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Keine gemeinsame Erinnerung Geschichtsbewusstsein in Ost und West

Annette Leo

/ 17 Minuten zu lesen

Über die Geschichte der DDR herrscht kein kollektives Selbstverständnis in der neuen Bundesrepublik. Aber auch der Nationalsozialismus wird in Ost und West unterschiedlich erinnert. Gibt es noch eine Mauer in den Köpfen?

Einleitung

Über die fortbestehende "Mauer in den Köpfen" wird periodisch immer wieder öffentlich geklagt. Während der zahlreichen Veranstaltungen anlässlich des 50. Jahrestages des 17. Juni 1953 gerieten die unterschiedlichen Erfahrungen und auch der sehr unterschiedliche Umgang mit diesem Ereignis in Ost und West so deutlich wie selten in den Blick. Eine intensive Beschäftigung mit den Erinnerungsmustern der ehemaligen DDR-Bürger und der Alt-Bundesbürger würde einen Schlüssel für viele gegenwärtige Verständigungsprobleme liefern.

Gibt es noch eine Mauer in den Köpfen? (© AP)

Vor allem an der Beurteilung und Deutung der DDR-Geschichte entzünden sich immer wieder Kontroversen. Im Sommer war das anlässlich der Präsentation einer DDR-Kunstschau in der Neuen Nationalgalerie in Berlin aufs Neue zu erleben. Aber auch die Zeit des Nationalsozialismus, die schließlich ein zentrales Stück gemeinsamer deutscher Vergangenheit darstellt, wird durchaus nicht gemeinsam erinnert.

Dieser Text fußt auf Ergebnissen verschiedener Recherchen und Interviewprojekte. An zwei von ihnen war die Autorin beteiligt. Eine Schnittstelle dieser Studien bilden die Erfahrungen der Befragten in der DDR und ihre Erfahrungen mit den Erinnerungen an die DDR nach der historischen Zäsur von 1990. Welche Spuren finden sich im heutigen Bewusstsein? Eine weitere Schnittstelle ist der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, der sich vor allem in den neuen Ländern verändert hat, seitdem es die DDR und ihre prägende Geschichtspolitik nicht mehr gibt.

Geschichtsbewusstsein wird hier verstanden als Gesamtheit der Formen und Inhalte des Denkens, mit denen sich eine Gruppe von Menschen in die Zeit einordnet, mit der Vergangenheit in Beziehung setzt und sich in der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft orientiert. Der Historiker Jörn Rüsen hat Geschichtsbewusstsein als "Inbegriff der mentalen Operationen" definiert, "mit denen Menschen ihre Erfahrungen vom zeitlichen Wandel in ihrer Welt und ihrer selbst so deuten, dass sie ihre Lebenspraxis in der Zeit absichtsvoll orientieren können". Ein so verstandenes Geschichtsbewusstsein ist also weit mehr als Wissen von der Geschichte, mehr auch als die Summe individueller, vergangener Erfahrungen. Der Bezugspunkt, von dem aus Geschichte betrachtet und das eigene Selbstverständnis definiert wird, ist stets die Gegenwart. Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein nehmen ebenso die individuellen Erfahrungen wie das sich wandelnde kollektive Selbstverständnis einer Gruppe, Nation oder Generation.

Der ostdeutsche Staat entwickelte ein propagandistisch und ideologisch stark aufgeblähtes, offizielles Selbstverständnis, mit dem sich möglichst alle Bürger identifizieren sollten. Seit 1990 hat sich die Sicht auf die DDR-Vergangenheit sehr gewandelt. Einerseits verfügt die bundesdeutsche Gesellschaft insgesamt über sehr viel mehr präzises Wissen über Machtstrukturen und -mechanismen, über Repression und Überwachung, andererseits gibt es im Osten Tendenzen von Nostalgie, partieller Verklärung und natürlich von Verteidigung des eigenen gelebten Lebens. Das ist alles historisch noch sehr nah und sehr fragmentiert.

Über die Geschichte der DDR existiert kein kollektives Selbstverständnis in der neuen Bundesrepublik. Es gibt keinen Konsens über ihre Beurteilung, über ihre Einordnung in den deutschen und europäischen Kontext. Das macht auch die Schwierigkeit von Erinnerungsarbeit aus. Der Dissens über zentrale Fragen - etwa, ob die DDR von Anfang an und in jeder Phase ein von außen aufgezwungenes, zum Scheitern verurteiltes System war; ob sie vor allem von ihrer diktatorischen Seite definiert werden kann; welche Rolle dabei die Alltagserfahrungen der Individuen spielen, die in ihrer Mehrheit weder Täter noch Opfer von Repression waren; ob die Zweistaatlichkeit nur eine Episode in der Geschichte war oder ein wichtiger Zeitabschnitt - teilt keineswegs nur die Ost- und Westdeutschen, sondern verläuft, je nach politischer Verortung und Vorerfahrungen, quer durch diese Gruppen. Aber am deutlichsten spaltet er die Gesellschaft in ehemalige Ost- und Westdeutsche, weil es um unterschiedliche Lebenserfahrungen geht: um die Auf- oder Abwertung gelebten Lebens.

Das Erlebnis eines Bruchs

Eines der wichtigsten Ergebnisse der Befragungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Ost und West ist deshalb beinahe eine Binsenweisheit: Der deutlichste Unterschied zeigt sich nicht bei den Erfahrungen in den unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten in Ost und West, etwa hinsichtlich sozialistischer oder demokratischer Erziehung, unterschiedlicher Erfahrungen im Berufsleben, Qualifizierungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten, Emanzipation der Frau. Er liegt im Erlebnis eines tiefen Bruches auf der ostdeutschen Seite, der das ganze bisherige Leben infrage stellt, und das Erlebnis einer zumindest scheinbar ungebrochenen Kontinuität auf der westdeutschen Seite.

Daraus resultiert unter anderem eine unterschiedliche Erzählfreude. Bei unseren ostdeutschen Gesprächspartner/innen trafen wir auf ein viel größeres Darstellungs- und Rechtfertigungsbedürfnis als bei ihren westdeutschen KollegInnen. Auch der Wunsch, sich beim Erzählen der eigenen Biografie, in der so vieles nun infrage gestellt ist, zu vergewissern, ist bei ihnen viel ausgeprägter. Bei den westdeutschen Gesprächspartner/innen war die Bereitschaft geringer, sich einem solchen Gespräch zu stellen. Die Betreffenden haben keinen so offensichtlichen Bruch erlebt, der das eigene Leben in ein Vorher und Nachher teilte. Sie betrachten ihr Leben als Ergebnis vorwiegend individueller Erfahrungen. Gruppenerfahrungen oder gar politische Rahmenbedingungen, die das Geschehen beeinflusst haben könnten, werden seltener thematisiert, sodass es ihnen letztlich auch weniger "erzählenswert" erscheint. Außer den älteren Befragten, die den Krieg erlebt haben, hat offenbar niemand das Gefühl, über so etwas wie "Schicksal" zu verfügen. Die Ostdeutschen dagegen haben durch den biografischen Bruch eigentlich alle ein "Schicksal" erhalten, das sie zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte antreibt, aber auch zur Abwehr gegenüber beunruhigenden Erinnerungen und zur Neukonstruktion einer kohärenten biografischen Erzählung.

Die Äußerungen von West- und Ostdeutschen über die DDR unterscheiden sich durch ihre grundlegend verschiedenen Erfahrungs- und Bewertungsebenen. Während die einen die DDR vorwiegend von außen sehen - die Innensicht stammt meist nur von gelegentlichen Besuchen -, bedeutet sie für die anderen den größten Teil ihres bisherigen Lebens. Westdeutsche meinen, wenn sie über die DDR sprechen, vorwiegend das sozialistische System mit seinem Machtapparat, während die Ostdeutschen meist ihre Lebenswelt in den Vordergrund stellen. In beiden Gruppen gibt es jeweils ein Spektrum verschiedener Auffassungen, wobei die wenigen kritisch bis oppositionell eingestellten ostdeutschen Gesprächspartner/innen der westdeutschen Sicht am nächsten kommen, während die wenigen linkssozialistisch gestimmten Gewerkschafter aus der alten Bundesrepublik in mancher Hinsicht Affinitäten zur Ostsicht erkennen lassen.

Freiheit versus Sicherheit

Einen der gravierendsten Unterschiede in der Bewertung konnten wir im Hinblick auf Demokratie und Freiheit konstatieren. Die befragten Ostdeutschen ignorieren dieses Thema überwiegend. Beispiele von Repression und Überwachung werden nur von den wenigen GesprächspartnerInnen erinnert, die dem System kritisch oder zumindest distanziert gegenübergestanden haben. Bei der Beschreibung des eigenen Lebens in der DDR werden solche Aspekte fast ausschließlich in der Verteidigung gegen eine als fremd empfundene Sicht im Rahmen des gegenwärtigen Diskurses erwähnt: "Die Mauer war zwar schmerzlich, aber sie hat unsere heile Welt geschützt"; "wir hatten zwar die Stasi, aber konnten uns abends auf die Straße trauen."

Für die Interviewpartner/innen aus dem Westen dagegen stehen Demokratie und Freiheit bzw. deren Mangel in der DDR im Vordergrund ihrer Wahrnehmung und Bewertung. Alle anderen Beobachtungen werden diesem Gesichtspunkt untergeordnet. Es verwundert deshalb nicht, dass bei Gesprächspartner/innen aus der alten Bundesrepublik die Bereitschaft zu beobachten ist, die Verhältnisse in der DDR mit denen des "Dritten Reiches" zu vergleichen und bisweilen sogar gleichzusetzen, während die Befragten aus der DDR, zumindest die Nachkriegsgenerationen, schon den Vergleich generell als unzulässig ablehnen.

Im Vordergrund der Äußerungen aus dem Osten stehen soziale Sicherheit und Fürsorge, in erster Linie die Sicherheit der Arbeitsplätze. Das gipfelt häufig in dem Bild von einer solidarischen Gemeinschaft im Betrieb und im Wohngebiet, wo die Leute füreinander da waren, da sie gleiche Interessen hatten und unter etwa gleichen sozialen Bedingungen lebten. Angesichts des zunehmenden Zerfalls dieser Gemeinschaft in Individuen mit unterschiedlichen Interessen wurde dieses Bild in den Gesprächen häufig beschworen. Natürlich muss man sich die Frage stellen, ob das tatsächlich immer so erlebt wurde, oder ob es sich hier nicht eher um ein "nachträgliches Bewusstsein" handelt, um ein rückprojiziertes Gegenbild zur Gegenwart.

Soziale Sicherheit und Vollbeschäftigung, mehr noch die Kinderbetreuung spielen auch im DDR-Bild unserer westdeutschen Interviewpartner und -partnerinnen eine Rolle. Sie werden überwiegend positiv bewertet. Solche sozialen Bedingungen wünschen sich viele in ihrem eigenen Lebensbereich. Allerdings werden auch die Schattenseiten gesehen: wirtschaftliche Ineffizienz, staatlich reglementierte Kindererziehung, überhaupt das staatlich reglementierte Leben.

Eine historische Entwicklung der DDR mit unterschiedlichen Phasen sehen die Befragten aus den alten Bundesländern überwiegend nicht. Für sie blieb die DDR von ihrem Beginn bis zum Ende im Wesentlichen unverändert. Das zeugt natürlich vor allem von zu geringen Geschichtskenntnissen, um zeitliche Differenzierungen vorzunehmen. Dagegen unterscheiden die Interviewpartner/innen aus dem Osten Phasen der DDR-Geschichte, deren Einteilung und Bewertung vor allem von der Generationszugehörigkeit und den individuellen Lebenserfahrungen bestimmt wird. So kam es vor, dass etwa die fünfziger Jahre, ebenso wie die achtziger Jahre kurz vor der "Wende", sowohl als "schlimmste Zeit" angesehen werden als auch als jeweils "schönste Zeit", weil man noch Ideale hatte oder weil sich Zwänge zu lockern begannen.

Die Ursachen des Scheiterns

Unterschiedliche Antworten gibt es auf die Fragen, ob die DDR ein sozialistischer Staat gewesen ist und woran sie letztlich scheiterte. Hier allerdings verläuft die Trennungslinie der Bewertungen nicht durchgängig zwischen Ost und West. Vor allem diejenigen Gesprächspartner/innen, die an ihrer Vision von einer gerechteren Gesellschaft festhalten wollen, so verschwommen sie auch sein mag, haben ein großes Bedürfnis, einen Unterschied zwischen dem DDR-System und dem eigenen sozialistischen Ideal zu behaupten. Sie sind der Meinung, dass die Grundidee von einer Funktionärsbürokratie verfälscht worden sei. Allerdings sind zum Beispiel die sozialdemokratischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus der alten Bundesrepublik überwiegend davon überzeugt, dass letztlich Sozialismus und Diktatur nicht miteinander vereinbar seien, während die Interviewpartner/innen aus dem Osten eher von Fehlern und Entgleisungen der Politiker sprechen. Für eine Minderheit von Befragten, vor allem aus der alten Bundesrepublik, sind Diktatur und Zwang dagegen dem sozialistischen System immanent, das Scheitern der DDR war deshalb folgerichtig und von Anfang an vorbestimmt.

Diejenigen Interviewpartner/innen, welche die DDR als Gesellschaft ansehen, in der eine ursprünglich akzeptable Idee verfälscht worden bzw. entgleist ist, machen - je nach persönlicher Erfahrung und politischem Standort - durchaus unterschiedliche Ursachen für den Zusammenbruch 1989 verantwortlich. Die Skala reicht von der Starrheit der überalterten Funktionäre bis zur allgemeinen Unzulänglichkeit des Menschen, der für ein solches Modell eben zu egoistisch sei. Die meistgenannten Ursachen sind jedoch wirtschaftliche Ineffizienz (Ost-Befragte) und fehlende Freiheiten (Befragte aus dem Westen). Es gibt aber auch Gesprächspartnerinnen und -partner aus der Nachkriegsgeneration Ost, die ratlos vor dieser Frage standen. Damit quäle sie sich seit 1990, bekennt etwa eine Mutter von fünf Kindern und Meisterin im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder, Jahrgang 1942, SED-Mitglied. Für sie bedeutete das Ende der DDR gleichzeitig das Ende ihrer Berufstätigkeit. Sie grüble darüber nach, was schief gelaufen sei, aber sie komme zu keinem Ergebnis.

Geteilte Erinnerung an den Nationalsozialismus

Über die Geschichte von SBZ und DDR gibt es keinen Konsens der Erinnerung - nicht zwischen Ost und West, auch nicht in jedem Fall unter den Ostdeutschen, nicht einmal unter ehemaligen Bürgerrechtlern, wie die Kontroversen der vergangenen Jahre zeigen. Wie verhält es sich mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus? Hier ist eine Spaltung des Bewusstseins zu registrieren, die aus der Zeit der Teilung, des Kalten Krieges, der Blockauseinandersetzung stammt, als sich jede Seite des Geschichtsbildes und der Abgrenzungsargumente bediente, die der Bestätigung des eigenen Systems dienten. Das gegenseitige Aufeinanderbezogensein hörte aber spätestens in den achtziger Jahren auf. In der alten Bundesrepublik entfaltete sich, begleitet von vielen öffentlichen Debatten und einer Geschichtsbewegung von unten, ein differenziertes Bewusstsein von der NS-Vergangenheit, das die Projektionen des Kalten Krieges hinter sich ließ und alle Teile des Widerstandes und die meisten Verfolgtengruppen nach und nach einbezog. In der DDR war die Abgrenzung von der nationalsozialistischen Vergangenheit und das Gedenken an die ermordeten Widerstandskämpfer ein wichtiger Bezugspunkt gesellschaftlichen Erinnerns. Das auf Legitimation des eigenen Systems ausgerichtete, sehr einseitige Vergangenheitsbild blieb jedoch mit geringen Modifikationen bis 1989 erhalten, ebenso wie die Fixierung auf das Gegenmodell Bundesrepublik.

Der Historiker Jürgen Kocka spricht davon, dass die NS-Diktatur für die Ostdeutschen "anscheinend eine weniger zentrale, weniger prägende Rolle" spiele als für die Westdeutschen, die darin ein negatives Bezugssystem sehen, "an dem sie die eigene Gesellschaft messen und beurteilen". Dieser Unterschied in der Gewichtung hat zweifellos mit einem Umstand zu tun, auf den Kocka ebenfalls hinweist: Aufgrund des Antifaschismus-Konzeptes der DDR, das den Faschismus vor allem als extremste Form des Kapitalismus deutete, sahen sich die DDR-Bürger nicht in der Nachfolge des "Dritten Reiches". Sie verstanden das belastende NS-Erbe nicht als Teil ihrer eigenen Geschichte, sondern als etwas weit Entferntes, das mit ihnen nicht viel zu tun hatte.

Zu ähnlichen Befunden kam auch unsere Studie über das Geschichtsbewusstsein, wobei man nach Generationen differenzieren muss. Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf Gespräche mit ehemaligen DDR-Bürgern. Ein solches "Losgelöstsein" von der belastenden Vergangenheit ließ sich am deutlichsten in Interviews mit den Vertretern der ersten Nachkriegsgeneration feststellen. Die älteren Gesprächspartner der Kriegsgeneration und die jüngeren der zweiten Nachkriegsgeneration hatten die "antifaschistische" Erziehung keineswegs uneingeschränkt verinnerlicht. Die Älteren beriefen sich vielmehr auf ihre eigenen, widersprüchlichen Erinnerungen an diese Zeit, die sich nicht völlig umdeuten ließen. Bei den Jüngeren hatte die Bindekraft der offiziellen Ideologie weitgehend nachgelassen, und das Identifikationsangebot des Antifaschismus zeigte weniger Wirkung. Die Aussagen der Vertreter der zweiten Nachkriegsgeneration ähnelten übrigens denen ihrer Altersgenossen aus der alten Bundesrepublik. Bei ihnen stellten wir fast gleichermaßen die Abwehr von tatsächlichen oder vermeintlichen Schuldvorwürfen fest, denen sie sich als Deutsche ausgesetzt sahen. Sie sprachen ebenso den Wunsch aus, dass endlich Schluss sein müsse mit der Erinnerung an die Vergangenheit.

Solche Worte waren von den Vertretern der ersten DDR-Nachkriegsgeneration nicht zu hören. Die Befragten dieser Altersgruppe bezeichneten allgemein die Erinnerung an den Nationalsozialismus als wichtige Aufgabe für die Gesellschaft. Sie wünschten sich, dass von dieser Erinnerung eine dauerhafte Mahnung für die Gegenwart ausgehe. Zweifellos hatten sie das formelhafte "Nie wieder" verinnerlicht. Eine Identifikation mit dem untergegangenen sozialistischen Staat leiteten die Betreffenden aber nicht unbedingt aus dieser Haltung ab. Doch sie hatten, solange die DDR noch existierte, offenbar das beruhigende Gefühl, auf der "richtigen Seite" zu leben, in einem System, das eine Wiederkehr des Faschismus in jedem Fall verhindern würde.

Verkoppelung der Vergangenheiten

Seit 1990 geschieht in der öffentlichen Debatte häufig eine Verkoppelung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Diskussion um die DDR-Geschichte. Das ist nicht verwunderlich. Nach der Vereinigung gab es in den neuen Bundesländern nicht nur einen radikalen Paradigmenwechsel in Bezug auf die Bewertung des Sozialismus in der DDR. Auch das starre, hermetische Bild von der NS-Vergangenheit, wie es bis dahin in KZ-Gedenkstätten, Museen, Schulbüchern und Publikationen gezeichnet worden war, stand nun zur Disposition. Schließlich war dieses Vergangenheitsbild, dessen Botschaft im Sozialismus mündete, ganz wesentlich vom Legitimationsinteresse der SED-Führung geprägt worden.

Die gleichzeitige und doppelte Revision hat zweifellos mit dazu geführt, dass sich heute beide Erinnerungsschichten berühren, überlagern, vermischen, sogar in Konkurrenz miteinander treten, zumal, wenn es um Orte geht, an denen nicht nur zur NS-Zeit Menschen inhaftiert und gequält wurden, sondern die nach 1945 in der SBZ oder später in der DDR ebenfalls zu diesem Zweck genutzt wurden. Dort muss eine erstarrte, eingeengte Erinnerung neu befragt und ein bisher tabuisierter Teil der Vergangenheit in die Geschichtsarbeit einbezogen werden. Hier wäre nicht nur an die bekannten Kontroversen um die KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen zu denken, die später als sowjetische Speziallager dienten. Ich denke auch an Haftorte wie das Zuchthaus Brandenburg, das Zuchthaus Bautzen, die Gedenkstätte Münchner Platz in Dresden. Überall dort sind heute Gedenkstättenmitarbeiter wie Besucher mit der zweifachen Vergangenheit dieser Orte konfrontiert und stehen vor der Aufgabe, angemessen damit umzugehen. Es geht immer wieder um die gleichen Fragen: Sollen beide Vergangenheiten in der Darstellung völlig voneinander getrennt werden? Oder können sie in Zusammenhang gebracht oder gar miteinander verglichen werden?

Zu Beginn der neunziger Jahre habe ich als Mitglied der Expertenkommission für die Neuorientierung der Brandenburgischen Gedenkstätten diesen Konflikt ganz nah miterlebt. Es gab damals heftige Kontroversen zwischen den Opferverbänden. Das Internationale Auschwitzkomitee veröffentlichte eine große Anzeige in der "Zeit", in der die Bemühungen, in den KZ-Gedenkstätten auch an die sowjetischen Speziallager zu erinnern, als Vorbereitung "eines neuen Auschwitz" verdammt wurden. Mit derart schweren Vorwürfen wollte man in letzter Minute eine Entscheidung blockieren.

Inzwischen hat sich die Situation verändert. Zwischen den Opferverbänden, die beide Vergangenheiten repräsentieren, existiert ein zerbrechlicher Konsens. Aber direkt und indirekt geht es in den Debatten immer wieder und weiterhin um eine "Konkurrenz der Opfer". Die überlebenden Häftlinge der Nachkriegszeit fühlen sich benachteiligt, zurückgesetzt, als Opfer zweiter Klasse behandelt. Häufig beklagen sie, dass ihre Leidensorte nicht angemessen bezeichnet und beachtet werden. Das Gedenken an nationalsozialistische Verfolgung und Holocaust, wie es sich in 40 Jahren in der Gesellschaft der alten Bundesrepublik etabliert hat, ist für sie der Maßstab, an dem sie den Umgang mit ihrer Leidensgeschichte messen. Die Opfer des Stalinismus, wie sie sich selbst in ihrem Dachverband nennen, beklagen, dass das Bild der SBZ/DDR, wie es in der Öffentlichkeit gezeichnet wird, viel zu freundlich und harmlos erscheine und ihre Verfolgungsgeschichte häufig ausgespart bleibe. Auf der anderen Seite äußern ehemalige DDR-Bürger, wie schon erwähnt, dass das öffentliche Bild der DDR nur noch aus Repression und Terror bestehe. Ihr normales Alltagsleben komme darin nicht vor.

Eine Verkoppelung der Debatten um DDR und Nationalsozialismus finden wir zum Beispiel in der Kontroverse um die Ehrenbürgerwürde für den Kinderarzt Jussuf Ibrahim, die in den vergangenen Jahren in Jena geführt wurde. Als der Publizist Ernst Klee aus Frankfurt/Main Fakten über die Beteiligung des in Jena hoch verehrten Mediziners am nationalsozialistischen Mord an behinderten Kindern enthüllte und die Aberkennung von dessen Ehrenbürgerwürde forderte, wiesen Bürgerinnen und Bürger - auch Abgeordnete des Jenaer Stadtparlaments und Mitglieder von Ärztevereinigungen der Region - das als Versuch der Delegitimierung der Leistungen der DDR-Medizin vehement zurück.

Wer sich mit der DDR-Karriere von Ibrahim und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beschäftigt, stößt wiederum zwangsläufig auf die Aktivitäten der Staatssicherheit, die seinerzeit viele Informationen über die NS-Belastung der betreffenden Personen zusammentrug, gleichzeitig aber dafür sorgte, dass die Dokumente unter Verschluss blieben, um das Ansehen der DDR-Medizin in der Öffentlichkeit nicht zu beschädigen. Viele Jahrzehnte lang hatte sich das Schweigen der Obrigkeit mit der Verleugnung der Bürger/innen verbunden. Als nach "Wende" und Vereinigung dieses Schweigen endlich aufbrach, meinten die Angegriffenen, es gehe vor allem um ihre Identität und ihre Lebensleistung, die es zu verteidigen galt.

Ähnlich und doch anders mag es den Fürstenberger Bürgerinnen und Bürgern während des so genannten Supermarktskandals gegangen sein. Sie waren 1991 unvermittelt als "hässliche Deutsche" in die Schlagzeilen geraten, weil sie mit einer spontanen Demonstration den umstrittenen Bau eines Supermarkts nicht weit vom Eingang des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück hatten unterstützen wollen. Auch die Fürstenberger Bevölkerung hatte sich, ähnlich wie die Jenaer, im pauschalen Antifaschismus der DDR-Zeit eingerichtet. Einmal im Jahr waren sie pflichtgemäß zur Gedenkveranstaltung hinunter an den Schwedtsee gegangen. Es war bequem, dass die Verbindung zwischen Stadt und Lager weitgehend tabuisiert war und die Erinnerung an das KZ auf ein kleines Areal zwischen Lagermauer und See begrenzt blieb.

Als nach 1990 eine neue Geschichtskonzeption nach der tatsächlichen Ausdehnung des Frauenkonzentrationslagers fragte und die bis dahin allseits gebilligte Grenze zwischen historisch belastetem und alltäglich nutzbarem Raum in der Stadt zu verschieben oder sogar ganz aufzuheben drohte, wurden in diesem Konflikt auch tiefere Erinnerungsschichten aufgewirbelt. Alte Rechtfertigungsmuster und die bisher öffentlich nicht thematisierten eigenen Leiden und die erlebte Willkür am Ende des Krieges und in der frühen Nachkriegszeit verbanden sich in dieser Situation zu einem widersprüchlichen und explosiven Gemisch.

Auf welche Weise vor allem im familiären Dialog in den ostdeutschen Bundesländern die Vertreter/innen der Großelterngeneration nach so vielen Jahren des Schweigens ihre Leidens- und Verfolgungserfahrungen in der Nachkriegszeit gegen die Geschichte des Nationalsozialismus setzen oder sogar dagegen aufrechnen möchten, ist in einer Publikation nachzulesen, die unter dem Titel "Opa war kein Nazi" Befragungsergebnisse von Vertretern dreier Generationen vorstellt. In der Studie von Harald Welzer und seinen Mitarbeiter/innen wurden Angehörige dreier Generationen über die Erinnerungen an die NS-Vergangenheit und die Weitergabe von Erfahrungen an Kinder und Enkel befragt. Die Autorin Sabine Moller, die vor allem Familien in den ostdeutschen Bundesländern befragte, machte dabei die Entdeckung, dass die Großelterngeneration, die den Nationalsozialismus noch erlebt hat, nach dem Ende der DDR moralisch an Boden gewonnen habe und entsprechenden Einfluss auf die Enkelgeneration ausübe. Die VertreterInnen der Kriegsgeneration bräuchten heute nur auf die "Stasi" verweisen, um kritische Fragen ihrer Töchter und Söhne nach ihrem damaligen Verhalten abzuwehren.

So versuchte beispielsweise Frau Haase, eine der Befragten, im Gespräch mit ihrer Tochter und ihrem Enkel die NS-Zeit als heile Welt darzustellen, die erst mit dem Krieg zerbrochen sei. Die Tochter gab zu verstehen, dass sie anderer Auffassung sei, worauf die Mutter erwiderte: "Was du in der DDR gelernt hast, das ist doch heute nicht mehr aktuell." Die Tochter von Frau Haase konnte - anders als ihre Altersgenossinnen aus dem Westen - so schnell in die Defensive gedrängt werden, weil sie ja inzwischen weiß, dass sie selbst aus einer Diktatur kommt. Sie hat das DDR-System mitgetragen oder sich zumindest darin arrangiert.

Wie weiter?

Die Geschichte der SBZ/DDR ist ein schwieriges Feld für die Erinnerungsarbeit. Es ist eine Geschichte, die historisch noch frisch ist, die sehr fragmentiert erinnert und sehr kontrovers diskutiert wird. Für die Mehrheit der ehemaligen DDR-Bürger steht im Rückblick vor allem der eigene Alltag im Vordergrund. Der Geschichtsdiskurs in der Öffentlichkeit wird aber bestimmt vom Thema Machtstrukturen, Repression und Verfolgung. Von diesem Thema handeln die bisher eingeweihten Gedenkstätten, die aufgestellten Gedenktafeln und Denkmäler: das ehemalige Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen, das Internierungslager und Zuchthaus Bautzen, das Mauermuseum oder das Denkmal für die Opfer des 17. Juni 1953. Es gibt in der vereinigten Bundesrepublik nur ein Museum der Alltagskultur der DDR und eigentlich keines, das sich allein mit der Geschichte der DDR beschäftigt (sieht man einmal vom Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig ab, bei dem die Opposition in der DDR im Mittelpunkt steht).

Die Erinnerungsarbeit ist auch deshalb heikel, da es aufgrund eines doppelten Paradigmenwechsels in der Praxis häufig eine enge Verkoppelung der Erinnerung an die NS-Vergangenheit und an die frühe Nachkriegzeit gibt. Auf diese Weise verbinden sich gegenwärtig die Revision der antifaschistischen Erinnerungskultur und die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte auf der Ebene der Familienerzählung wie in der öffentlichen Erinnerungsarbeit zu einem widersprüchlichen Komplex, der unbedingt ernst genommen werden muss.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Es handelt sich um ein Projekt des Forschungsinstituts für Arbeiterbildung Recklinghausen, in dessen Verlauf Mitte der neunziger Jahre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ost und West zu ihrem Geschichtsbewusstsein befragt wurden, sowie um Interviews mit Bürgerinnen und Bürgern der brandenburgischen Kleinstadt Fürstenberg Ende der neunziger Jahre über ihre Erinnerungen an das nahe gelegene Konzentrationslager Ravensbrück. Einbezogen wurde auch eine Untersuchung der Universität Hannover über die generationelle Übermittlung von Geschichte in Ost und West. Vgl. Bernd Faulenbach/Annette Leo/Klaus Weberskirch, Zweierlei Geschichte. Lebensgeschichte und Geschichtsbewusstsein von Arbeitnehmern in Ost- und Westdeutschland, Essen 2000; Annette Leo, "Das ist so'n zweischneidiges Schwert hier unser KZ (...)". Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück in der lokalen Erinnerung, in: Dachauer Hefte, Nr. 17 (2001), S. 3ff; Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschugnall (Hrsg.), Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, München 2002.

  2. Jörn Rüsen, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik. Bd. I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1984, S. 48ff.

  3. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 22.1. 1998.

  4. Vgl. H. Welzer u.a. (Anm. 1).

  5. Sabine Moller, "Du und Dein DDR-Geschichtsbild!". Der neue Blick auf die Familiengeschichte im Nationalsozialismus nach dem Ende der DDR, in: Horch und Guck, Nr. 40 (2002) 4, S. 26.

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