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Nichtreligiösität als Normalfall | Kirche in Deutschland | bpb.de

Kirche in Deutschland Editorial Kirche und ich: Sechs Standpunkte Verantwortung in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft Nichtreligiösität als Normalfall Berufen um der Menschen willen Kein "weißer Jesus"! Gemeinde als einladender, sicherer Raum Zwiegespalten Kirchen in Deutschland. Ein historischer Abriss Pluralisierung – Säkularisierung – Europäisierung. Dynamiken im Verhältnis von Staat und Kirche Für Schuld und Versagen Verantwortung übernehmen. Sexueller Kindesmissbrauch in der evangelischen und katholischen Kirche Gehorsam und Gewissen. Eine erste Bilanz des Synodalen Wegs Die Finanzierung der Kirchen in Deutschland. Gegenstand und Faktor kirchlicher Freiheit Sakralraumtransformation. Überlegungen zur Umnutzung von Kirchenbauten

Nichtreligiösität als Normalfall

Henriette H.

/ 4 Minuten zu lesen

Aus einer ostdeutschen Perspektive spielen die Kirchen häufig eine Randrolle. Keiner Konfession anzugehören ist eine gesamtgesellschaftliche Realität in Deutschland.

Andacht, Eucharistie, Fürbitten und Liturgie sind fremde Begriffe in meinen Ohren. Die Kirche spielt in meinem Leben kaum eine Rolle. Außer bei einem Kirchenbesuch auf einer Urlaubsreise oder durch die Berichterstattung in den Medien habe ich wenig Berührungspunkte. Dieser Essay ist ein seltener Moment, mich mit dem Thema Kirche auseinanderzusetzen.

Meine Konfessionslosigkeit liegt größtenteils an meiner Sozialisierung. Ich bin in einer ostdeutschen, nichtreligiösen Familie und in einem entsprechenden Umfeld aufgewachsen. Religiöse Praktiken wie Taufen, Konfirmationen oder kirchliche Hochzeiten habe ich nur in Ausnahmen erlebt und kenne ich vor allem aus Erzählungen von Freundinnen und Freunden, deren Familien aus Westdeutschland stammen. Meine Schulfreundinnen und -freunde und ich haben den Eintritt ins Erwachsenenalter mit der Jugendweihe gefeiert. Hochzeiten werden vor allem im Standesamt geschlossen. Manchmal wird sich das Ja-Wort auch in der Kirche gegeben, weil der Rahmen feierlicher ist. Obwohl ich nur ein paar Jahre vor der Wende geboren wurde und den weitaus größeren Teil meines Lebens im geeinten Deutschland gelebt habe, prägen diese tradierten Familien- und Gesellschaftswerte auch heute meine Sicht auf die Welt und auf die Kirche.

Um herauszufinden, woher das kommt, recherchiere ich im Internet. Schnell wird klar, dass meine Familie, meine Freundinnen und Freunde und ich kein Einzelfall sind. Im ehemaligen Osten herrscht eine Kultur der Konfessionslosigkeit. Das klingt ein wenig anarchisch, schießt es mir durch den Kopf. Drei Viertel der Bevölkerung fühlen sich keiner Glaubensrichtung zugehörig. Vielmehr ist Nichtreligiösität die Normalität. Das stimmt, denke ich mir. Wenn dann doch jemand religiös ist, empfinde ich das oft als überraschend. Die wenigen religiösen Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung tragen ihre Kirchenzugehörigkeit nicht vor sich her. Oft wird darüber geschwiegen, weil Religion als Privatsache angesehen und teilweise als unmodern empfunden wird. Das deckt sich mit dem, was ich in Artikeln über die Kirche in Ostdeutschland lese.

Ich lese weiter, dass die verbreitete Nichtreligiösität zu Beginn der DDR ganz und gar nicht der Normalfall war. Über 90 Prozent der Menschen ordneten sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem späteren Gebiet der DDR einer Konfession zu, vor allem der evangelischen Landeskirchen und – mit einigem Abstand – der römisch-katholischen Kirche. Das änderte sich grundlegend in den folgenden 40 Jahren DDR, in denen die Entchristlichung aktiv betrieben wurde. Nach dem kommunistischen Weltbild wurde Religion als "Opium des Volkes" kritisiert. Diesen Satz von Karl Marx kenne ich sehr gut. In der DDR gab es eine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat. Die Regierungen haben aktiv den Einfluss der Kirchen begrenzt – nicht zuletzt, weil sie die einzig verbliebenen nichtstaatlichen Großorganisationen waren. Im Unterricht wurde ein atheistisches Weltbild gelehrt, und Religionsunterricht sowie religiöse Praktiken wurden an den Rand gedrängt und durch Rituale wie die Jugendweihe ersetzt. Kirchenvertreter und Gläubige waren staatlichen Repressionen ausgesetzt.

Trotz der Ausgrenzung oder gerade deshalb, überlege ich, hat die Kirche bei der Friedlichen Revolution 1989/90 und beim Ende der DDR eine bedeutsame Rolle gespielt. Die Kirche wurde ein Ort für die Opposition, um sich zu treffen und zu beraten. Die Montags-Friedensgebete in Leipzig waren ein Bestandteil der Revolution, und Kirchenvertreter moderierten den Zentralen Runden Tisch, der das Ende der DDR besiegelte und den Neubeginn verhandelte. Trotz der allgemein positiv wahrgenommenen Rolle der Kirche in der Friedlichen Revolution wirkte der verbreitete Atheismus auch nach 1990 fort und kaum mehr Menschen traten der Kirche bei. Aber nicht nur in den neuen, sondern auch in den alten Bundesländern nahmen die Kirchenaustritte zu.

Mit der heutigen Kirche assoziiere ich sehr unterschiedliche Dinge. Zum einen verbinde ich mit der Kirche eine Starre und fehlende Modernität, besonders wenn es um Ansichten zur Rolle der Frau in der Gesellschaft und in der Kirche, Abtreibungen und Homosexualität geht. Negativ stellt sich für mich die Kirche beim Thema sexueller Missbrauch dar. Die institutionelle Verfasstheit der Kirche kann zu Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Kirchenvertretern und Gläubigen führen, die die Entstehung von Missbrauch begünstigen. Erschreckend ist zudem, dass die Kirche den sexuellen Missbrauch nicht aufgedeckt, sondern sogar vertuscht hat – zum Teil bis heute. Die mangelnde Aufarbeitung schadet der Glaubwürdigkeit der Kirche. Daher ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr Menschen aus der Kirche austreten.

Zum anderen ist die Kirche eine Glaubensgemeinschaft, die Zusammengehörigkeit und Fürsorge schenkt. Sie ist ein Ort der Spiritualität, der Sinn stiftet und Gläubigen Halt gibt. Die Kirche bringt auch Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Berufen zusammen und schafft dadurch gesellschaftlichen Zusammenhalt. Viele kirchliche Wohlfahrtsverbände und Organisationen wie die Caritas übernehmen wichtige gesellschaftliche Aufgaben dort, wo der Staat an seine Grenzen kommt. Diese Aspekte von Kirche bewundere ich.

Die Zukunft der Kirche liegt meines Erachtens darin, sich der eigenen Vergangenheit ehrlich zu stellen, Strukturen und Ansichten zu modernisieren und die genannten positiven Aspekte zu stärken.

ist Politikwissenschaftlerin und kommt aus Berlin. Sie arbeitet im universitären Kontext und forscht dort zu internationalen Politikfragen.