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Würde: Argumentationslinien in der Bioethik

PD Dr. Theda Rehbock Theda Rehbock

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Die Würde des Menschen sollte stets oberster Maßstab sein, wenn in Grenzsituationen am Anfang oder Ende des Lebens Entscheidungen getroffen werden müssen. Dr. Theda Rehbock verfolgt die Idee einer allen Menschen zukommenden Würde bis zu ihren Wurzeln in der Moralphilosophie Kants zurück.

Ein Pfleger massiert am 25. Oktober 2007 in einem Seniorenzentrum in Stuttgart die Hand einer alten Frau. (© AP)

In gegenwärtigen Debatten über bioethische Fragen ist der Begriff der Würde besonders umstritten. Die Bedingungen, unter denen Menschen im Krankenhaus krank sind und sterben, werden – trotz der großen Erfolge moderner Medizin – oft als "würdelos" erfahren und beschrieben. Das gilt insbesondere für Bereiche, in denen mit besonders großem technischem Aufwand gegen Krankheit und Tod gekämpft wird, etwa auf Intensivstationen (Strätling-Tölle 2000). In kontroversen Auseinandersetzungen – etwa über Freitodhilfe, aktive Sterbehilfe, oder über den Umgang mit menschlichen Embryonen – wird zum Teil für gegensätzliche Positionen mit der Menschenwürde argumentiert. Diese fast beliebig erscheinende Verwendung des Begriffs nährt den oft zu hörenden Vorwurf, er sei im Grunde eine allzu vieldeutige pathetisch-rhetorische Floskel, um überhaupt für eine rationale Beurteilung konkreter ethischer Probleme im Gesundheitswesen geeignet zu sein (Hilgendorf 1999, 137ff., Birnbacher 2004, 250; Wetz 2004, 227; Werner 2000, 260f.).

Die Idee einer universalen, allen Menschen zukommenden Würde reicht weit zurück, sie hat ihre Wurzeln in der antiken, vor allem stoischen Ethik, der christlichen Theologie und insbesondere in der Moralphilosophie Immanuel Kants. Ihre Umsetzung in Form von grundlegenden Rechten und konkreten politischen Forderungen aber – etwa der Abschaffung von Sklaverei und Folter oder gleicher politischer Freiheiten von Armen und Reichen, Männern und Frauen – erfolgte erst im Zuge der "großen demokratischen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Amerika und Frankreich" (Bielefeldt 1998, 25). Vor allem die massiven Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts (Nationalsozialismus, Stalinismus, totalitäre Staaten), wozu besonders auch der Missbrauch der Medizin in Form von Menschenversuchen oder Massentötungen gehört, führten dazu, dass die Menschenwürde als Grundlage der Menschenrechte Eingang in viele politischen Verfassungen und Menschenrechtserklärungen fand (Bielefeldt 1998, Tiedemann 2007). Am bekanntesten sind der Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (1948): "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." und der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Verfassungsrechtlich gilt die Menschenwürde als Grundlage der Menschenrechte und Grundrechte. Dazu gehören zum Beispiel das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit oder das Recht auf Freiheit der Forschung.

Reichweite der Menschenwürde

Vor diesem Hintergrund stellt sich in bioethischen Debatten die brisante Frage nach der Reichweite der Menschenwürde. Sind tatsächlich alle Menschen – also auch Embryonen, Föten, Neugeborene, Menschen im Koma oder gar tote Menschen – Träger der Menschenwürde und damit "Rechtssubjekte"? Wiegt das Recht des Embryos auf Leben ebenso schwer wie das Recht der Mutter auf Selbstbestimmung oder das Recht der Medizin auf Freiheit der Forschung? Wiegt es weniger? Oder kann von einem solchen Recht überhaupt noch nicht die Rede sein, weil noch gar keine Person im Sinne eines Rechtssubjektes existiert?

Liberale Positionen der Medizinethik, die für eine weitgehende Liberalisierung medizinischer Praktiken in diesen Grenzbereichen des Lebens eintreten, sind der Meinung, der Begriff der Würde sei hier gar nicht sinnvoll anwendbar, weil notwendige personale Grundvoraussetzungen des Menschlichen (Vernunft, Autonomie, Selbstbewusstsein usw.) nicht vorhanden seien. Die Reichweite dieses Begriffs sei einzuschränken, sie gelte also nicht für alle Menschen, sondern nur für diejenigen, die über die dafür notwendigen personalen Eigenschaften oder Fähigkeiten verfügen. Fraglich und umstritten ist aber, wo genau und anhand welcher Kriterien die Grenze zu ziehen ist: beim Beginn der Hirnentwicklung oder Empfindungsfähigkeit, bei der Geburt oder erst beim Beginn der Entwicklung von Selbstbewusstsein? Und wie ist dann der Umgang mit Menschen rechtlich zu regeln und moralisch zu beurteilen, die außerhalb dieser Grenze liegen?

Solche Versuche, die Reichweite von Menschenwürde einzugrenzen, treffen auf entschiedenen Protest, vor allem von Seiten christlich-theologischer Positionen, die für strikte Verbote umstrittener medizinischer Praktiken wie Sterbehilfe, Abtreibung oder Embryonenforschung eintreten. Personale Eigenschaften seien zwar der Grund für die Zuschreibung der Würde, Kriterium aber könne allein die Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung sein, die mit dem biologischen Anfang des Lebens, d.h. mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle, beginne und mit dem biologischen Tod ende (vgl. Rager 1998). Wer faktisch noch nicht oder nicht mehr über personale Eigenschaften verfüge, habe doch an der allen Mitgliedern der menschlichen Gattung gemeinsamen personalen Existenzform teil und damit einen moralischen Anspruch auf die Achtung seiner Würde. "Weil die normalen Individuen der Spezies homo sapiens sich durch bestimmte Eigenschaften als Personen zu erkennen geben, müssen wir alle Individuen dieser Spezies als Personen betrachten, auch diejenigen, die zu solcher Kundgabe noch nicht, nicht mehr oder überhaupt nicht aktual imstande sind" (Spaemann 1990, 54f.).

Angesichts des menschlichen Forschungseifers, der Tiere zum Gegenstand biologischer und medizinischer Experimente oder gentechnologischer Manipulation werden lässt, wird auch die Frage diskutiert, ob andererseits auch (manchen) Tieren eine der Menschenwürde zumindest partiell vergleichbare Würde und damit ein Anspruch auf Schutz um ihrer selbst, also nicht bloß um menschlicher Zwecke willen zuzusprechen ist. In der Schweizer Verfassung wurde in diesem Sinne die Formel von der "Würde der Kreatur" eingeführt (Balzer et al. 1998; Baranzke 2002; Tiedemann 2007, Kap.18).

Besinnung auf die Geschichte des Begriffs "Menschenwürde"

Anlässlich dieser Auseinandersetzungen finden gegenwärtig in der Philosophie zahlreiche Bemühungen um eine Klärung des Begriffs statt, die auch mit einer Besinnung auf dessen Geschichte einhergehen. Es wird oft vergessen, dass die Forderung der Achtung der Menschenwürde sich auch auf die Beziehung des Menschen zu sich selbst bezieht, der auch sich selbst gegenüber verpflichtet ist und sich seiner eigenen Würde bewusst ist. In der Nachfolge der stoischen Ethik heißt das für Kant, dass der Mensch die Würde des Anderen nur achten kann, wenn er seine eigene Würde achtet, und umgekehrt, dass, wer die Würde des Anderen verletzt, auch die eigene Würde missachtet. Dieser Sinn des Würdebegriffs ist uns auch heute noch vertraut, wenn wir zum Beispiel sagen, etwas sei unter unserer Würde, wir seien uns selbst etwas schuldig und uns selbst gegenüber zu etwas verpflichtet.

Kant zufolge gründet die Würde in der Autonomie des Menschen als eines vernünftigen Wesens. (Vgl. GMS, AA IV, 436/Kant 1994, 60) Sich selbst zu achten bedeutet demzufolge auch, sich der eigenen Vernunft zu bedienen, statt sich von anderen Menschen oder vermeintlich unangreifbaren Autoritäten wie Staat, Kirche, Wissenschaft oder Medizin bevormunden zu lassen. Den "Wahlspruch der Aufklärung": "Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" bezieht Kant auf Religion und Wissenschaft gleichermaßen, sowie speziell auch auf die Medizin: "Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann" (Kant 1964, 53). Die moralkonstitutive Verschränkung von Selbstachtung und Achtung des Anderen kommt in der zweiten Formel des Kategorischen Imperativs zum Ausdruck: "Handle so, daß du die Menschheit [d.h. Vernunft, Autonomie] sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck und niemals bloß als Mittel brauchst" (Kant GMS: AA IV, 429/Kant 1994, 52).

"Zweck an sich selbst" zu sein bedeutet: nicht bloßes Mittel für Andere, nicht eine bloße Sache zu sein, sondern als Person sich seine Zwecke selbst zu setzen, sein Leben autonom zu führen. Autonomie und Würde werden so nicht als kontingente, verlierbare Eigenschaften gedacht, sondern als Grundzug der menschlichen Existenz: "So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor" (ebd./ebd. 51). Sachen können ihren Wert verlieren, die Würde dagegen ist unverlierbar. Avishai Margalit präzisiert diesen Gedanken, indem er sagt, genau genommen könnten wir gar nicht anders, als den anderen Menschen als Menschen wahrzunehmen, wenn wir nicht gerade in pathologischer Weise "menschenblind" seien, wie etwa nach Oliver Sacks der Mann, der auf Grund neurologischer Hirnstörungen "seine Frau mit einem Hut verwechselte" (Sacks 1994). Wir können nur so tun und uns so verhalten, als ob sie keine Menschen, sondern bloßes Objekt oder Sache, Maschine oder Tier seien. Das aber heißt, ihre Würde zu missachten. (Margalit 1997, Kap.6, 114-141)

Kant hat die im kategorischen Imperativ enthaltene moralische Grundforderung der Achtung der Würde in der Metaphysik der Sitten für den Bereich des Rechts ("Rechtslehre") und der Moral ("Tugendlehre") konkretisiert. Diese Unterscheidung zwischen Recht und Moral wird in bioethischen Debatten oft vernachlässigt. Aufgrund dessen besteht die Tendenz, Verletzungen der Menschenwürde, die nicht so massiv sind, dass sie auch rechtlich sanktioniert werden können und müssen, gar nicht als solche anzuerkennen. In der Alltagsrealität aller Gesundheitsberufe lassen sich vielfältigste, zum Teil sehr subtile Formen der Verletzung der Menschenwürde beobachten. Beispiele wären: Missachtung individueller Wünsche, Bedürfnisse und Gewohnheiten des Patienten; mangelnde Aufklärung über Sinn, Art und mögliche Folgen medizinischer und pflegerischer Maßnahmen; künstliche Ernährung anstelle persönlicher Betreuung und Unterstützung beim Essen; Fixieren, Psychopharmaka und psychischer Druck bis hin zu psychischer Gewalt, um "schwierige Patienten" ruhigzustellen; unpersönliches, primär durch medizinische Fachterminologie geprägtes Sprechen über Patienten als Nummer oder Krankheitsfall; usw.

Diese Beispiele zeigen auch, wie sehr nicht nur individuelles Handeln, sondern die Situation der Schwäche und Hilflosigkeit kranker Menschen auf der einen und die institutionellen Rahmenbedingungen auf der anderen Seite diese Verletzungen der Würde bedingen und verstärken. Avishai Margalit hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Missachtung der Würde auch im Verhältnis der staatlichen Institutionen zum Bürger erfolgen kann, etwa in Form menschenunwürdiger Strafe, unmenschlicher Bürokratie oder demütigender staatlicher Fürsorge und Wohltätigkeit. Hierbei stehe nicht nur die Würde des Bürgers, sondern zugleich die Würde der Gesellschaft bzw. des Staates und der in den gesellschaftlichen Institutionen handelnden Menschen auf dem Spiel (Margalit 1997). Dies ließe sich auch für das Gesundheitssystem zeigen. Angehörige von Gesundheitsberufen, die unter burn out leiden und möglicherweise ihre Arbeit aufgeben, tun dies nicht nur aufgrund physischer und psychischer Überlastung, sondern vor allem auch, weil sie sich gezwungen sehen, gegen ihre eigenen moralischen Überzeugungen zu handeln, sich von sich selbst entfremden, und das als Verletzung ihrer eigenen Würde empfinden.

Postmortaler Schutz der Menschenwürde

Hinsichtlich der Problematik der Reichweite folgt aus dem Kantischen Ansatz, dass es für die Achtung der Würde nicht entscheidend darauf ankommt, dass der Mensch aktuell über bestimmte, ihn als Person auszeichnende Fähigkeiten verfügt, und auch nicht darauf, dass er die Missachtung seiner Würde tatsächlich erleben und erleiden kann, ja, es kommt nicht einmal darauf an, dass er noch am Leben ist. In der Rechtslehre schreibt Kant daher auch dem Verstorbenen den Status der Person als Rechtssubjekt zu (vgl. hier zu im einzelnen Rehbock 2005, Kap. IX.5.3). Dem Verstorbenen sei gegenüber den Überlebenden das stellvertretend einzuklagende Recht zuzuschreiben, von Beleidigung und Verleumdung durch "böse Nachrede" verschont zu bleiben. Ein solches Recht bestünde nicht, wenn wir nicht mit Recht voraussetzen können, "daß der Verstorbene dadurch beleidigt wäre, ob er gleich tot ist, und daß diesem durch jene Apologie [d.i. rechtliche Verteidigung, Th.R.] Genugtuung widerfahre, ob er gleich nicht mehr existiert" (MS I, § 35: AA VI, 295/Kant 1986, 107).

Auch das deutsche Verfassungsrecht kennt einen solchen "postmortalen" Schutz der Menschenwürde und der Persönlichkeit (vgl. Geddert-Steinacher 1990, 70-73; kritisch dazu: Tiedemann 2007, 463-465). Für Kant ist es dafür in keiner Weise notwendig, die Existenz einer transzendenten Seelensubstanz oder unsterblichen Seele vorauszusetzen oder anhand biologischer Fakten darüber zu spekulieren, wann genau menschliches bzw. biologisches Leben beginnt und endet. Es gehört vielmehr wesentlich zu einer menschlichen Kultur, dass ich als Lebender auch für die Zeit nach dem Tod von den Anderen eine Form des Umgangs mit mir als Verstorbenem erwarte, die durch die Achtung meiner Würde gekennzeichnet ist.

Was dies konkret bedeutet, liegt nicht ein für allemal fest, kann von Kultur zu Kultur und auch individuell sehr verschieden sein. Maßgebend sind jeweils die allgemeinen wechselseitigen Erwartungen der Mitglieder einer menschlichen Gemeinschaft, wie mit ihnen im Fall des Todes umzugehen bzw. nicht umzugehen ist, etwa im Hinblick auf angemessene Formen der Bestattung, respektvolle Umgangsformen mit dem Leichnam, Achtung des letzten Willens, Formen der Erinnerung usw. (vgl. hierzu zum Beispiel: Thomas 1994; Margalit 2000; Wetz, Tag 2001; Macho, Marek 2007). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass gerade der Umgang mit Verstorbenen in der medizinischen Praxis oft als menschenunwürdig erfahren wird. Was für Verstorbene im Allgemeinen gilt, das gilt umso mehr für Menschen im Zustand des Hirntodes, des Wachkomas, der schweren Demenz und überhaupt des Sterbens (vgl. zum Beispiel Rüegger 2003).

Gilt es aber auch am Anfang des Lebens? Auch dem Kind kommt, Kants Rechtslehre zufolge, von seiner Zeugung an der Status der Person als Rechtssubjekt zu. Für die Eltern bedeutet das, dass sie das Kind von allem Anfang an nicht als etwas von ihnen Erzeugtes oder Gemachtes, "als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein) und als ihr Eigentum zerstören oder es auch nur dem Zufall überlassen, weil sie an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern auch einen Weltbürger in einen Zustand herübergezogen, der ihnen nun auch nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann" (MS I, § 28: AA VI, 281/Kant 1986, 98). Das bedeutet, dass das Kind von Anfang an nicht als bloß biologisches Material, sondern als Person zu betrachten und zu behandeln ist, der ein Recht auf Leben, Fürsorge und Erziehung zukommt. Welche konkreten Pflichten aber dem Kind oder auch dem Menschen im Koma, dem Sterbenden oder dem Dementen gegenüber bestehen, das ist immer auch abhängig von der konkreten Situation, in der der Mensch sich befindet und in der immer auch die Würde aller anderen an der Situation beteiligten Personen zu achten ist.

Wozu sind wir beispielsweise dem Kind gegenüber verpflichtet, wenn durch Pränataldiagnostik (PND) oder Präimplantationsdiagnostik (PID) festgestellt wird, dass es schwer krank und behindert ist bzw. sein wird? Sollten wir ihm dieses Schicksal durch Beendigung seiner frühen Existenz ersparen? Oder käme das der inhumanen Selektion "lebensunwerten" Lebens nach Art der Nationalsozialisten gleich? (Kuhlmann 2004). Sollte die Medizin menschliche Embryonen oder nicht-einwilligungsfähige Personen zum Gegenstand der Forschung machen dürfen? Oder werden diese dadurch in unzulässiger Weise zu einem bloßen Instrument für die Zwecke anderer? Wie diese Fragen zu entscheiden sind, das ist nicht unmittelbar aus der Menschenwürde ableitbar, es liegt auch nicht ein für allemal fest, es ist vielmehr gerade angesichts der – durch die Fortschritte der Medizin herbeigeführten – neuartigen Grenzsituationen am Anfang und Ende des Lebens immer von neuem zu reflektieren. Für diese Reflexion und Entscheidungsfindung jedoch sollte die Würde aller Menschen immer oberster Maßstab und Gesichtspunkt sein.

Literatur

Balzer P., Rippe K.P., Schaber P. (1999): Menschenwürde vs. Würde der Kreatur. Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen. 2.Aufl., Alber, Freiburg München.

Baranzke H. (2002): Würde der Kreatur? Die Idee der Würde im Horizont der Bioethik. Königshausen & Neumann, Würzburg.

Bielefeldt H. (1998): Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.

Birnbacher D. (2004): Menschenwürde - abwägbar oder unabwägbar? In: Kettner M. (Hrsg.): Biomedizin und Menschenwürde. Suhrkamp, Frankfurt am Main: 249-271.

Forschner M. (1998): Zwischen Natur und Technik. Zum Begriff der Würde des Menschen. In: ders.: Über das Handeln im Einklang mit der Natur. Grundlagen ethischer Verständigung. Primus, Darmstadt: 91-119.

Geddert-Steinacher T. (1990): Menschenwürde als Verfassungsbegriff. Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz. Duncker & Humblot, Berlin.

Hilgendorf E. (1999): Die mißbrauchte Menschenwürde. Probleme des Menschenwürdetopos am Beispiel der bioethischen Diskussion. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 7: 137-158.

Kant I. (1994): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Meiner, Hamburg.

Kant I. (1986): Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten. Erster Teil. Meiner, Hamburg.

Kant I. (1990): Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil. Meiner, Hamburg.

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Kuhlmann A. (2004): Wunschkinder aus dem Labor? Selektive Fortpflanzung und das Instrumentalisierungsverbot. In: Kettner M. (Hrsg.): Biomedizin und Menschenwürde. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 172-187.

Macho Th., Marek Chr. (2007): Die neue Sichtbarkeit des Todes. Wilhelm Fink, München.

Margalit A. (1997): Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Alexander Fest, Berlin.

Margalit A. (2000): Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

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Rehbock Th. (2005): Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns. Paderborn.

Rüegger H. (2003): Sterben in Würde? Nachdenken über ein differenziertes Würdeverständnis. NZN/TVZ, Zürich.

Wetz F.J. (2004): Menschenwürde als Opium fürs Volk. Der Wertstatus von Embryonen. In: Kettner M. (Hrsg.): Biomedizin und Menschenwürde. Suhrkamp, Frankfurt am Main: 221-248.

studierte Philosophie und Germanistik in Konstanz und Münster. Nach ihrer Promotion erhielt sie ein Postdoktorandenstipendium im Graduiertenkolleg "Ethik in den Wissenschaften" der Universität Tübingen. Seit 1996 ist sie Mitglied in der interdisziplinären Arbeitsgruppe "Pflege und Ethik" der Akademie für Ethik in der Medizin in Göttingen. 2003 erfolgte die Habilitation zum Thema "Personsein in Grenzsituationen. Beiträge zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns".