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Die Prager Botschaftsflüchtlinge

Nicholas Brautlecht

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"Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." – der Rest ging in einem Jubelsturm unter. In Prag verkündete Hans-Dietrich Genscher die Ausreisegenehmigung für Tausende DDR-Flüchtlinge.

Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der westdeutschen Botschaft in Prag. Am 30. September 1989 informiert er die rund 4.000 DDR-Flüchtlinge darüber, dass ihre Ausreise in die Bundesrepublik bewilligt wurde. (© AP)

"Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." lautet der wohl berühmteste unvollendete Satz der Wendezeit. Die übrigen Worte des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher gingen im Jubelsturm unter. Etwa 4.000 DDR-Flüchtlinge lagen sich an diesem Abend des 30. September 1989 in der westdeutschen Botschaft in Prag in den Armen und schrien vor Freude und Erleichterung. Einige von ihnen hatten seit Wochen ausgeharrt, um nach Westdeutschland auszureisen.

Schon vor 1989 hatten sich DDR-Bürger in die westdeutsche Botschaft in Prag geflüchtet. Wie der damalige Botschafter, Hermann Huber, in seinen Erinnerungen schreibt, musste die im Palais Lobkowicz beheimatete Vertretung bereits fünf Jahre zuvor Zufluchtsuchende aus der DDR versorgen. Einigen der ausreisewilligen Botschaftsbesetzer gelang es damals, von der Bundesrepublik "freigekauft" zu werden. Der Großteil kehrte jedoch in die DDR zurück, nachdem die Behörden in Ostberlin ihnen Straffreiheit und die Genehmigung der Ausreiseanträge zugesichert hatte.

Als Anfang 1989 erneut Dutzende Flüchtlinge aus der DDR über den Zaun auf das Botschaftsgelände gelangen, um ihre Ausreise zu erzwingen, können DDR-Unterhändler die Flüchtlinge zunächst erneut zur vorübergehenden Rückreise bewegen. Doch als im Sommer 1989 der Ansturm der Flüchtlinge auf die Prager Botschaft ein ganz neuen Ausmaß erreicht, sind dazu immer weniger Flüchtlinge bereit. Laut Huber setzte sich zunehmend eine "militante Haltung" durch, mit dem Ziel, der DDR-Führung Zugeständnisse abzuringen. "Die Flüchtlinge wollten unmittelbar in die Bundesrepublik ausreisen", so Huber.

Flüchtlingswellen zwischen Ungarn und Österreich

Es ist die Zeit, als über Ungarn schon mehrere Tausend Ostdeutsche in den Westen fliehen, erst über die grüne Grenze – durch Wälder und Felder – später über die offiziellen Grenzübergänge zwischen Ungarn und Österreich, die in der Nacht zum 11. September geöffnet werden. Auch in die Ständige Vertretung der BRD in Ostberlin strömen in diesen Wochen ausreisewillige DDR-Bürger. Es gibt Befürchtungen, Erich Honecker könnte im Rahmen des 40. Jahrestags der DDR im Herbst die Grenze zur Tschechoslowakei schließen. Auch aus diesem Grund steigen täglich mehr Ostdeutsche über den drei bis vier Meter hohen Zaun der westdeutschen Botschaft in Prag. Immer seltener werden sie dabei von den tschechoslowakischen Sicherheitskräften gehindert. Denn auch in der Tschechoslowakei hat Gorbatschows Perestroika politisches Tauwetter ausgelöst. Nach Ansicht Hubers verfiel die Prager Führung zudem in eine gewisse Orientierungslosigkeit, weil aus Moskau keine klaren Anweisungen mehr kamen.

Am 30. September befinden sich etwa 4.000 Flüchtlinge in der Botschaft. Regenfälle haben den Garten der Vertretung in eine Schlammwüste verwandelt. Im Dreck stehen Bundeswehr-Stockbetten und Zelte. Viele der Frauen und Kinder sind im Hauptgebäude untergebracht. Einige schlafen auf den Stufen im großen Treppenhaus des Palais Lobkowicz. Die Stimmung ist depressiv, fast wie nach einer Katastrophe. Als es dunkel wird, entsteht plötzlich Unruhe. Das Gerücht geht um, jemand Wichtiges sei gekommen.

Wovon die Flüchtlinge nichts wissen: Der durch einen Herzinfarkt geschwächte Außenminister Genscher hat in den Tagen zuvor während eines Verhandlungsmarathons in New York auf eine schnelle Lösung des Flüchtlingsproblems gedrängt. Dabei gewann er am Rande der UN-Vollversammlung die Unterstützung seines sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse. Auch die USA, Großbritannien und Frankreich stellen sich in der Flüchtlingsfrage hinter Genscher. Während dieser eine Ausreise der Flüchtlinge ohne Umwege in die BRD forderte, pochte der damalige DDR-Außenminister Oskar Fischer auf eine vorübergehende Rückkehr der Ostdeutschen in die DDR, um die Souveränität seines Staates zu wahren.

Genscher reist nach Prag

Doch dann lässt sich Ostberlin überraschend auf einen Kompromiss ein: Die Flüchtlinge sollen in Sonderzügen über DDR-Territorium in den Westen reisen. Der Ständige Vertreter der DDR überbringt Genscher diese Nachricht nach dessen Rückkehr aus New York. Bei dem Treffen am Morgen des 30. Septembers im Kanzleramt nimmt auch der damalige Kanzleramtschef Rudolf Seiters teil, der für die deutsch-deutschen Verhandlungen in der Flüchtlingsfrage mitverantwortlich ist. Anschließend fliegen Genscher und Seiters in Absprache mit Bundeskanzler Helmut Kohl unverzüglich nach Prag.

Gegen 19 Uhr betritt Genscher den Balkon des Palais Lobkowicz. Wenig später setzt sich der erste Sonderzug mit Flüchtlingen in Bewegung. Wie mit der DDR-Führung vereinbart, geht die Fahrt über Dresden nach Hof in der Bundesrepublik. Was nur Wenige wissen und was in den Medien kaum Beachtung fand: Nach dem historischen Balkonauftritt Genschers folgten weitere Flüchtlingswellen. Schon wenige Tage später, am 3. Oktober, befinden sich Huber zufolge erneut mehr als 5.000 Menschen auf dem Gelände der Prager Botschaft – weitere 2.000 auf dem Vorplatz. Auch ihnen wird die Ausreise gewährt.

Auf die erneute Flüchtlingswelle reagierte die Ostberliner SED-Führung mit der Einführung der Visumspflicht für Reisen in die CSSR, hob diese Regelung aber nur etwa einen Monat später wieder auf. Inzwischen war es in Berlin und Leipzig zu Großdemonstrationen gekommen. Am 3. November gestattete die Ostberliner Führung ihren Bürgern dann die direkte Ausreise aus der Tschechoslowakei in den Westen, nachdem die Prager Botschaft erneut mit 5.000 Flüchtlingen übervölkert worden war.

"Es gab also für DDR-Bürger keinen Eisernen Vorhang und keine Mauer mehr. Es gab nur noch den Umweg über Prag", so Huber. Damit hatten die Prager Botschaftsflüchtlinge ihren Teil zur friedlichen Revolution 1989 beigetragen. Sechs Tage später, am 9. November, fiel die Berliner Mauer.

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Fussnoten

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Nicholas Brautlecht lebt als freier Journalist in Berlin und ist Mitglied des Netzwerks für Osteuropa-Berichterstattung "n-ost". Seine Schwerpunkte sind Außenpolitik, Kultur sowie Gesellschaft und Soziales. Er schreibt unter anderem für die Berliner Zeitung, Frankfurter Rundschau, Reuters und Spiegelonline. Sein Text über die Mauer am 9. November 1989 erschien 2009, er wurde 2018 von Holger Kulick ergänzt.