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Bioethik und Islam | Bioethik | bpb.de

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Bioethik und Islam

Dr. Thomas Eich Thomas Eich

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In der zeitgenössischen bioethischen Debatte islamischer Rechtsgelehrter (ulama) hat der Würdebegriff keine überragende Bedeutung bei der Diskussion über den Umgang mit vorgeburtlichem menschlichem Leben. Zentral ist hier vielmehr die Beseelung am 120. Tag der Schwangerschaft, durch die der Embryo letztendlich Menschenstatus erhält.

Die Blaue Moschee in Istanbul historischen Stadtteil Sultanahmet bei Sonnenuntergang. (© AP)

In der zeitgenössischen bioethischen Debatte islamischer Rechtsgelehrter (ulama) hat der Würdebegriff bei der Diskussion über den Umgang mit vorgeburtlichem menschlichem Leben keine überragende Bedeutung im Vergleich zu anderen, z.B. konsequentialistischen Überlegungen. Zentral ist vielmehr die Beseelung am 120. Tag der Schwangerschaft, durch die der Embryo letztendlich Menschenstatus erhält. Bei den Gelehrten, die Abtreibung vor dem 120. Tag erlauben, ist daher der Würde-Begriff implizit an die Beseelung gekoppelt und ein Embryo nach dem 120. Tag der Schwangerschaft wird im Status letztendlich dem eines geborenen Menschen gleichgesetzt. Die Seele wird dabei als ein 'Instrument' gesehen, durch das der Mensch bestimmte Eigenschaften erwirbt, vornehmlich die der Erkenntnisfähigkeit. Den Würde-Begriff an die Beseelung zu koppeln bedeutet somit, ihn von einem spezifischen Teilaspekt des Menschseins abhängig zu machen, nicht vom Menschsein an sich."

Die ulama, die für einen Lebensschutz ab der Befruchtung argumentieren, bringen allerdings den Würde-Begriff genauso für ihren Standpunkt in Anschlag. Sie führen dabei das Potenzialitätsargument an und betrachten frühe Entwicklungsstadien des Embryos als "Leben auf dem Weg zum Menschsein", der dann durch Beseelung und Geburt zur Vollendung gebracht wird. Hierbei stimmen sie mit den Vertretern der "120-Tage-Regel" insofern überein, als dass sie nach der Beseelung erhöhte Schutzrechte zugestehen.

Das Beseelungsargument wirft in mehrerlei Hinsicht für die bioethische Diskussion Probleme auf. Zunächst einmal kann das Vorhandensein der Seele gemäß der expliziten Aussage der ulama nicht empirisch bewiesen, sondern nur aufgrund von Offenbarung geglaubt werden. Die Grundlagentexte der Religion des Islams (Koran und Sunna, die gesammelten Taten und Aussprüche des Propheten und seiner Gefährten) lassen in dieser Hinsicht jedoch durchaus mehrere Lesarten zu. Dies zeigt sich etwa daran, dass seit den 1980er Jahren eine keineswegs kleine Minderheit der ulama unter Bezugnahme auf Koran und Sunna mit Entschiedenheit für einen Beseelungszeitpunkt am oder kurz nach dem 40. Tag der Schwangerschaft argumentiert. Weiterhin ist es schwierig, die Erkenntnisse moderner Embryologie eins zu eins mit den Aussagen von Koran und Sunna in Zusammenhang zu bringen, wie etwa die Diskussion über die Frage zeigt, ab welchem Zeitpunkt denn nun die 120 Tage genau berechnet werden sollen: ab dem Geschlechtsverkehr, ab der Befruchtung oder ab der Nidation.

Diese Fragen wurden insbesondere in den 1980er Jahren intensiv im Lichte der Möglichkeiten der seinerzeit neuen Reproduktionstechnologie diskutiert. Seitdem hat sich mehrheitlich ein Konzept durchgesetzt, das die Beseelung am 120. Tag nach der Befruchtung ansetzt, wodurch der Fetus Menschenstatus erhält. Eine entscheidende Rolle spielte hierbei die Verknüpfung dieses Zeitpunkts mit einer embryonalen Wachstumsphase, in der verschiedene Hirnregionen miteinander verwachsen, woraus abgeleitet wurde, embryonale Bewegung gehe nun auf einen Willen zurück, was zuvor ausgeschlossen sei. Die Existenz eines Willens wiederum sei Ausdruck der Existenz einer Seele, durch deren Einhauchung in den Körper individuelle Personalität hergestellt werde. Dieses Konzept wurde seitdem zur Basis medizinischer Praxis z.B. Irans und Saudi-Arabiens.

Grundlage der zeitgenössischen islamischen Bioethik-Debatte ist somit der Leib-Seele-Dualismus, der sich ab dem 9. Jahrhundert in der islamischen Geistesgeschichte durchsetzte und etwa ab dem 11. Jahrhundert zunehmend in die Abtreibungsdebatte integriert wurde. In früheren Schichten dieser Debatte hatte die Beseelung noch keine Rolle gespielt. Vielmehr konzentrierte man sich dort auf die Frage der körperlichen Formung des Embryos. Dies hatte einerseits mit der verfahrensrechtlichen Frage der eindeutigen Beweisbarkeit einer Abtreibung zu tun: die einen sahen diese bereits in frühen Entwicklungsphasen insofern als gegeben an, als dass Hebammen aufgrund Spezialkenntnissen einen abgetriebenen Embryo als solchen identifizieren könnten. Die anderen verlangten eine Ausprägung der menschlichen Form wie etwa der Gliedmaßen, so dass eine Identifikation auch ohne Spezialkenntnisse möglich sei. Andererseits war dies mit dem vor der Durchsetzung des Leib-Seele-Dualismus vorherrschenden Menschenbild verknüpft, das den Mensch in hohem Maße aufgrund seiner körperlichen Form als distinkte Spezies auffasste.

Die zeitgenössische bioethische Diskussion islamischer Rechtsgelehrter schöpft im Prinzip aus drei Textquellen: dem Koran, der wahrscheinlich bereits kurz nach Muhammads Tod im Jahre 632 in seine heute vorliegende Form kam; der Sunna, die sich als Text bis zum 9. Jahrhundert dynamisch entwickelte und dann weitgehend fixiert wurde; die Textzeugnisse bedeutender Autoren der islamischen Rechtsgeschichte vor allem des 11. bis 19. Jahrhunderts, die Koran und Sunna je nach Schulzugehörigkeit auf verschiedene Weise auslegten. Bei letzteren hatten sich zum 11. Jahrhundert die unterschiedlichen Rechtsschulen bzgl. der Beurteilung von Abtreibung und somit der statusrechtlichen Bewertung vorgeburtlichen Lebens weitestgehend festgelegt. Die islamische Rechtsliteratur des 11. bis 19. Jahrhunderts weist aus mehreren Gründen eine große Stabilität auf, in der die zwei Konzepte "Schutzrecht ab Befruchtung vs. 120. Tag" nebeneinander existierten. Erstens erkannten die Rechtsschulen einander in der Rechtmäßigkeit ihrer Existenz an. Zweitens entwickelte keine von ihnen historisch einen Exklusivitätsanspruch bzw. konnte ihn auf der Ebene der gesamten islamischen Welt durchsetzen. Und drittens hatte mit der Integrierung der Beseelungsfrage in die Abtreibungsdebatte ein empirisch nicht zu diskutierendes Element darin Einzug gehalten.

Diese Situation änderte sich ab den 1960er Jahren, als sukzessive in Ägypten, bei der saudisch dominierten Islamischen Weltliga mit Sitz in Mekka, der Organization of Islamic Conferences mit Sitz in Jeddah, sowie – wenn auch mit gewissen Einschränkungen – in Indien zumeist international besetzte Rechtsgremien etabliert wurden, die islamische Antworten auf Herausforderungen der Moderne jenseits der bestehenden Grenzen der Rechtsschulen geben sollten. Einen großen Anteil an diesen Herausforderungen stellen seit den 1980er Jahren medizinische Neuerungen, insbesondere im reproduktionsmedizinischen Bereich. Rechtspluralismus war hier logischerweise nicht mehr möglich und das Konzept, absolute Schutzrechte an die Beseelung am 120. Tag zu koppeln, setzte sich durch. Eine Ausnahme stellt der Fall der Bedrohung von Gesundheit und Leben der Mutter durch eine Fortführung der Schwangerschaft dar, bei dem im Zuge einer Rechtsgüterabwägung eine Abtreibung nach dem 120. Tag weiterhin möglich ist.

Durch diese Entwicklung seit den 1980er Jahren tritt zunehmend der Aspekt der Rechtsgüterabwägung in den Vordergrund, letztendlich also die Frage, welche Indikationen eines Abortes als legitim erachtet werden. Relativ unstrittig sind medizinische Indikationen wie Behinderung des Embryos oder Vorliegen einer Erbkrankheit. Hochproblematisch sind demgegenüber soziale Indikationen. Daran zeigt sich, dass mit der Durchsetzung der "120-Tage-Regel" keineswegs eine völlige Entkleidung des unbeseelten Ungeborenen von Schutzrechten einherging. Ein weiterer Grund ist aber auch der gesellschaftliche Wandel muslimischer Gesellschaften, der in hohem Maße als eine Veränderung von Geschlechterverhältnissen erlebt wird, etwa in Form der Zunahme vorehelicher zwischengeschlechtlicher Beziehungen. Die Ablehnung sozialer Indikation von Schwangerschaftsabbrüchen wird somit als Bollwerk gegen den so empfundenen "Verfall der Moral" begründet. In diesem Zusammenhang existieren also das Recht auf Leben und das Recht auf Menschenwürde in dem traditionell gegeneinander abgestuften Verhältnis in zeitgenössischen islamischen Bioethik-Debatten weiter.

Ein anderes Beispiel der öffentlichen Diskussion über Abtreibung in Ländern mehrheitlich muslimischer Bevölkerungen stammt aus der Türkei. Im Mai 2012 kündigte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan an, einen Gesetzesentwurf einzubringen, in dem die Frist für Abtreibungen von 10 auf 4 Wochen gesenkt wird. Nun ist es so, dass sich ein Schutzrecht für das Ungeborene ab der vierten Woche aus islamischen Grundlagentexten gar nicht herleiten lässt. In öffentlichen Kommentaren wurde daher über die Hintergründe von Erdoğans Vorstoß spekuliert. In diesen Diskussionen wurde immer wieder auf die 120 bzw. 40 Tage Regel verwiesen. Vermutlich als Reaktion darauf dachten nun auch Regierungsvertreter öffentlich über eine Sechs-Wochenfrist nach. Es ist plausibel, dass diese Frist aus islamischem Traditionsmaterial hergeleitet wurde bzw. man bestrebt war, die Regierungsposition mit diesem Material in Einklang zu bringen. Denn neben dem Traditionsmaterial, auf das sich die Sichtweise stützt, die den 120. Tag der Schwangerschaft als ausschlaggebend erachtet, gibt es auch anderes Material, das Zeitpunkte vom 40. bis 45. Tag als entscheidend ansieht; dieser Zeitraum entspräche dann sechs Schwangerschaftswochen. Im Juni 2012 wurde ein Gesetzentwurf eingebracht, aber nach heftigen Protesten noch im gleichen Monat zurückgezogen. Im Januar 2013 brachte Erdoğan das Thema dann erneut auf. Nun war zwar nicht mehr von einer Verkürzung der Frist die Rede. Der nun eingebrachte Gesetzentwurf sah aber vor, dass Mediziner sich aus Gewissensgründen weigern können, Aborte vorzunehmen, und dass Schwangerschaftsuntersuchungen in öffentlichen Krankenhäusern generell namentlich registriert werden. Obwohl es im Februar erneut zu Massendemonstrationen gegen den Gesetzesentwurf kam, wurde diesmal das Gesetz verabschiedet. In der Folge kam es nach Medienberichten immer wieder vor, dass die Eltern bzw. der Ehemann ohne Einwilligung der Frau informiert werden, wobei dies allerdings auf keine offiziellen staatlichen Anordnungen zurückgeht. Generell vertritt Erdoğan eine Politik, die für kinderreiche Familien (ab drei Kindern) wirbt.

Literatur

Eich, Thomas (2005). Islam und Bioethik. Eine kritische Analyse der modernen Diskussion im islamischen Recht. Wiesbaden.

Eich, Thomas: "Induced miscarriage in early Maliki and Hanafi fiqh", Islamic Law and Society, 16 (2009), 302-36.

Ghaly, Mohammed (2012). “The Beginning Of Human Life: Islamic Bioethical Perspectives”, Zygon: Journal of Religion and Science 47(1), 175-213.

geboren 1973, studierte Islamwissenschaft, Iranistik und mittelalterliche Geschichte. 2003-2007 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Orientalistik der Ruhr Universität Bochum im Rahmen des Forschungsprojektes "Bioethische Fragen im Kontext des islamischen Rechts". Seit 2007 ist er akademischer Rat a.Z. am Orientalischen Seminar der Universität Tübingen.