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Von Tyrannen und Transvestiten | Russland | bpb.de

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Von Tyrannen und Transvestiten Streifzüge durch die russische Literatur der Gegenwart

Carmen Eller

/ 6 Minuten zu lesen

Abseits strenger Presse-Kontrolle genießen Literaten in Russland künstlerische Freiheit. Auf die russische Öffentlichkeit nehmen die Schriftsteller jedoch nur wenig Einfluss. Carmen Eller mit einem Streifzug durch die russische Literatur der Gegenwart.

Ljudmila Ulitzkaja bei einer Lesung in Erlangen. Die russische Schriftstellerin bezieht gelegentlich auch zum politischen Geschehen Stellung. (© picture-alliance)

Russland im Jahre 2028. Das Land hat sich mit einer Mauer vom Westen abgeschirmt, und im Kreml regiert der Gossudar mit seiner Garde, die Staatsfeinden den Garaus macht. Zu diesen zählt auch der Gefangene Smirnow, der nach dem Verhör mit einem glühenden Schürhaken gefoltert wird. Der Dissident soll, so der Vorwurf, ein subversives Volksmärchen geschrieben haben. Von diesem Alptraum erzählt der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin in seinem Roman "Der Zuckerkreml". Das 2010 auch auf Deutsch erschienene Werk lebt von Schockeffekten und Schilderungen brachialer Gewalt. Sorokin, der zu den russischen Starautoren zählt, hat sich auf Anti-Utopien spezialisiert. Schon sein Vorgängerwerk "Der Tag des Opritschniks" spielte in einer totalitären Zukunft.

Während im Moskau der Gegenwart Kuratoren wie Andrej Jerofejew und Juri Samodurow für Ausstellungen mit religiöser Symbolik strafrechtlich verfolgt werden, genießen russische Schriftsteller künstlerische Freiheit. Ein Luxus, den Sorokin als Erbe der Perestroika betrachtet. "Ich habe es Michail Gorbatschow und Boris Jelzin zu verdanken, dass ein russischer Schriftsteller heute nicht nur alles, was er will, schreiben, sondern auch veröffentlichen kann", sagte er in einem Interview mit dem "Spiegel".

Gleichwohl führen die Schriftsteller ein Schattendasein und nehmen in der russischen Öffentlichkeit kaum Einfluss. Auch als moralische Autoritäten haben die Autoren ausgedient. Alexander Solschenizyn, der in seinem Jahrhundertbuch "Archipel Gulag" die Schrecken der Stalinzeit in Worte fasste, meldete sich zur eingeschränkten Presse- und Meinungsfreiheit unter Putin nicht mehr zu Wort. Er starb 2008 mit 89 Jahren in Moskau. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich umso mehr zu betrachten, wie russische Literaten ihre Freiräume nutzen.

Sozialstudie und Satire

Die Autoren, die heute die literarische Szene Russlands prägen, publizieren meist schon seit der letzten Phase der Sowjetunion. Neben dem 1955 in Bykowo bei Moskau geborenen Sorokin, in dessen jüngeren Werken, etwa seiner "Eis-Trilogie", das Thema Gewalt im Vordergrund steht, erreichte auch Viktor Pelewin einen Kultstatus. Er wurde 1962 in Moskau geboren und arbeitet seit 1990 als freischaffender Autor. Seine satirischen Romane stehen in der grotesk-phantastischen Tradition der russischen Literatur. Pelewin, der seine Geschichten in surrealistischer Manier erzählt, machte mit Werken wie "Das Leben der Insekten" oder "Generation P" auf sich aufmerksam. Auf Deutsch erschienen unter anderem auch "Das heilige Buch der Werwölfe" oder "Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin".

Märchenhafte Elemente, schwarze Komödie und düstere Visionen verbindet Tatjana Tolstaja in ihrer Arbeit. Die Urgroßnichte von Leo Tolstoj wurde 1951 in Petersburg geboren und begann in der Ära Gorbatschow zu schreiben. Heute gehört sie zu den erfolgreichsten Schriftstellern des Landes. In ihrem 2001 erschienenen Zukunftsroman "Kys" ist Russland nach einem Atomkrieg in die Diktatur zurückgefallen. Dort ist es offiziell streng verboten, Bücher aus der Vergangenheit zu besitzen. Alle verfügbaren Werke werden dem Tyrannen Fjodor Kusmitsch zugeschrieben.

Ein auch in Deutschland viel gelesener Autor ist der 1947 in Moskau geborene Victor Jerofejew. Bekannt wurde er 1990 mit einem Roman, der auf Deutsch unter dem Titel "Die Moskauer Schönheit" erschien. Der Sohn einer Diplomatenfamilie und Bruder des vor kurzem in Moskau verklagten Kurators Andrej Jerofejew erweist sich als kritischer Analytiker russischer Befindlichkeit. Gerne entmystifiziert er auch die Nationalheiligen. So begann er etwa einen Aufsatz über den Schriftsteller Anton Tschechow mit der Bemerkung, dass dieser mit Vorliebe Bordelle besuchte.

Die 1943 geborene Ljudmila Ulitzkaja zählt ebenfalls zu den bedeutenden Stimmen der Gegenwart. In ihren Erzählungen und Romanen reflektiert Ulitzkaja die Beziehungen zwischen Mann und Frau, Familienkonstellationen oder die Frage persönlicher Verantwortung. Der politische Kontext manifestiert sich bei Ulitzkaja im individuellen Schicksal. In erster Linie interessiert sich die Autorin für das Privatleben ihrer teils tragikomischen Figuren, die sie psychologisch ausleuchtet. Oftmals steht eine einzelne Figur im Zentrum, worauf auch schon Buchtitel wie "Sonetschka" (1992) oder "Daniel Stein" (2006) verweisen. Gelegentlich bezieht Ulitzkaja auch zum politischen Geschehen Stellung.

"In der Beurteilung unseres Staates sind wir beide uns vollkommen einig - er taugt nichts. Weil er nicht seinem Land dient, sondern sich von ihm ernähren lässt." Dies schreibt die Autorin am 26. Juni 2009 in einem Brief an den berühmtesten Gefangenen Russlands - Michail Chodorkowskji. Der ehemalige Gebieter über das milliardenschwere Ölimperium Jukos und einst reichste Mann des Landes unterhielt aus der Zelle Briefwechsel mit insgesamt drei bekannten Schriftstellern. Neben Ulitzkaja waren dies der Science-Fiction-Autor Boris Strugatzki und der unter dem Pseudonym Boris Akunin schreibende Grigorij Tschchartischwili. Die Kriminalromane des 1956 in Georgien geborenen und heute in Moskau lebenden Akunin sind in Russland Bestseller und spielen meist im späten 19. Jahrhundert.

"Neue Russen" als Romanhelden

Nach der Perestroika wurden auch die sogenannten Neuen Russen - Oligarchen, reiche Geschäftsleute und ihre erfolgsverwöhnten Gattinnen - zu Protagonisten von Liebes- und Betrugsgeschichten. Zu dieser Kategorie zählen auch die Bücher von Oksana Robski. Die 1968 in Moskau geborene Autorin, deren zweiter Ehemann ermordet wurde, beschrieb in ihrem Debütroman und Bestseller "Casual" 2006 das privilegierte Leben auf der Rubljowka, der Moskauer Millionärsmeile.

Reiche Geschäftsleute bilden auch das Personal in den Büchern des 1975 geborenen Sergej Minajew. "Duchless" heißt sein bekanntester Bestseller, der unter dem Titel "Seelenkalt" 2010 auch auf Deutsch erschien. Nicht ganz so gut verkaufte sich sein Folgewerk "Media Sapiens", dessen Handlung vor den Präsidentschaftswahlen 2008 spielt. Während in der Wirklichkeit gegen chancenlose Oppositionelle mit Strafen und Schlagstöcken vorgegangen wird, betreiben in Minajews fiktiver Welt düstere Typen im Auftrag der Opposition schwarze PR, und schrecken dabei auch nicht vor inszenierten Terroranschlägen zurück.

Krieg, Telefonsex, Revolution - Russlands junge Autoren

Die jüngere Generation russischer Autoren changiert zwischen Rebellion und einem neuen Realismus. Bester Beleg dafür sind die Bücher des 1975 geborenen Sachar Prilepin, der in Nischnij Nowgorod Philologie studierte. Prilepin kämpfte in Tschetschenien und bekennt sich heute zu der in Russland verbotenen nationalbolschewistischen Partei. Seine Kriegserfahrungen und seine Rolle als politischer Rebell prägen auch die Themen seiner Bücher. Der bekennende Regimegegner beschreibt etwa in "Sanka", wie sich ein junger Mann aus der Provinz einer radikalen Kampftruppe anschließt. Das Buch wurde ein Publikumserfolg. "Unsere Staatsmacht kontrolliert Kino, Fernsehen und die Presse. Aber sie liest keine Bücher, sie glaubt nicht, Literatur könne etwas verändern", sagte Prilepin in einem Gespräch mit arte.

Noch eindringlicher befasst sich Arkadi Babtschenko in seinen dokumentarischen Romanen mit dem Krieg. Der 1977 in Moskau geborene Autor und Journalist wurde mit 18 Jahren zum Militärdienst einberufen und 1996 nach Tschetschenien versetzt. 2010 wurde sein Zyklus "Zehn Bilder vom Krieg" mit dem Preis der literarischen Zeitschrift "Debüt" ausgezeichnet. Auf Deutsch erschienen die Bücher "Die Farbe des Krieges" und "Ein guter Ort zum Sterben". Nüchtern und eindringlich zugleich schildert Babtschenko darin Gewalt und Grausamkeit des Krieges.

Zu den jungen Autoren, die sich wieder gezielt mit dem Verhältnis von Bürger und Staat beschäftigen, gehört die 1981 in Perm geborene Natalja Kljutscharjowa. Ihr Debütroman "Endstation Russland" malt ein Panorama der russischen Gesellschaft. Der Protagonist Nikita, ein Petersburger Student, begegnet auf einer Zugreise durch Russland skurrilen Charakteren: einem Transvestiten, einem orthodoxen Priester oder einem Pornomodel, das Gedichte über tschetschenische Freiheitskämpfer verfasst. Kljutscharjowa nimmt mit dem individuellen Schicksal ihrer Figuren auch das politische System in den Blick. So lässt sie aufgebrachte Rentner, denen die Sozialleistungen gekürzt wurden, zu einem Protestmarsch nach Moskau aufbrechen.

Kljutscharjowa unterscheidet sich darin von jungen Schriftstellerkollegen, die gesellschaftliche Zustände allein über zwischenmenschliche Beziehungen beschreiben, wie etwa die 1979 in Moskau geborene Irina Tabunowa. Ihr Roman "Erwachsenenwelt" beschreibt den Berufsalltag einer jungen Frau, die Telefonsex anbietet und sich dabei in einen ihrer Kunden verliebt. Kljutscharjowas Realismus lebt dagegen von einem sozialkritischen Ansatz, der die Menschen aufrütteln soll. Die Autorin sagt selbst über ihre Arbeit: "Ich schreibe für jene, die auch über die einfachsten Dinge staunen können und über die schwierigsten nachzudenken wagen."

Carmen Eller arbeitet als Journalistin und Autorin in Berlin. Sie war Redakteurin bei der "Moskauer Deutschen Zeitung" und berichtete als Korrespondentin u.a. für Spiegel Online aus der russischen Hauptstadt. 2010 erschien ihr Buch "Ein Jahr in Moskau. Reise in den Alltag" bei Herder.