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Genetische Disposition und medizinische Behandlung

PD Dr. rer. pol. Markus Lüngen Sebastian Schleidgen

/ 7 Minuten zu lesen

Die Forschung verrät immer mehr über die genetische Disposition des Menschen. Das weckt Hoffnungen auf eine Medizin, die besser auf den Einzelfall ausgerichtet ist. Sind diese Hoffnungen berechtigt? Und welche Chancen und Risiken bergen solche Erkenntnisse?

Untersuchung von DNA-Proben. (© AP)

In den letzten gut anderthalb Jahrzehnten sind erhebliche Fortschritte in der Erforschung des menschlichen Genoms zu verzeichnen. Damit einher geht die Hoffnung auf eine präzisere Medizin, die es erstens ermöglicht, individuelle Erkrankungsrisiken durch Tests auf genetische Mutationen zu bestimmen und ggf. entsprechende präventive Maßnahmen zu ergreifen. Zweitens erwartet man Möglichkeiten einer besseren diagnostischen und prognostischen Beurteilung von Erkrankungen und ihren Verläufen, um früher und besser therapeutisch intervenieren zu können. Drittens schließlich rechnet man vor dem Hintergrund des stetig steigenden Wissens über individuelle Determinanten von Krankheiten sowie erwünschte und unerwünschte Wirkungen therapeutischer Maßnahmen mit der Entwicklung effektiverer und sicherer Behandlungsstrategien. Die genetische Disposition eines Menschen wird also nicht nur als Bezugspunkt prognostischer und präventiver Maßnahmen angesehen, sondern vielmehr auch als Grundlage einer verbesserten Diagnostik und Therapie.

Zunächst fokussierten diese Hoffnungen auf die sogenannte "individualisierte Medizin", deren wesentliches Ziel darin besteht, die Stratifizierung und das "Timing" der Gesundheitsversorgung durch Nutzung von Biomarkern auf der Ebene molekularer Signalwege sowie des Genoms, Proteoms und Metaboloms zu verbessern. Inwieweit mit diesem Ansatz die avisierten Ziele zu erreichen sind, ist allerdings umstritten. Zwar kann die individualisierte Medizin tatsächlich einige Erfolge vorweisen, etwa die Möglichkeit, das Brust- und Eierstockkrebsrisiko bei Frauen durch Tests auf Mutationen des sogenannten BRCA-1- bzw. BRCA-2-Gens zu bestimmen. Wird dabei ein erhöhtes Risiko festgestellt, können entsprechende primär- (vorbeugende Brust- bzw. Eierstock- und Eileiterentfernung) und sekundärpräventive (Magnetresonanzbildgebung) Maßnahmen durchgeführt werden, um die Krebserkrankung zu verhindern bzw. früher erkennen und mit größerer Aussicht auf Erfolg behandeln zu können. Im Therapiekontext ist das wohl bekannteste Beispiel der Test auf HER2/neu-Überexpression im Tumorgewebe von Brustkrebspatientinnen. Dieser Test ermöglicht Aussagen über die Wirksamkeitswahrscheinlichkeit des Stoffes Trastuzumab und indiziert, sofern ein bestimmtes Expressionsniveau festgestellt wurde, seine Anwendung, die wiederum das Gesamt- und progressionsfreie Überleben im Vergleich zu Patientinnen mit niedrigem HER2/neu-Expressionsniveau signifikant erhöht. Analog dazu kann heute bereits die Therapieplanung für metastasierte Melanome auf Ergebnisse von Mutationstests des sogenannten BRAF-Gens gestützt werden, die Prognosen hinsichtlich der Effektivität verschiedener Behandlungsmaßnahmen erlauben.

Trotz solcher Erfolge muss allerdings eingeräumt werden, dass Ansätze individualisierter Prognostik, Diagnostik, Prävention und Therapie nie zur breiten Anwendung kamen und mit einer Reihe von Problemen verbunden sind, die eine solche Anwendung wohl auch zukünftig unwahrscheinlich machen. Mit Blick auf prognostische und präventive Maßnahmen ist erstens zu konstatieren, dass die molekularen Ursachen für Erkrankungen häufig sehr komplex sind. Genetische Erklärungsansätze für Erkrankungen müssen daher grundsätzlich vorsichtig interpretiert werden. Darüber hinaus gibt es neben der genetischen Disposition fast immer auch weitere Ursachen für eine Erkrankung. So kann Alkoholkonsum das Risiko einer Alzheimererkrankung verändern. Wird dieser nicht berücksichtigt, besteht die Gefahr, die genetische Ausstattung als Ursache für eine Alzheimererkrankung zu identifizieren, obwohl tatsächlich das Konsumverhalten ursächlich ist. Um also einen Wert für medizinische Beratungen und Entscheidungen zu haben, müssen genetische Tests auf Erkrankungsrisiken zu einem wesentlichen Informationsgewinn gegenüber bereits bekannten Faktoren wie beispielsweise Alter, Geschlecht, Familiengeschichte bezüglich einer Erkrankung oder Lebensstil (zu nennen sind hier Rauchen, Bewegung, Ernährung und Übergewicht) führen, die bereits heute verlässliche Risikoschätzungen für wichtige Erkrankungen zulassen. Dies ist weiterhin aber nur für wenige Ausnahmen der Fall.

Zweitens kann zwar die Disposition für eine Erkrankung vorliegen, die Zunahme des Erkrankungsrisikos aber sehr gering sein. In der Regel führt eine Krankheitsveranlagung maximal zu einer Verdoppelung des Risikos, tatsächlich zu erkranken. Eine Verdoppelung des Erkrankungsrisikos mag zunächst erheblich erscheinen, hängt jedoch vom Grundrisiko in einer Bevölkerung ab. Liegt das Grundrisiko für eine Erkrankung beispielsweise bei 0,2% in der Gesamtbevölkerung, steigt es demnach durch die genetische Disposition selbst bei einer Verdoppelung auf maximal 0,4% an. Damit aber können angemessene Präventions- und Therapieentscheidungen kaum begründet werden.

Der dritte und häufigste Grund besteht darin, dass keine Präventionsmöglichkeiten für prognostizierte Erkrankungen bestehen. So können einerseits Erkrankungen prognostiziert werden, für die schlichtweg keine primärpräventiven Maßnahmen existieren, etwa im Falle einer Disposition für die Alzheimer-Demenz. Andererseits besteht die Möglichkeit, dass die Kenntnis einer genetischen Disposition keine Änderung sekundärpräventiver Maßnahmen bewirkt: Die Feststellung eines erhöhten Risikos für eine Alzheimererkrankung führt zu auch sonst üblichen Lebensstilempfehlungen (angemessene Ernährung, Verzicht auf Alkohol etc.). Es kann daher wichtiger sein, sich bestimmter Risikofaktoren zu entledigen, als die eigene genetische Disposition zu kennen. Zwar wird häufig argumentiert, dass die Feststellung eines erhöhten Erkrankungsrisikos auch die Bereitschaft zu einem Lebensstilwandel erhöht. Dies ist jedoch umstritten und bislang nicht belegt.

Auch mit Blick auf die individualisierte Diagnostik und Therapie bleiben Fragen offen. So belegt eine 2012 im New England Journal of Medicine publizierte Untersuchung eine signifikante genetische Heterogenität in Nierenkarzinomen: Die Autoren weisen in ein- und demselben Tumor genetische Profile sowohl mit günstiger als auch mit ungünstiger Therapieprognose nach. Für den Ansatz der individualisierten Therapie hat dies nicht zu unterschätzende Konsequenzen: Werden prognostische Aussagen auf der Grundlage einer einzelnen Tumorbiopsie getroffen – wie dies der gängigen Praxis entspricht –, ist nicht gewährleistet, dass diese auf den gesamten Tumor zutreffen. Damit ist auch der Erfolg der avisierten Intervention in Frage gestellt. Hinzu kommt, dass die Autoren eine erhebliche Dynamik im genetischen Profil eines Tumors nachweisen konnten, was individualisierte Strategien der Tumorbehandlung weiter erschwert.

Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen verschob sich der Fokus in den letzten Jahren zunehmend auf sogenannte "systemmedizinische" Ansätze, die auf zielgerichtete Präventions- und Therapiemaßnahmen durch bioinformatische Verarbeitung und Modellierung großer Datenmengen aus verschiedener Quellen abzielen. Dabei führte insbesondere die Einsicht in die Komplexität molekularer Erkrankungsursachen sowie möglicher Wechselwirkungen mit anderen, ebenfalls an der Krankheitsentstehung beteiligten Faktoren dazu, dass man sich nun an einer möglichst umfassenden, Betrachtung von Erkrankungen, ihrer Entstehung und ihren (möglichen) Verläufen versucht. Dazu sollen z.B. klinische, epidemiologische, Umwelt- oder Omics-Daten (wie die aus der individualisierten Medizin bekannten genomischen, proteomischen oder metabolomischen Daten) erhoben und systematisch zusammengeführt werden, um ein gewissermaßen ganzheitliches, d.h. ein auf alle relevanten Faktoren und systemischen Zusammenhänge fokussiertes Bild des Zustandes sowie möglicher Prognosen eines Patienten zu generieren.

Um dies zu erreichen sollen (system-)biologische und medizinische Forschungsansätze mit bioinformatischen Methoden und verschiedenen Verfahren mathematischer Modellierung verbunden werden. Im Zuge der Verarbeitung und Interpretation der verschiedenen Datentypen (etwa Omics-, epidemiologische oder umweltbezogene Daten) würden damit v.a. die (Bio-)Informatik und Molekularbiologie zunehmend Gewicht erhalten; mit Blick auf Präventions- und Therapieentscheidungen erfordern systemmedizinische Ansätze eine Zusammenarbeit sowohl von ärztlichen als auch von nicht-ärztlichen Experten aus unterschiedlichen Wissenschaftsfeldern.

Dieser Umstand ist mit nicht unerheblichen Problemen für eine mögliche systemmedizinische Praxis verbunden: So ist beispielsweise ungeklärt, welche Verantwortlichkeiten welchen – insbesondere nicht-ärztlichen – Experten in systemmedizinischen Behandlungskontexten zukommen können bzw. sollen. Sollten etwa Bioinformatiker oder Molekularbiologen angesichts ihrer Rolle für die Therapieplanung (mit)verantwortlich beispielsweise für mögliche therapeutische Fehler sein? Oder sollte diese Verantwortung weiterhin ausschließlich dem behandelnden Arzt zukommen? Auch könnte eine systemmedizinische Praxis regelmäßige Fallbesprechungen etwa im Rahmen klinischer Ethikkomitees in besonderen Maße erforderlich machen, um den jeweils spezifischen Verantwortlichkeiten gerecht werden zu können.

Die Komplexität systemmedizinischer Ansätze wirft darüber hinaus die Frage auf, wie und von wem therapeutische Entscheidungen überhaupt nach Maßgabe der Kriterien guter ärztlicher Praxis getroffen werden können. Die Forderung steht jedenfalls im Raum, dass eine systemmedizinische Versorgung grundsätzlich umfassender ausgebildete Ärzte voraussetzen würde und die ärztliche Ausbildung mithin in wesentlichen Teilen zu überdenken sei.

Es ist allerdings zu konstatieren, dass systemmedizinische Ansätze bislang primär in der Grundlagenforschung verfolgt werden und aufgrund der genannten Probleme (noch) nicht Teil der Versorgungspraxis sind.

Literatur

Burke W., Psaty B.M. Personalized medicine in the era of genomics. Journal of the American Medical Association 2007;298(14):1682-1684.

Erdmann P., Fischer T., Raths S. et al. Systemmedizin: Herausforderungen eines aktuellen Ansatzes. Deutsches Ärzteblatt 2015;112(31-32):A-1330.

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Gerlinger M., Rowan A.J., Horswell S. et al. Intratumor heterogeneity and branched evolution revealed by multiregion sequencing. New England Journal of Medicine 2012;366:883-892.

Hüsing B., Hartig J., Bührlen B. et al. Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem. TAB beim Bundestag, Berlin 2008.

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Schmitz U., Wolkenhauer O. (eds.). Systems medicine. Methods in molecular biology vol. 1386. New York: Springer; 2016.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Begriff des Proteoms verweist auf alle in einem Organismus vorhandenen Proteine. Bestimmte dieser Proteine können in fehlerhafter Ausprägung (mit)verantwortlich für die Entstehung von Erkrankungen wie Morbus Alzheimer sein. Proteomische Ansätze der individualisierten Medizin zielen beispielsweise darauf ab, Therapeutika zu entwickeln, die fehlerhafte Proteine unschädlich machen und so die Entstehung bzw. den Fortschritt einer Erkrankung verhindern. Der Begriff des Metaboloms verweist auf die Charakteristika der chemischen Prozesse in Zellen und Organismen. Für eine individualisierte Medizin ist dies insofern von Bedeutung als sich diese Prozesse in gesunden und kranken Zellen erheblich unterscheiden. Daraus ergibt sich ein Ansatzpunkt für die Erforschung der spezifischen Prozesse etwa in Tumorzellen sowie darauf ausgerichtete Therapiemaßnahmen.

  2. BRCA-1 und -2 gehören zu den sogenannten Tumorsuppressorgenen, die verantwortlich für normales Zellwachstum sind und ungebremstes Tumorwachstum verhindern. Sind sie mutiert, kann diese Funktion jedoch eingeschränkt und das Brust- und Eierstockkrebsrisiko erheblich erhöht sein.

Lizenz

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ist kommissarischer Leiter des Institus für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie der Universität zu Köln. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind u.a. die Steuerung von Gesundheitssystemen, Finanzierungssysteme im Gesundheitswesen sowie Verteilungsfragen und Ungleichheiten der Versorgung.

Sebastian Schleidgen, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Ethik, Theorie und Geschichte der Medizin der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar.