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Verfassungsordnung versus politische Realität | Russland | bpb.de

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Verfassungsordnung versus politische Realität

Margareta Mommsen

/ 5 Minuten zu lesen

Zwischen der demokratischen Verfassungsordnung und der politischen Praxis klafft in Russland eine große Kluft - ein Widerspruch, der das politische System des Landes seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion prägt. Typisch dafür ist, dass die Exekutive dominiert und die politischen Parteien eine völlig untergeordnete Rolle spielen.

Wladimir Putin spricht vor der ersten Kammer des russischen Parlaments, der Duma. Alle bisherigen Präsidenten wiesen dem Parlament eine nachgeordnete Rolle zu. (© AP)

Parlamentarisch-präsidentielles Mischsystem oder superpräsidentielle Herrschaft?

Die im Dezember 1993 per Volksabstimmung angenommene Verfassung ist nach dem Muster der Fünften Französischen Republik modelliert: Sie begründet ein semipräsidentielles Regime bzw. ein parlamentarisch-präsidentielles Mischsystem: Sowohl das Parlament als auch der Präsident verfügen über die direkte Legitimation durch das Wahlvolk. Dies wurde von den Autoren der Verfassung und vom Verfassungsgericht wiederholt bekräftigt.

Die Entstehung dieser Verfassung war jedoch konfliktreich, ein Kampf um die jeweilige Vormachtstellung von Legislative und Exekutive. Ungeachtet gegenteiliger Verfassungsbestimmungen hielten die letztlich siegreichen Anhänger einer starken Präsidentschaft an ihrer Absicht fest, die politische Macht in der Exekutive zu konzentrieren. Diese Haltung war auch darin begründet, dass Jelzin und seine liberalen "Jungreformer" mit Hilfe einer starken Präsidentschaft rasch den Übergang zur Marktwirtschaft meistern wollten.

Das Ergebnis ist eine politische Praxis, die von den Grundsätzen der geschriebenen Verfassung deutlich abweicht: Die Spitzenakteure deuten die Verfassungsordnung in ihrem Handeln als "präsidentielles" Regime oder gar als "superpräsidentielle" Herrschaft.

Für Putin ging es später darum, mit Hilfe einer "Machtvertikale" der Exekutive auf allen staatlichen Ebenen die Alleinherrschaft zu sichern. Dieses Ziel ist jedoch gänzlich unvereinbar mit Vorstellungen einer eigenständigen Rolle des Parlaments, von wechselnden parlamentarischen Mehrheiten sowie vom freien Wettbewerb politischer Parteien überhaupt.

Der Begriff der "Machtvertikale" blieb eine zentrale Losung während der Ära Putin vom Jahr 2000 an. Es ging mehr um ein klangvolles Schlagwort, das den Wunsch des Kremls nach Durchregieren im ganzen Land zum Ausdruck brachte als um konkrete Herrschaftsmechanismen. In erster Linie wollte man mit dem Begriff der "Machtvertikale", auch "Präsidentenvertikale" genannt, den Regionen drohen, sich auf keinen Fall erneut von Moskau zu emanzipieren, so wie dies unter Jelzin der Fall gewesen war.

Schwache Parteien und Geringschätzung des Parlaments

Dass sich in Russland das parlamentarische Element der Verfassungsordnung nicht entfalten konnte, ging auch auf die Schwäche der politischen Parteien zurück. Nachdem die ersten Wahlen zur neuen Duma im Dezember 1993 eine Niederlage der demokratischen Kräfte ergeben hatten, zog Jelzin die Bildung eines Präsidialkabinetts aus Technokraten vor - anstelle einer Koalitionsregierung auf Parteienbasis. Dieses Verfahren erwies sich als dauerhaft. Selbst als Präsident Putin über verfassunggebende Zweidrittelmehrheiten der Kremlparteien verfügte, wurde die Regierung weiterhin als Präsidialkabinett gebildet. Darin drückte sich das mangelnde Vertrauen der Putin-Führung in die von ihr selbst ins Leben gerufenen politischen Parteien aus. Sie blieben künstliche Gebilde ohne eigenes Profil und ohne soziale Verankerung. Der Führung dienen sie als willfährige Vehikel der Politik.

Generell ist es charakteristisch, dass sich die an die Macht gekommenen Eliten vorzugsweise am politischen System der USA orientierten - ohne demokratische Schulung und Erfahrung zu besitzen. Sie übersahen dabei geflissentlich die für dieses System unverzichtbaren checks and balances, also die gegenseitigen Kontrollbefugnisse der Verfassungsorgane. Nichtsdestotrotz spielten gewaltenteilige Elemente in den neunziger Jahren eine große Rolle, als Präsident Jelzin mit einer starken Opposition, mächtigen Provinzgouverneuren und einem selbstbewussten Verfassungsgericht zu ringen hatte. Veto-Akteure hatten jedoch unter Jelzins Nachfolger keinen Platz mehr. Die Gewaltenteilung war geradezu entgegengesetzt zum System Putin, das die "einheitliche Macht der Exekutive" sicherstellte, indem es das Parteiensystem konzentrierte, die Parlamentswahlen manipulierte und fürs Erste direkte Wahlen der Landesfürsten abschaffte.

Alle bisherigen russischen Präsidenten frönten dem Ideal von einer nachgeordneten Rolle des Parlaments zugunsten einer hegemonialen Präsidentschaft. Jelzin wie Putin begründeten dies nicht zuletzt mit der Unreife der politischen Parteien. Putin ging noch weiter. Er machte den Anstieg der nationalen Wirtschaftsleistung überhaupt zur Voraussetzung aller demokratischen Experimente. Zu den Leitbegriffen der Präsidentschaften Putins gehörten hohes Wirtschaftswachstum, politische Stabilität, starker Staat und die Vorstellung von Russland als Großmacht und als weltpolitischer Spieler. Diesen Zielen wurde die Demokratisierung des Landes klar nachgeordnet. Putin erklärte, dass der Parlamentarismus nicht zu dem ethnisch wie konfessionell so heterogenen Russland passe.

Herrschaft per Handsteuerung: Verfassung nicht Fixpunkt der politischen Ordnung

Medwedjew äußerte sich ähnlich zugunsten einer "präsidentiellen Republik". In einem Interview machte er Anfang Juli 2008 die bedeutungsschwere Aussage, dass "das Auftauchen einer parlamentarischen Demokratie auf dem Territorium der Russischen Föderation für Russland als Land den Tod bedeuten würde. Russland muss auf Jahrzehnte oder vielleicht auf Jahrhunderte hinaus eine präsidentielle Republik bleiben, um als einheitlicher Staat zu überleben." (Vesti TV , 2. 7. 2008). Zu dieser Überzeugung passt die von Medwedjew schon bald nach seinem Amtsantritt lancierte Initiative, die Amtszeit des Präsidenten von vier auf sechs Jahre anzuheben.

Die Verabsolutierung des Präsidentialismus im Sinne einer alle anderen Staatsgewalten überragenden Vorherrschaft der Exekutive fand auch in dem Konzept von Russlands "souveräner Demokratie" Ausdruck. Der Begriff wurde vom zeitweiligen Chefideologen des Kreml, Vladislav Surkov, 2006 geprägt. Er sollte das vorgebliche russische Demokratiemodell von dem der "westlichen Demokratie" abgrenzen. Im Kern ging es um den Anspruch Russlands auf einen historischen Sonderweg. Zugleich sollte der Begriff als Abwehrschild gegen die Kritik des Auslandes an Russlands Demokratiedefiziten dienen. Noch anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos Ende Januar 2011 betonte Medwedjew die Nützlichkeit der gegenwärtigen "besonderen Form der russischen Demokratie".

Die erwähnten Aussagen zeigen alle, dass selbst die höchsten politischen Amtsträger nicht über ein klares Verfassungsverständnis verfügen. Es ist offenkundig, dass mit diesem Ansatz weder eine Verfassungslegitimität noch eine Verfassungskultur entstehen kann. Unterdessen wird der praktizierte Autoritarismus als ein notwendiges Provisorium gerechtfertigt. So beruft sich Putin gerne auf eine "Herrschaft per Handsteuerung". Er erklärte im Oktober 2007, dass Russland "noch 15 - 20 Jahre ein handgesteuertes System" brauche, bevor es "automatisch funktionieren" könne. Damit gab er sich überzeugt, dass der politische Prozess weiterhin der persönlichen Lenkung und der ad hoc-Arrangements anstatt der Verfassung folgen müsse.

Ungeachtet dieses nonchalanten Umgangs mit der Verfassungsordnung stehen die politischen Spitzenakteure nicht an, die in Russland herrschenden politischen Verhältnisse als Demokratie zu bezeichnen. Dies auch im Zusammenhang mit dem geheim ausgehandelten Ämterwechsel von Medwedjew und Putin.

Immer wieder tauchen in der Öffentlichkeit Diskurse über die Notwendigkeit einer grundlegenden Verfassungsrevision auf. Dies zeigt, dass sich das Bewusstsein von der Unvereinbarkeit der förmlichen und der faktischen Verfassungsordnung schärft. Bekannte Regimekritiker sehen einen direkten Zusammenhang zwischen der von der Verfassung bevorzugten Stellung des Präsidenten und den tatsächlichen autoritären Entwicklungen im Lande. Fjodor Krascheninnikow führt diese vor allem auf die Ungenauigkeiten der in Eile verabschiedeten Verfassungsbestimmungen zurück. So verführe schon die nicht weiter präzisierte Regelung, der zufolge der Präsident nur "zwei Amtszeiten in Folge" regieren dürfe, leicht zu missbräuchlicher Anwendung. Unter klarer Anspielung auf Putin folgert der Autor, dass eine Person nur für Unterbrechungen sorgen müsse, um faktisch seine ganze Lebenszeit die Präsidentschaft auszuüben.

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Prof. Dr. Margareta Mommsen, em. Professorin der Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians Universität München, Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft. Forschungsschwerpunkte und Publikationen: Das politische System Rußlands, Systemwandel und Systemvergleich.