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Geschichte des Christopher-Street-Day Vom Stonewall-Aufstand zur Wasserpistolen-Schlacht

Daniel Schwitzer

/ 7 Minuten zu lesen

In New York fing 1969 alles an. Doch Schwule und Lesben in Deutschland brauchten noch zehn Jahre, bis sie sich selbstbewusst auf die Straße trauten. Heute ist der Christopher-Street-Day (CSD) eine große, bunte Party.

Im Jahr 1969 begann in New York die Schwulen- und Lesbenbewegung. (© AP)

Aus dem tiefen Süden der USA war Perry Brass kurz vor seinem 19. Geburtstag nach New York gekommen. Es war das Jahr 1966 – eine Zeit, als im ganzen Land die Proteste gegen den Vietnamkrieg tobten und die Hippiebewegung Sex, Drugs & Rock ´n´ Roll propagierte. Es tat sich etwas in der Gesellschaft. Doch die Homosexuellen profitierten kaum von dem neuen Zeitgeist. Nur die wenigsten lebten offen. Wer sich in den Großstädten überhaupt in die einschlägigen Bars traute, musste stets damit rechnen, bei einer der regelmäßigen Razzien verhaftet zu werden. Die Polizei setzte sogar Lockvögel ein, um schwule Männer auf frischer Tat ertappen und danach wegen Prostitution anklagen zu können. "Die Dinge standen wirklich schlecht", erinnert sich Brass. "Es war die Zeit der freien Liebe, und wir fragten uns: Hey, was ist mit unserer Liebe?"

Doch dann kommt der 28. Juni 1969 und verändert alles. Zum ersten Mal widersetzen sich Homosexuelle einer Polizei-Razzia in einer Schwulenbar: dem "Stonewall Inn" in der Christopher Street in New York City. Es ist ein gewaltsamer Tag. Aber zugleich ist es der Auftakt zu einer der größten Emanzipationsbewegungen – nicht nur in der Geschichte der USA.

Auftakt der weltweiten Schwulenbewegung

Als Perry Brass in den Morgenstunden des 28. Juni vor dem "Stonewall Inn" eintrifft, nähert sich der gewaltsame Aufstand gegen die Razzia bereits seinem Höhepunkt. "Die Stimmung war aufgeheizt", erzählt Brass. "Überall waren Polizisten, aber die Leute ließen sich nicht einschüchtern." Sprechchöre schallen durch die Straßen: "Gay Power, Gay Power!" Draußen bewerfen Demonstranten die Polizisten mit allem, was sie in die Finger bekommen, erinnert sich Brass. In der Bar selbst haben sich acht Polizisten verbarrikadiert. Die aufgebrachten Lesben, Schwulen und Transvestiten auf der Straße versuchen, die Tür mit Mülltonnen und einer aus dem Fundament gebrochenen Parkuhr aufzurammen. Sogar anzünden wollen sie den Laden. Erst einer Spezialeinheit der Polizei gelingt es schließlich, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Zumindest kurzzeitig, denn in der folgenden Nacht branden die Proteste von neuem auf. Perry Brass: "Über die Jahre hatte sich in der Community ein ziemlicher Ärger aufgestaut. Und der entlud sich jetzt mit voller Wucht."

"Mehr als 500.000 homosexuelle Wähler können nicht ignoriert werden": 1970 - ein Jahr nach den Stonewall-Unruhen - demonstrieren Schwule in New York City für ihre Rechte. (© AP)

Sofort nach den Stonewall-Unruhen gründeten sich erste politische Gruppierungen wie die Gay Liberation Front und forderten Toleranz und mehr Rechte ein. Zahlreiche Medien widmeten sich dem Thema und gaben Schwulen und Lesben in der Öffentlichkeit ein Gesicht. Zwar fanden weiterhin Polizei-Razzien statt, doch die Homosexuellen nahmen diese längst nicht mehr so schamhaft und stillschweigend hin wie zuvor. Genau ein Jahr nach dem Stonewall-Aufstand kamen 1970 im New Yorker West Village rund 4.000 Homosexuelle zusammen, um an das Ereignis mit einer großen Demonstration zu erinnern. Diesem Beispiel folgten in den kommenden Jahren Schwule und Lesben in vielen Städten in den USA und Europa. Die "Befreiung" der Christopher Street gilt heute weltweit als Beginn der Schwulenbewegung.

450 Lesben und Schwule kamen zum ersten CSD in Berlin

Bis auch in Deutschland die erste Parade zum Christopher-Street-Day stattfindet, dauerte es gleichwohl noch bis in die späten Siebzigerjahre. Hierzulande hatte sich die Schwulenbewegung vor allem aus der Studentenbewegung der 1960er heraus entwickelt. Die wichtigste Forderung war damals die ersatzlose Streichung des Paragraphen 175. Dieser stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe und galt bis 1969 sogar noch in der verschärften Fassung der Nationalsozialisten. Was in New York geschehen war, interessierte in der deutschen Schwulenbewegung nur am Rande. Dies änderte sich 1979. In der Homosexuellen-Bewegung war eine gewisse Stagnation eingetreten. Die Aktivisten suchten nach neuen Möglichkeiten, den eigenen Forderungen wieder mehr Gewicht zu verleihen. Hier kam der zehnte Jahrestag der Stonewall-Rebellion als Anlass für eine große Demonstration gerade recht.

Einer, der 1979 den ersten Christopher-Street-Day (CSD) in Berlin mitorganisierte, war Bernd Gaiser. "Wir haben uns zusammengesetzt, ein Flugblatt verfasst und es anschließend wochenlang in der Berliner Subkultur, in Bars und Kneipen verteilt", erzählt der heute 65-Jährige. Am letzten Samstag im Juni trafen sich schließlich etwa 450 Lesben und Schwule am Savignyplatz, um gemeinsam über den Kurfürstendamm in Richtung Halensee zu spazieren – gemessen an heutigen Teilnehmerzahlen geradezu winzig. "Wir waren trotzdem sehr beeindruckt, denn wir verfügten gar nicht über die Fantasie, uns auszumalen, dass es eines Tages wesentlich mehr sein könnten." Mit Pritschenwagen, selbst gemalten Transparenten und Megafon zogen die Teilnehmer los. Ihre Forderungen richteten sich damals stark an die eigene Klientel: "Schwule, lasst das Gaffen sein, kommt herbei und reiht euch ein! – Lesben, erhebt euch, und die Welt erlebt euch!"

Die Medien zeigen lieber den Paradiesvogel als den Aktivisten

Die Stimmung unterwegs sei ausgelassen und fröhlich gewesen, erzählt Bernd Gaiser – kein Vergleich zu Veranstaltungen in früheren Jahren, als sich schwule Demonstranten teilweise nur vermummt auf die Straße getraut hatten. "Solch ein Klima der Angst herrschte 1979 nicht mehr. Wir konnten unser Schwulsein mittlerweile zelebrieren, konnten zeigen, dass wir sogar stolz darauf sind. Das war ein ganz wichtiger Aspekt des ersten CSD." Anfeindungen oder gar Gewalt gegen Teilnehmer habe es nicht gegeben.

Zu Beginn der Neunzigerjahre erlebte in Köln der heutige Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbandes Deutschland (LSVD), Klaus Jetz, seine ersten CSD-Umzüge. Die oft kritisierte Freizügigkeit bei den Paraden hält er für normal, schließlich finde der CSD im Sommer statt. "Beim Karneval in Rio sind die Menschen auch nur leicht bekleidet, und niemand regt sich auf." Im Übrigen werde das Thema von den Medien oft übertrieben, die lieber den halbnackten Paradiesvogel als den Aktivisten mit seiner politischen Parole abbilden würden. Auch wenn die Veranstaltungen heute viel größer und kommerzieller geworden seien, gehe es nach wie vor um politische Inhalte. So haben etwa im Jahr 2009 die meisten deutschen CSDs in ihrem Motto eine Ergänzung von Artikel 3 des Grundgesetzes gefordert. Im dritten Absatz von Artikel 3 werden die Diskriminierungsverbote aufgelistet: Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Religion... Von sexueller Identität ist dort bislang keine Rede. Der LSVD und andere Gruppen wollen, dass sich das ändert. Ein weiteres aktuelles Thema ist die Gewalt gegen Lesben und Schwule, die seit ein paar Jahren wieder zunimmt. Und auch beim Lebenspartnerschaftsgesetz sei längst noch nicht alles erreicht, sagt Jetz. Noch immer haben Lesben und Schwule in einer Lebenspartnerschaft nicht die gleichen Rechte wie heterosexuelle Eheleute.

Von der Graswurzelbewegung ist nicht viel übrig

Bunt, laut, schrill und mit einer politischen Botschaft: Wie hier in Berlin ist der CSD in vielen deutschen Städten fester Programmpunkt im Jahr - und das nicht nur für Schwule und Lesben. (© AP)

Bernd Gaiser stammt aus einem kleinen Dorf nahe Heidelberg. Um als Schwuler freier atmen zu können, verließ er einst seine konservative Heimat und ging in die Großstadt. Heute haben CSD-Umzüge längst ihren Weg in die deutsche Provinz gefunden, es gibt sie in Iserlohn und Oldenburg, in Schwerin und Altötting. Zu den größten Veranstaltungen in Berlin und Köln kommen allsommerlich hunderttausende Menschen. Wie ein riesiger regenbogenfarbener Python schlängeln sich dann Trucks durch die Stadtzentren, auf denen leicht bekleidete Menschen, ausgestattet mit Trillerpfeifen und Wasserpistolen, zu wummerndem House und schnulziger Schlagermusik tanzen. Viele der Wagen werden inzwischen von Diskotheken und Brauereien gesponsert. Auch das gesamte politische Parteienspektrum – von Dunkelrot über Grün bis hin zu Schwarz – inklusive ihres Spitzenpersonals nimmt teil, setzt Themen und wirbt um die Gunst des schwul-lesbischen Wahlvolks. Von der einstigen Graswurzelbewegung Christopher-Street-Day ist im Jahr 2010 nicht viel übrig geblieben.

Das aber finden nicht alle gut. In Berlin spaltete sich gegen Ende der Neunzigerjahre eine Gruppe von Aktivisten vom traditionellen CSD ab und gründete mit dem "Transgenialen CSD" ihre eigene Veranstaltung. Parteien und kommerzielle Sponsoren sind im Demonstrationszug und bei der Abschlusskundgebung in Kreuzberg explizit unerwünscht. Zudem bemühen sich die Organisatoren, Homo-, Trans- und Intersexualität in all ihren Dimensionen darzustellen und so in einen größeren politischen Zusammenhang zu rücken. Der schwule Migrant, der sich illegal in Deutschland aufhält und deshalb Angst hat, auf die Straße zu gehen, ist ebenso ein Thema wie die arbeitslose Lesbe aus der Provinz, die von Hartz IV lebt und sich nicht einmal die Anreise zur Parade leisten kann. Klaus Jetz vom LSVD findet die Motive der alternativen Konkurrenz zwar legitim, will jedoch das Argument, der traditionelle CSD sei schlicht zu groß und zu kommerziell geworden, nicht gelten lassen: "Natürlich könnte man sagen, wir kehren zu den Wurzeln zurück. Aber dann kämen in Köln und Berlin wahrscheinlich keine 500.000 Menschen mehr, sondern vielleicht noch 50.000. Und das würde auch den Eindruck schmälern, den die Veranstaltung auf Politik und Gesellschaft macht." Bernd Gaiser wünscht sich indes, dass bei künftigen CSDs die Belange älterer lesbischer und schwuler Menschen stärker herausgehoben werden. Diese fänden in der jugenddominierten Community bislang noch zu wenig Beachtung.

Wie ein riesiger regenbogenfarbener Python

Stonewall-Veteran Perry Brass hat derweil gerade die 41. Auflage der New Yorker "Christopher Street Liberation Day"-Parade erlebt. Von der Kritik, die auch in den USA immer wieder am Charakter der Veranstaltung aufkommt, will er nichts wissen. "Es ist doch großartig, dass der CSD nun schon so lange stattfindet. Und jedes Jahr aufs Neue erinnere ich mich daran, wie schwer es damals noch war, als alles angefangen hat." In diesen Momenten ist Perry Brass ein glücklicher Mensch.

Fussnoten

Daniel Schwitzer, Jahrgang 1976, hat Geisteswissenschaften studiert und arbeitet heute als freischaffender Journalist in Köln. Foto: Anke Tillmann