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Der 11. September: Neues Feindbild Islam? | Islam | bpb.de

Islam Editorial Der 11. September: Neues Feindbild Islam? Die vielen Gesichter des Islamismus Einige Thesen zum Islamismus als globaler Herausforderung Islam und islamistische Bewegungen in Zentralasien Der politische Kurswechsel in Pakistan Die Taliban und die Frauenfrage

Der 11. September: Neues Feindbild Islam? Anmerkungen über tief greifende Konfliktstrukturen

Mohssen Massarrat

/ 12 Minuten zu lesen

Der 11. September 2001 hat das Feindbild des Islam als einer gewaltträchtigen Religion revitalisiert. Die Folgen der damit einhergehenden Diskreditierung einer Weltreligion sind unübersehbar.

Einleitung

Der Terroranschlag am 11. September 2001 traf ins Herz der einzig verbliebenen Supermacht. "Das Welthandelszentrum ein aufgetürmter Trümmerhaufen, das Pentagon schwer angeschlagen, das Weiße Haus geräumt, der Präsident auf der Flucht, die US-Regierung im atombombensicheren Bunker in Nebraska - umfassender konnte eine Supermacht nicht gedemütigt werden", schrieb Martin Altmeyer sechs Tage nach dem Ereignis in der Frankfurter Rundschau. Ob die Täter sich über diese Dimension ihres Verbrechens im Klaren waren, mag dahingestellt sein. Ihre Tat hat tiefe Wunden in der seelischen Verfassung jener Amerikaner hinterlassen, die sich mit allem, was Amerika darstellt, voll identifizieren; der Anschlag traumatisierte sie und erschütterte ihr Selbstwertgefühl. Die Selbstmordattentäter waren, nach allem was bekannt ist, zu allem entschlossene Islamisten. Sie kamen aus einer Welt, die seit der islamischen Revolution im Iran als ein neuer Machtfaktor auf der weltpolitischen Arena für die Vereinigten Staaten und den Westen insgesamt eine neue politische Herausforderung darstellt. Die vermeintliche Bedrohung der "westlichen Zivilisation" durch den Islam, die gegenwärtig an die Wand gemalt wird, fördert erneut das Schwarzweiß-Denken zur Aufteilung der Welt in feindliche Lager wie islamische gegen christliche Welt, Morgenland gegen Abendland, Gottesstaat gegen westliche Demokratie, Finsternis gegen Aufklärung. Diese Art dichotomisches Denken erfuhr eine Renaissance. So verwundert es kaum, dass Samuel P. Huntingtons Thesen über The Clash of Civilizations wieder Konjunktur hatten. Tatsächlich lieferte auch die exorbitante Instrumentalisierung der jeweiligen kulturellen Werte durch die extremistischen Eliten der islamischen wie der christlichen Welt und die Wiederbelebung historisch verwurzelter Feindbilder den vermeintlich empirischen Beleg für Huntingtons simple Interpretationsmuster einer höchst komplexen Wirklichkeit.

Die moralische Legitimation für den Krieg der USA gegen das Talibanregime in Afghanistan und das Kriegsziel der Vernichtung jener, die "unsere Freiheiten, unsere Werte und unsere Zivilisation hassen" (George W. Bush), einerseits sowie die Ankündigung von Rache "gegen den neuen Kreuzzug, den der Westen erneut zur Vernichtung des Islam vorbereitet" (Osama Bin Laden), andererseits sind Ausdruck jenes dichotomischen Denkschemas, das einer differenzierten Wahrnehmung der tieferen Hintergründe eines hoch aktuellen Konflikts keinen Raum lässt. So wurde auch ein Ausloten von Lösungsalternativen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus zu einem aussichtslosen Unterfangen. Während der harte Kern der Taliban und Bin Ladens Al-Qaida ihren entschlossenen Kampf bis zur Selbstvernichtung ankündigten, forderte George W. Bush von Amerikas Verbündeten im Kampf gegen den Terrorismus bedingungslose Unterordnung. In diesem Kampf zwischen Gut und Böse wurden die Zivilbevölkerung und die zivilisatorischen Errungenschaften wie Demokratie arg in Mitleidenschaft gezogen; das friedenspolitische Ziel der Verbannung des Krieges als Mittel der Politik rückte in weite Ferne. Das Diktum des US-Präsidenten: "Wer nicht für uns ist, unterstützt den Terrorismus" hat in Europa, aber zumal auch in Deutschland von der "uneingeschränkten Solidarität" der rot-grünen Bundesregierung über das Junktim zwischen der Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder und der Zustimmung zur deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan bis zur Forderung von Außenminister Fischer: "Alles oder nichts" auf dem Parteitag der Grünen in Rostock seine für die deutsche Außenpolitik folgenreichen Spuren hinterlassen. Krieg als Mittel der Politik wurde auch in Deutschland wieder zur Normalität.

Der Krieg in Afghanistan zur Bekämpfung eines Terrorismus, der nicht nur dort, sondern auch in Saudi-Arabien beheimatet ist und der sein Netz in anderen arabisch-islamischen Ländern und darüber hinaus in Europa, und vor allem in den Vereinigten Staaten selbst ausgebreitet hat, stellt einen Anachronismus dar. Hinsichtlich des internationalen Netzes des Terrorismus ist der Krieg so gut wie wirkungslos. In der arabisch-islamischen Welt ist er das wirkungsvollste Mittel für noch mehr Hass gegen den Westen und die USA sowie für das Heranwachsen einer neuen Generation von Selbstmordattentätern. Die Unterstützung einiger islamischer Staaten in der Antiterror-Allianz schützt nicht davor, dass dieser Krieg als ein neuer westlicher Kreuzzug gegen den Islam interpretiert wird. Genauso wenig wie die Mitwirkung zahlreicher islamischer Staaten in der antiirakischen Allianz im zweiten Golfkrieg verhindern konnte, dass das islamistisch-antiamerikanische Lager um Osama Bin Laden beträchtlichen Zulauf aus allen arabischen Staaten erhielt. Wie der zweite Golfkrieg und der fortdauernde Bombenkrieg gegen den Irak reiht sich auch der Krieg in Afghanistan in die Eskalationslogik von Huntingtons "Kampf der Kulturen" ein und trägt dazu bei, dass Huntingtons Vision ganz im Sinne der self fulfilling prophecy Realität wird.

Huntingtons Gedankengebäude und Logik erschweren in der Praxis die Fähigkeit zur Beobachtung und Analyse der globalen Konflikte beträchtlich. So wird ausgeblendet, dass die Wurzeln der Konflikte primär nicht zwischen, sondern innerhalb der Kulturen zu suchen sind, dass die rasante, ökonomisch eindimensional und machtpolitisch asymmetrisch strukturierte Globalisierung im letzten halben Jahrhundert tief greifende soziale Risse und gefährliche Kulturbrüche hervorgerufen hat und dass selbst der militante Islamismus als eine Reaktion auf diese asymmetrisch strukturierte Globalisierung zu begreifen ist. Die Täter des Verbrechens vom 11. September 2001 sind das Produkt der individuellen und kollektiven Identitätskrise in der islamischen Welt, die in den Globalisierungsprozess eingebettet ist. Es könnte durchaus zutreffen, dass darüber hinaus auch pathologische Wahnvorstellungen oder apokalyptische Vernichtungsphantasien eine beträchtliche Rolle bei dem perfekt inszenierten Inferno gespielt haben.

Die politisch und wissenschaftlich weiterführende Frage ist allerdings, wie es dazu kommen konnte, dass auf das Inferno nicht nur in der islamischen Welt, sondern auch im christlichen Lateinamerika, in China, in Indien und in der gesamten Dritten Welt mit Gleichgültigkeit, klammheimlicher Freude oder gar offener Zustimmung reagiert wurde. Woher stammt der offenbar über Jahrzehnte aufgestaute antiamerikanische Hass in der arabisch-islamischen Welt und weit darüber hinaus? Aus meiner Sicht können für die Beantwortung dieser Frage vier Dimensionen und Problemfelder in Betracht gezogen werden.

Der Israel-Palästina-Konflikt ist dabei zweifelsohne der wichtigste Kristallisationspunkt, aus dem alle antiwestlichen arabisch-nationalistischen und islamisch-fundamentalistischen Bewegungen ihre Motivation und Legitimation schöpfen. Israel ist die größte, auch mit Atomwaffen ausgerüstete Militärmacht im Nahen und Mittleren Osten und weigert sich, gerade wegen seiner militärischen Überlegenheit, seine Besatzungspolitik in Palästina zu beenden. Vielmehr stellt dieses Land tagtäglich seine Überlegenheit als Besatzungsmacht demonstrativ zur Schau, indem es palästinensische Häuser zerstört, palästinensischen Grund und Boden beschlagnahmt, die Palästinenser demütigt und ihnen unermessliches Leid zufügt. Dadurch fühlen sich auch Millionen von Menschen in der arabisch-islamischen Welt gedemütigt. Die Palästinenser reagieren auf die von ihnen empfundene Ungerechtigkeit und Ohnmacht mit der Intifada bzw. mit terroristischen Anschlägen.

Bei den Arabern und Moslems in der ganzen Welt verursacht die nun schon seit Jahrzehnten andauernde Demütigung der Palästinenser Wut und Ohnmachtsgefühle, die sich auch im eigenen Land in Terroranschlägen gegen westliche Touristen (z. B. in Ägypten) entluden bzw. zu Anschlägen gegen eigene Regierungen führten, die sich mit Rücksicht auf die USA gegenüber dem Israel-Palästina-Konflikt eher in Zurückhaltung üben. Nun ist es Osama Bin Laden gelungen, die angestaute Wut durch die im Zusammenhang mit dem zweiten Golfkrieg gegen den Irak gegründete "internationale Brigade der arabischen Afghanen" und später die Al-Qaida in einen modernen "Partisanenkrieg" gegen die Weltmacht USA zu kanalisieren.

Amerika gilt in den Augen der arabisch-islamischen Völker als entscheidende Schutzmacht der israelischen Besatzungspolitik und wird daher mitverantwortlich gemacht für die Demütigung der Araber und Moslems. Zu den schmerzlichen Wahrheiten des auch nach dem Terroranschlag gegen die USA weiter eskalierenden Israel-Palästina-Konflikts gehört, dass Israel offensichtlich der Fortsetzung des gegenwärtigen Zustands der Besatzung auf der einen und der Intifada und des islamistischen Terrors auf der anderen Seite einen höheren Rang beimisst als der Aufgabe seines Besatzungsregimes und der Schaffung eines dauerhaften Friedens.

Die islamistische Hamas wurde vom Osloer Friedensprozess ausgeschlossen, sie boykottierte ihrerseits den Friedensprozess und setzte durch Terroranschläge in Israel eine Eskalation der Gewalt in Gang. An dieser Gewalteskalation beteiligten sich auch jüdische Fundamentalisten. Rabin selbst wurde Opfer dieser Gewalteskalation, die sich nach seinem Tod weiter zuspitzte und nun zu einem offenen Bürgerkrieg in Palästina und zum endgültigen Ende des Friedensprozesses und der Autonomiebehörde auszuarten droht. Auch in diesem Zusammenhang wird das Verhalten der US-Regierung zum Konflikt in der islamisch-arabischen Welt als Desinteresse bzw. Parteinahme für die unversöhnliche Politik des israelischen Ministerpräsidenten Sharon angesehen.

Bis zum Sturz des Osmanischen Reiches und der Ghadjaren-Dynastie im Iran zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte im Mittleren und Nahen Osten die "Orientalische Despotie". Danach begann in der Türkei, im Iran sowie in Ägypten und Syrien ein Prozess der Modernisierung und des nation building, der mit unterschiedlichem Tempo und unterschiedlicher Fundierung vorangetrieben wurde. Der Wahlsieg Mossadeghs 1951 im Iran bei der ersten freien Wahl eines Parlaments in der Geschichte des Mittleren und Nahen Ostens signalisierte eine neue Epoche der längst fälligen und nun nachzuholenden Demokratisierung in der Region. Durch die Überwindung endogener Hindernisse der hoffnungsvoll begonnenen Demokratisierung, beispielsweise die schrittweise Zurückdrängung des Einflusses mächtiger Großgrundbesitzer und Stammesfürsten sowie durch den Abbau der zentralistischen Machtstrukturen diverser Monarchien und die Fortentwicklung demokratischer Strukturen, wären dieser Region aller Wahrscheinlichkeit nach nationalistische und fundamentalistische Strömungen, sehr viel Leid und Zerstörungen im letzten halben Jahrhundert erspart geblieben. Dabei wäre auch die Unterstützung der zarten Demokratieansätze von außen, die gerade begonnen hatten, sich in der Gesellschaft zu verankern, durchaus für diese Entwicklung förderlich gewesen.

Doch es kam alles anders. Die Region des Persischen Golfes wurde wegen der dort lagernden beträchtlichen Ölquellen in erster Linie zum geostrategischen Objekt, der gesamte Mittlere und Nahe Osten geriet in den Sog des Ost-West-Gegensatzes. Fortan bestimmten die geostrategischen Ölinteressen des Westens und die Eindämmung des sowjetischen Enflusses das außenpolitische Verhalten westlicher Industriestaaten gegenüber den Staaten dieser Region. In diesem Kontext setzte sich im letzten halben Jahrhundert dann eine völlig andere Entwicklung durch, als man ursprünglich hoffnungsvoll erwartet hatte: 1953 wurde die demokratisch gewählte Regierung Mossadegh im Iran mit Hilfe der CIA gestürzt, dann das Schah-Regime zu einer regionalen Supermacht militärisch aufgerüstet. Dadurch wurde ein gigantischer Rüstungswettlauf am Persischen Golf in Gang gesetzt, an dem die Sowjetunion nun ihrerseits durch Aufrüstung des Irak mitwirkte. Der Rüstungswettlauf entlud sich schließlich im ersten (iranisch-irakischen) Golfkrieg und dann im zweiten Golfkrieg. Im ersten Golfkrieg wurde das irakische Regime von Saddam Hussein gegen den Iran unterstützt und militärisch gestärkt, um es dann im zweiten Golfkrieg mit erheblichem militärischen Aufwand zu besiegen. Dass dieses - auch aus der eigenen geostrategischen Perspektive, wie die irakische Besetzung Kuweits vor Augen führte - äußert risikoreiche Ausspielen von zwei islamischen Staaten am Persischen Golf in den Augen der Menschen dieser Region Misstrauen erweckte und Hass erzeugte, kann nicht geleugnet werden. Jedenfalls wurden damit den ohnehin antiwestlich gesinnten Islamisten neue Argumente an die Hand gegeben, die westliche und US-amerikanische Politik im Mittleren und Nahen Osten bei der eigenen Bevölkerung als einen gezielten Angriff gegen den Islam insgesamt anzuprangern.

Das gestiegene Misstrauen gegenüber der Golfpolitik der USA ließ auch nach der Befreiung Kuwaits nicht nach. Die USA errichteten in Dahram und Riad (Saudi-Arabien) sowie in Kuwait City eigene Militärstützpunkte, die vor allem in Saudi-Arabien - dem Statthalter der bedeutendsten islamischen Heiligtümer in Mekka und Medina - für zusätzliche Unruhe und für wachsendes Misstrauen sorgten und bei frommen Moslems nicht nur auf der arabischen Halbinsel, sondern in allen arabischen Ländern und in der gesamten islamischen Welt als eine erneute Demütigung empfunden wurden. Osama Bin Laden und Al-Quaida haben auf diesem fruchtbaren Boden des islamischen Fundamentalismus ihre Furcht erregende Größe und Anhängerschaft gewonnen. Bin Laden und die Taliban selbst sind ja bekanntlich im Kontext des antisowjetischen Befreiungskampfes der afghanischen Mudjahedin mit Unterstützung von Saudi-Arabien und den Vereinigten Staaten in die politische Arena getreten.

Über ein halbes Jahrhundert erlebten die Menschen im Mittleren und Nahen Osten eine politisch-militärische Kooperation des Westens und der Sowjetunion mit diktatorischen Regimen, sie erlebten Militärinterventionen, Waffenimporte, Kriege, Zerstörungen und menschliches Leid. Es gibt kein einziges Beispiel dafür, dass Ansätze von Demokratie von außen in der Region gefördert wurden, dass die Werte westlicher Industriestaaten wie Pluralismus, Meinungsfreiheit und Schutz der Menschenrechte als Richtschnur ihrer Beziehungen mit den Staaten im Mittleren und Nahen Osten glaubhaft zugrunde gelegen hätten. Wie sollten die islamischen Bevölkerungen dieser Region die positiven politischen Errungenschaften des Westens auch wahrnehmen und übernehmen, wenn sie durch eigene Erfahrungen und Erlebnisse nicht diese positiven Werte, sondern im Gegenteil die negativen Auswirkungen einer Politik kennengelernt haben, die überwiegend von kurzfristigen ökonomischen Vorteilen des freien Zugangs zu den Ölquellen und den Opportunitäten im Kontext des Ost-West-Gegensatzes herrühren.

Dadurch wurde der Prozess der Demokratisierung in der Region um Jahrzehnte zurückgeworfen und den Völkern im Nahen und Mittleren Osten beträchtlicher Schaden zugefügt, den kurzfristigen amerikanischen und westlichen Interessen jedoch nicht geschadet, ganz im Gegenteil.

Es gibt ferner einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den nationalistisch-fundamentalistischen Regimen, den beiden Golfkriegen, den gigantischen Rüstungsexporten in die Region des Persischen Golfes in den letzten 30 Jahren und den sinkenden Ölpreisen. Letztere gelten bekanntlich als wichtiger Stabilitätsfaktor für die florierenden Volkswirtschaften kapitalistischer Industrieländer. Die auf eigenen kurzfristigen ökonomischen und geostrategischen Interessen basierende Politik der USA und des Westens wird durch den globalisierten Terrorismus eingeholt. Wie die drohende Klimakatastrophe als Reaktion der Natur auf ein kurzsichtig ausgerichtetes ökonomisches Handeln der reichen Eliten in den Industrie- und Entwicklungsländern gesehen werden muss, ist der globalisierte Terrorismus die politische Reaktion auf die Art und Weise der Aufrechterhaltung und Absicherung des Systems ökonomische Dominanz.

In der islamischen wie in der gesamten Dritten Welt vollzieht sich gegenwärtig eine historisch längst fällige gesellschaftliche Transformation und Industrialisierung, die mit tiefgreifenden sozialen Brüchen, mit Entfremdung, Entwurzelung und individuellen Identitätskrisen einhergeht. Der Globalisierungsdruck verstärkt diesen Prozess. Die nachhaltigste Form soziokultureller und sozialpsychologischer Aufarbeitung dieses unabdingbaren und konfliktträchtigen Prozesses, der in Europa über einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten stattgefunden hat, ist die Demokratisierung und Selbstbestimmung. Durch Einmischung, Intervention und Unterstützung korrupter und diktatorischer Regime sowie durch Aufpfropfen eigener Industrialisierungsmuster haben die großen westlichen Industriestaaten mit dazu beigetragen, dass die sozialpsychologische und soziokulturelle Aufarbeitung der gesellschaftlichen Transformation unterbrochen und verzerrt wurde bzw. überhaupt nicht stattfand. Die große Masse der Entwurzelten durch alle sozialen Gruppen hindurch empfindet so die dabei erlittene Identitätskrise als einen fremdgesteuerten Angriff auf eigene kulturelle Werte und ist daher dazu prädestiniert, Feindbildern zu folgen, ihr Heil in nationalistischen bzw. fundamentalistischen Perspektiven zu suchen und gleichzeitig das Ausland, den Westen und Amerika für das eigene Leid verantwortlich zu machen.

Die gegenwärtige Globalisierung ist asymmetrisch strukturiert, sie hat die ungleiche Einkommensverteilung in der Welt in den letzten Jahrzehnten vergrößert. Über eine Milliarde Menschen in der Dritten Welt kämpfen um das tägliche Brot und fristen verzweifelt ihr Dasein. Die in dieser Ungerechtigkeit schlummernden sozialen und politischen Instabilitätsfaktoren können unmöglich militärisch eingedämmt werden.

Dem privilegierten reichen Norden, der seine Beziehungen zu den Staaten des Südens allzu oft nach der ökonomischen bzw. geostrategischen Nützlichkeit als Militär-, Rohstoff- und Ölbasis ordnet und daher auch mit antidemokratischen Regimen politisch und militärisch paktiert, stehen die Zonen des Elends, der Sehnsucht nach Menschenwürde und Gerechtigkeit gegenüber. Die sozioökonomische Verelendung und die kulturelle Entwurzelung bei gleichzeitiger Zurschaustellung des Reichtums der Eliten durch globalisierte Kommunikationssysteme stellen den fruchtbarsten Nährboden für das Gedeihen des Terrorismus, des Drogenhandels und der mafiosen Netzwerke von heute und morgen dar.

Abschließend kann festgestellt werden, dass eine Reduzierung der Ursachen des internationalen Terrorismus auf Bin Laden und seine Al-Qaida, auf den islamischen Fundamentalismus oder gar auf den Islam selbst in die Irre führt. Vielmehr sind es die sozioökonomischen Defizite und kulturellen Brüche, Ungerechtigkeiten und Demütigungen sowie die Missachtung politischer, ökonomischer und kultureller Selbstbestimmung der Menschen, die Extremismus und Gewaltbereitschaft hervorrufen und im islamischen Fundamentalismus und arabischen Nationalismus im Nahen und Mittleren Osten, im serbischen Nationalismus auf dem Balkan, im hinduistischen Fundamentalismus in Indien, in religiös kanalisierten Gewaltausbrüchen in Indonesien, im christlichen Fundamentalismus in den USA und im jüdischen Fundamentalismus in Israel ihre Ausdrucksform finden. Wachsende Bereitschaft zum "Kampf der Kulturen", Zunahme des Drogenhandels und der kriminellen Finanztransaktionen sowie der Terroranschlag vom 11. September sind Ausdruck einer tief greifenden Instabilität der Welt. Die Vereinigten Staaten müssten gerade anlässlich des 11. Septembers 2001 erkennen, dass diese Politik sich langfristig "nicht rechnet" und neue Konflikte heraufbeschwören kann.

Die Reformkräfte in Europa haben eine nicht zu unterschätzende Aufgabe, um hier gegenzusteuern. Ein dauerhafter Frieden im Nahen und Mittleren Osten und eine nachhaltige Energieversorgung Europas erfordern eine eigenständige europäische Nahost-, Außen- und Friedenspolitik. Ob die uneingeschränkte Solidarität mit den Vereinigten Staaten diese Perspektive begünstigt, muss bezweifelt werden.

Dr.-Ing., Diplomingenieur, geb. 1942; Studium des Bergbaus, der Wirtschafts- und Politikwissenschaften; Professor für Politikwissenschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück.

Anschrift: Universität Osnabrück, Seminarstr. 33, 49069 Osnabrück.
E-Mail: Mohssen.Massarrat@uni-osnabrueck.de

Veröffentlichung u. a.: (Hrsg.) Mittlerer und Naher Osten. Geschichte und Gegenwart. Eine problemorientierte Einführung, Münster 1996.