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Aufstieg zur europäischen Großmacht | Russland | bpb.de

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Aufstieg zur europäischen Großmacht (850 - 1850)

Prof. Dr. Hans-Henning Schröder Hans-Henning Schröder

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Seit seinem Eintritt in die Moderne ist Russland ein europäischer Staat. In wechselnder Gestalt und unter wechselnden Namen - als Russländisches Reich, Sowjetunion und Russländische Föderation - hat dieses Land die Geschichte Europas maßgeblich mitgestaltet

Das russische Reich im Jahr 1786. (© Public Domain)

Der Vielvölkerstaat, der sich über zwei Kontinente erstreckt - Europa und Asien - und sich vom lateinisch geprägten Okzident durch seine Orientierung an der byzantinischen Ostkirche unterschied, näherte sich im Verlauf der Neuzeit gesellschaftspolitisch den Kernstaaten Europas immer weiter an und trug seinen Teil zur Entfaltung europäischen Denkens und europäischer Kultur bei.

Eine politische und gesellschaftliche Organisation formierte sich im Raum des späteren Russland zunächst unter dem Einfluss anderer Kulturkreise. Mitte des neunten Jahrhunderts entstand entlang der Handelsrouten zwischen Ostsee und Schwarzem Meer ein System von bald slawisierten, verwandtschaftlich verbundenen, normannisch-skandinavischen Herrschaften, die sich im Lauf der Zeit zu einer festeren politischen Organisationsform, der Kiewer Rus, entwickelten. Stützpunkte wurden städtische Siedlungen wie Kiew - der Hauptort, der dem Herrschaftsverband auch seinen Namen gab -, Wladimir oder Susdal, die zugleich als Herrschaftssitz, Festung, Tributverwaltung, kirchliches Zentrum und Fernhandelsbasis fungierten. In dieser Phase setzte sich das Herrschergeschlecht der Rjurikiden durch, aus dem in der Folge die erste russische Zarendynastie hervorging.

Unter dem Kiewer Großfürsten Wladimir I., dem Heiligen (978-1015), setzte sich von Byzanz aus das Christentum in der Rus durch. Die Einbindung in den orthodoxen Missionierungsraum bedeutete auf lange Sicht die Separation vom lateinisch-christlichen Teil Europas, der mit Reformation, Renaissance und Aufklärung eine Entwicklung nahm, die in Russland nicht mitvollzogen wurde. Der Austausch mit dem Westen kam gänzlich zum Erliegen, als die Kiewer Rus unter den Mongolenstürmen der Jahre 1223, 1237/38 und 1239/40 zerbrach und die Teilfürstentümer für anderthalb Jahrhunderte unter die Oberhoheit des westlichen Mongolenkhanats, der "Goldenen Horde" mit ihrem Sitz in Sarai an der unteren Wolga, gerieten. In dieser Phase wurde Moskau zum neuen Machtzentrum der Rus. Im Jahr 1380 war es soweit erstarkt, dass es in einer siegreichen Schlacht auf dem "Schnepfenfeld" am Don der mongolischen Oberhoheit ein Ende setzen konnte.

Ivan III. (1462-1505) bezeichnete sich erstmals als "russischer Großfürst und Zar" und betonte mit diesem von der Bezeichnung "Caesar" abgeleiteten Titel seinen Anspruch auf Gleichrangigkeit mit dem Kaisertum im "Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation". 1510 entwickelte in Pskow der Mönch Filofej die Idee von Moskau als "Drittem Rom" - als dem dritten Zentrum der Christenheit nach Rom und Byzanz.

Eine Generation später ließ sich Ivan IV. (der Schreckliche, 1547-1584) als "Zar und Selbstherrscher des ganzen großen Russland" krönen - ein Titel, der den Anspruch auf die Nachfolge der byzantinischen Kaiserwürde einschloss. Unter seiner Herrschaft wurde das Reich im Kontext imperialer Machtpolitik nach Osten und Süden ausgedehnt. Im Innern folgte einer Phase der Reformen das Schreckensregiment, die Opritschnina. Mit seinem Sohn Fjodor, der 1598 ohne Nachfolger starb, endete die Dynastie der Rjurikiden. Nach einer Phase der "Smuta", der Wirren, wurde 1613 mit der Wahl des Bojaren Michail Romanow (1613-1645) ein Neuanfang gemacht. Die Bojaren waren Angehörige des Hochadels in der altrussischen Geschichte. Es war dann sein Nachkomme Peter I. (1682/1689-1725), der Russland mit harter Hand modernisierte und die "Pforten nach Europa" aufstieß.

Autokratische Modernisierung

Bereits im 16. Jahrhundert war die Zarenmacht mit den europäischen Mächten in Kontakt gekommen. Mit Schweden und Polen führte sie in wechselnden Koalitionen Krieg um den Besitz der baltischen Region. Im 17. Jahrhundert gewann die Verbindung mit West- und Mitteleuropa an Bedeutung. Die russische Politik konnte die wirtschaftlichen Entwicklungen und Verschiebungen der Machtverhältnisse im westlichen Europa nicht länger ignorieren.

Zar Peter baute eine seegängige Flotte auf, vergrößerte das Heer und schulte es nach westlichen Vorbildern. Er gestaltete die Zentralverwaltung um, indem er schwedischem Vorbild folgend nach Fachaufgaben strukturierte Kollegien (Ministerien) schuf, und er betrieb eine merkantilistische Wirtschaftspolitik, indem er den Handel und die heimische Produktion durch Errichtung von Manufakturen förderte. Ausländische Fachkräfte wurden ins Land geholt, Russen zum Studium ins Ausland entsandt. Zum 1. Januar 1700 ließ der Zar auch die alte byzantinische Zeitrechnung abschaffen, an deren Stelle nach dem Vorbild der protestantischen Länder der Julianische Kalender trat. (Der genauere Gregorianische Kalender, der in den katholischen Regionen galt und nach dem wir uns heute noch richten, wurde in Russland erst am 14. Februar 1918 eingeführt.)

Doch große Teile der Gesellschaft, insbesondere die Bauernschaft, blieben von dem petrinischen Modernisierungsversuch unberührt. Der Widerspruch zwischen der traditionsorientierten Bevölkerungsmehrheit und dem modern-absolutistischen Regime bestimmte bis weit ins 20. Jahrhundert das soziale und geistige Leben Russlands. Doch Peters Reformen schufen die Voraussetzungen für den Aufstieg des Landes zur europäischen Großmacht. Nach dem Sieg über die Schweden 1709 in der Schlacht bei Poltawa (heute in der Ukraine), nahm der Zar den Kaisertitel an, der von Preußen und den Generalstaaten der Niederlande sofort, von den meisten anderen europäischen Mächten im Lauf der nächsten 50 Jahre anerkannt wurde.

Im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte sich Russland zu einem wichtigen Akteur in der europäischen Politik. Unter den Nachfolgern Peters dehnte sich das Reich in Kriegen mit dem Osmanischen Reich nach Süden und durch die polnischen Teilungen nach Westen aus. In den Napoleonischen Kriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts spielte das Zarenreich als Gegner des napoleonischen Frankreich, dann als sein Verbündeter und schließlich wieder als Mitglied der antinapoleonischen Allianz eine entscheidende Rolle, die auch bei der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress 1815 zum Tragen kam. In den Folgejahren schloss sich Russland im Rahmen der "Heiligen Allianz" eng mit den konservativen Mächten Habsburg und Preußen zusammen und erlangte als "Gendarm Europas" eine bestimmende Rolle auf dem Kontinent. Die zarische Regierung betrieb eine restaurativ-konservative Politik und wandte sich gegen alle Freiheitsbewegungen jener Zeit.

Auszug aus: Hans-Henning Schröder: Vom Kiewer Reich bis zum Zerfall der UdSSR, in: Russland (Informationen zur politischen Bildung, Heft 281), Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2003, S. 8ff., aktualisiert 2018.
Interner Link: zur Publikation

Fussnoten

Prof. Dr. Hans-Henning Schröder ist Forschungsgruppenleiter der Forschungsgruppe Russland / GUS der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Seine Forschungsschwerpunkte sind die aktuelle politische Entwicklung in Russland, die Geschichte der Sowjetunion sowie russische Außen- und Sicherheitspolitik.