumt hatten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Stuttgart–Hamburg 1964, S. 364f.

  2. Vgl. auch zum Folgenden Volker Ullrich, Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, München 2022.

  3. Vgl. Klaus Schwabe (Hrsg.), Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn 1985; Gerd Krumeich/Joachim Schröder (Hrsg.), Der Schatten des Weltkriegs: Die Ruhrbesetzung 1923, Essen 2004.

  4. Edgar Viscount D’Abernon, Ein Botschafter der Zeitwende. Memoiren, Bd. II: Ruhrbesetzung, Leipzig 1930, S. 189 (21.1.1923).

  5. Vgl. Manfred Franke, Schlageter. Der erste Soldat des 3. Reiches. Die Entmythologisierung eines Helden, Köln 1980.

  6. Vgl. Gerald D. Feldman, The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation, 1914–1924, Oxford–New York 1997.

  7. Harry Graf Kessler, Das Tagebuch 1880–1937, Bd. 7: 1919–1923, hrsg. von Angela Reinthal, Stuttgart 2007, S. 567 (7.11.1922). Zum Kursverfall vgl. die Tabellen bei Feldman (Anm. 6), S. 505; Frederick Taylor, Inflation. Der Untergang des Geldes in der Weimarer Republik und die Geburt eines deutschen Traumas, München 2013, S. 165.

  8. Vgl. Tabelle bei Feldman (Anm. 6), S. 643.

  9. Victor Klemperer, Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918–1924, hrsg. von Walter Nowojski, Berlin 1996, S. 725 (2./3.8.1923).

  10. Frank Faßland, Wirtschaftsführer. Hugo Stinnes, in: Die Weltbühne, 16.3.1922, S. 267. Vgl. Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998, S. 739ff.

  11. Klaus Mann, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Frankfurt/M. 1963, S. 108.

  12. Vgl. Lothar Fischer, Anita Berber. Die Göttin der Nacht, Berlin 2007.

  13. Jens Bisky, Berlin. Biographie einer großen Stadt, Berlin 2019, S. 467.

  14. Zit. nach Eberhard Kolb, Gustav Stresemann, München 2003, S. 76.

  15. Vgl. Taylor (Anm. 7), S. 293.

  16. Vgl. Ullrich (Anm. 2), S. 120ff.

  17. Vgl. Bernhard H. Bayerlein et al. (Hrsg.), Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Berlin 2003.

  18. Thea Sternheim, Tagebücher 1903–1971, Bd. 1: 1903–1925, hrsg. von Thomas Ehrsam/Regula Wyss, Göttingen 2002, S. 672 (23.10.1923).

  19. Vgl. Ullrich (Anm. 2), S. 157–168.

  20. Vgl. ebd., S. 176–180.

  21. Vgl. Botschafter Houghton an Außenminister Hughes, 23.9.1923 in: George W.F. Hallgarten, Hitler, Reichswehr und Industrie. Zur Geschichte 1918–1933, Frankfurt/M. 1955, S. 67f.

  22. Vgl. Felix Kellerhoff, Die NSDAP. Eine Partei und ihre Mitglieder, Stuttgart 2017, S. 172.

  23. Zur Vorgeschichte und Verlauf des Putsches vgl. Volker Ullrich, Adolf Hitler. Biographie, Bd. 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889–1939, Frankfurt/M. 2013, S. 162–178.

  24. Vgl. Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999, S. 119–136.

  25. Zit. nach ebd., S. 151.

  26. Ernst Feder, Das Ende der Hanswurstiade, in: Berliner Tageblatt, 10.11.1923, S. 1.

  27. Vgl. Ullrich (Anm. 2), S. 211f.

  28. Vgl. Tabelle bei Feldman (Anm. 6), S. 782.

  29. Vgl. ebd., S. 795.

  30. Harry Graf Kessler, Das Tagebuch 1880–1937, Bd. 8: 1923–1926, hrsg. von Angela Reinthal/Günter Riederer/Jörg Schuster, Stuttgart 2009, S. 167 (4.12.1923).

  31. Gustav Stresemann, Vermächtnis. Der Nachlass in drei Bänden, hrsg. von Henry Bernhard, Bd. I, Berlin 1932, S. 245.

  32. Vgl. Ullrich (Anm. 2), S. 264–268.

  33. D’Abernon (Anm. 4), S. 337f.

  34. Zweig (Anm. 1), S. 367.

  35. Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, Stuttgart–München 2000, S. 53.

  36. Vgl. Georg von Wallwitz, Die große Inflation. Als Deutschland wirklich pleite war, Berlin 2021, S. 187f., 245f.

  37. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, S. 259.

  38. Vgl. Ullrich (Anm. 23), S. 250f.

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ist promovierter Historiker, Publizist und Buchautor. 2022 erschien von ihm "Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund" bei C.H. Beck.