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Rockmusik in der Sowjetunion

Armin Siebert

/ 11 Minuten zu lesen

Der Rock'n Roll hatte es in der Sowjetunion nicht leicht. Doch je restriktiver das Umfeld, umso größer die Kreativität. Und wie in vielen anderen unfreien Ländern war die Rockmusik nicht nur Unterhaltung, sondern eine Waffe gegen das Regime. Sie war ein Stück Freiheit.

"Aquarium", eine der bekanntesten Rockbands der Sowjetunion 1991 (© Andrej "Willy" Usow)

Die Anfänge - von "Platten auf Knochen", Beatlemania und tolerierten Hippies

Anfang der 1950er brachten die sogenannten Stiljagi ("Hipster") Farbe auf die Straßen von Moskau, St. Petersburg und Tallinn. Sie legten großen Wert auf Stil und Mode, kleideten sich extravagant, tanzten Tango, Foxtrott und später Rock'n'Roll. Amerikanische Jazzgrößen wie Duke Ellington, Louis Armstrong und Glenn Miller landeten auf ihren Plattentellern. Sowjetische Diplomaten brachten ihren musikbegeisterten Söhnen häufig Schallplatten aus dem Westen mit. Befreundete Mediziner kopierten diese dann mit Röntgenapparaten. Diese "Platten auf Knochen" genannten Flexi-Disks konnten immerhin 20 bis 30 Mal auf normalen Plattenspielern abgespielt werden. Die Stiljagi gelten heute als erste inoffizielle Jugendkultur der Sowjetunion, eine eigene russische Musikrichtung prägten sie allerdings noch nicht.

Zu den ersten sowjetischen Rock'n'Roll-Bands gehörten die "Revengers" aus Riga, die 1961 als Cover-Band bekannt wurden. Dann kamen die "Beatles" und veränderten alles. Sie führten zu den gleichen Begeisterungsstürmen wie im Westen und waren Vorbilder für viele Bands, die sich in den Städten der Sowjetunion gründeten. Die eingängigen Melodien der Beatles passten besonders gut zum russischen Musikgeschmack. Als direkte Antwort auf die Beatlemania formierten sich in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre die ersten offiziellen Beat-Ensembles, die sogenannten VIA's ("Vokalno-Instrumentalny Ensemble", Gesangs- und Instrumental-Ensemble). Diese Schlager-Bigbands erhielten Unterstützung vom Kulturministerium und damit auch gute Instrumente und Auftritte. Musikalisch betrachtet waren sie eher harmlos und von der sowjetischen Ideologie weichgespült. Dennoch brachten sie etwas Rock'n'Roll ins staatliche Showbusiness und einige VIA's wurden zu Megastars und verkauften Millionen von Platten, wie zum Beispiel die "Pesnjary" aus Weißrussland mit ihrem einmaligen Mix aus Folk, Rock und Pop mit weißrussischen Texten.

Ein wichtiger Wegbereiter der Rockmusik in der Sowjetunion war Alexander Gradski mit seiner 1965 gegründeten Band "Slavjane". Nicht nur Gradskis charismatische Stimme, sondern auch sein unermüdliches Engagement für die Rockmusik als ernstzunehmende Kulturform machten ihn zum "Vater des Moskauer Rocks". Damals nannte sich die Musik allerdings noch nicht Rock, sondern Beat oder Big Beat.

Mit dem Motto "make love not war" vertrat die aufkommende Hippie-Bewegung einen Standpunkt, der für den Staat harmlos war. So wurden die Hippies, trotz ihrer anstößigen langen Haare und bunten Kleidung, von der Miliz relativ in Ruhe gelassen.

Insgesamt betrachtet waren die Anfänge der Rockmusik in der Sowjetunion von einer wahren Cover-Flut geprägt. In erster Linie wurden westliche Songs nachgesungen und kaum eigene Lieder geschrieben. Das Publikum wollte es auch nicht anders. Denn Russisch - das hieß angepasst. Englisch - das war Protest. Der Staat erkannte den Protestcharakter der englischen Sprache nicht sofort, die 1960er-Jahre in der Sowjetunion waren daher, musikalisch betrachtet, eine recht liberale Zeit.

Rockmusik auf Russisch - die ehrlichen Stimmen im falschen Chor und das verlorene Jahrzehnt

Andrej Makarewitsch (© Alexander Agejew/rockanet.ru)

Mitte der 1960er-Jahre fingen die ersten Bands an, eigene Songs mit russischen Texten zu schreiben. Zu den sowjetischen Beatles avancierte die 1968 von Andrej Makarewitsch gegründete Band "Maschina Wremeni" (Zeitmaschine). "Maschina Wremeni" setzte von Beginn an auf die Kraft des Wortes und steht damit symptomatisch für die russische Rockszene. Nicht selten bewegten sich die Liedzeilen auf literarischem oder gar poetischem Niveau. Sie sprachen das Volk an und schafften es auch in repressiven Zeiten mit versteckten Botschaften Mut zu machen. "Maschina Wremeni" waren eine der ersten ehrlichen Stimmen im falschen Chor der Staatspropaganda.

Die 1970er-Jahre gelten jedoch als verlorenes Jahrzehnt in der sowjetischen Rockmusik. Wie der Westen, wurde auch die Sowjetunion vom Diskofieber gepackt. Mitte der 1970er eröffneten die ersten Diskotheken in Moskau, die Menschen feierten zu Donna Summer und Boney M. Letztere gingen sogar auf Tournee durch die Sowjetunion. Viele Rock- und Beat-Bands lösten sich auf, da sie von der Musik nicht mehr leben konnten. Mitte der 1970er-Jahre gab es in Moskau nur noch gut ein Dutzend aktiver, professioneller Rockbands. Besonders populär waren "Udatschnoe Priobretenie", "Wysokosnoe Leto" und "Zwety", die erste Band von Stas Namin, einer Schlüsselfigur der russischen Populärmusik. Namin war ein charismatischer Strippenzieher und Diplomat, dem es sogar gelang, zwei Singles auf Melodia, der einzigen, staatlichen Plattenfirma der Sowjetunion, zu veröffentlichen. Damit waren die ersten sowjetischen Rockplatten offiziell gepresst.

Rockmusik für die Massen - Tblissi 80 und der Leningrader Rockklub

Die 1980er-Jahre begannen mit einem Paukenschlag - dem legendären Festival Tblissi 80. Auf dem ersten offiziellen und bis dahin größten Rockfestival der Sowjetunion gaben einige, später erfolgreiche Bands ihr Debüt, wie zum Beispiel "Awtograf" aus Moskau, "Dialog" aus Donetzk und die "Magnetik Bend" aus Tallinn. Letztgenannte gewann den ersten Platz im Festival-Wettbewerb und Bandleader Gunnar Graps gilt bis heute als eine der wichtigsten Rock-Autoritäten der Sowjetunion.

Für einen Skandal sorgte in Tblissi die Band "Aquarium". Sänger Boris Grebenschtschikow legte sich während eines Songs auf die Bühne, während der Kontrabassist sein Instrument auf ihn stellte und weiterspielte. Dieser harmlose Vorfall reichte aus, um die Band vom Festival-Wettbewerb auszuschließen. Grebenschtschikow verlor seinen Job und lebte seitdem als freier Künstler und Bohème. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb wurde er zu einem der bekanntesten Rockmusiker Russlands und hat dort heute einen ähnlichen Status wie Bob Dylan im Westen.

Im Zusammenhang mit Tblissi 80 wurde Rockmusik für eine breite Öffentlichkeit zugänglich. Zahlreiche Artikel über einheimische Musiker erschienen erstmals in der sowjetischen Presse, im Radio liefen Rocksongs und Bands durften große Tourneen spielen. Vor allem "Maschina Wremeni" wurden zu Superstars. Als die Komsomolskaja Prawda einen kritischen Artikel über ihre Konzerte veröffentlichte, gingen angeblich über 250.000 Beschwerdebriefe bei der Redaktion ein.

Im Jahr 1981 gründete sich in Leningrad der Rockklub, der zur Keimzelle für Rockmusik in der Sowjetunion werden sollte. Die Leningrader Rockszene mit damals mehr als 50 Rockbands bekam durch den Rockklub endlich eine eigene Bühne für Proben und Auftritte sowie eine öffentliche Vertretung.

Russki Rok in Leningrad, Moskau und in der Provinz

Die 1980er-Jahre waren Geburtsstunde für die meisten Bands, die man bis heute mit sowjetischem Rock in Verbindung bringt. Die Leningrader Rockmusik entwickelte sich nicht zuletzt dank des Rockklubs zur Speerspitze des Landes. Die erste Punkband des Landes "Awtomatitscheski Udowletworiteli" waren echte Exoten im Grau der Sowjetunion. Überraschend offen gegen die Zensur texteten die Musiker von "Telewisor" und wurden dafür als erste Rockband offiziell für ein halbes Jahr verboten. Auch "Aukzion" scheuten sich nicht davor Neues auszuprobieren. Bei ihren Konzerten war neben dem Sänger ein zweiter Frontmann auf der Bühne, der eine Art Avantgarde-Kabarett mit absurden Gedichten aufführte. Die erste russische Ska-Band "Strannyje Igry" hingegen war wegen ihrer wilden Liveshows bei dem Publikum heiß begehrt. Im Gegensatz zu den meisten "vergeistigten" sowjetischen Rockbands, ging es hier nur um Spaß und Party.

Ein weiterer Star der Leningrader Rockszene wurde der Liedermacher Maik Naumenko. So direkt und offen hatte bis dahin noch niemand getextet: alle anderen Rock-Poeten wirkten neben ihm wie Schuljungen.

Die bei weitem erfolgreichste Band aus der Leningrader Szene war aber "Kino". Bis heute sind sie die Kultband Nummer Eins. Musikalisch waren sie frischer und charismatischer als die Anderen, zugleich zugänglich und doch geheimnisvoll. Kino-Sänger Viktor Zoi, seine Mutter stammte aus Korea, schrieb fantastische Texte, in denen er bereits Mitte der 1980er-Jahre laut politische und gesellschaftliche Veränderungen forderte.

Während sich der Rockuntergrund in Leningrad rasant entwickelte, mussten die Musiker in Moskau bis zum Jahr 1985 warten, als endlich das "Rock-Laboratorium" - die Moskauer Antwort auf den berühmten Leningrader Rockklub - seine Tore und damit eine Plattform für die Szene öffnete. Wie eine Bombe schlug die Band "Bravo" ein, die cool und dandyhaft gekleidet, wie die "Stiljagi" in den 1950er-Jahren, Ska und Twist miteinander mixte. Ihre Sängerin Shanna Agusarowa war eine der wenigen Frauen im sowjetischen Rock und begeisterte durch ihre Frische und Unbekümmertheit.

Pjotr Mamonow 1987 (© Andrej "Willy" Usow)

Eine weitere Rock-Sensation aus Moskau war "Swuki Mu", die minimalistischen Avantgarde-Rock spielten. Ihr Sänger Pjotr Mamonow war bereits als Poet bekannt geworden und erwies sich als charismatischer Frontmann, der die Konzerte zu wahren Performances stilisierte.

Nicht nur Leningrad und Moskau hatten in den 1980er-Jahren ihre Rockstars, auch in der Provinz tat sich einiges. In der Stadt Ufa entstand die Band "DDT", deren Sänger Juri Schewschuk emotionalen und kraftvollen Rock und Blues sang und damit die Herzen der Fans fand. Eine besonders rege Szene gab es in Swerdlowsk, dem späteren Jekaterinenburg. Die ersten Stars von dort, "Nautilus Pompilus", machten poppigen New Wave, der aus dem Underground kam, aber für die Massen taugte. Aus der tiefsten Provinz, nämlich aus Wologda, kam der Liedermacher Alexander Baschlatschow - ein sanftes Naturtalent - der für viele die beste russische Rockpoesie aller Zeiten geschrieben hat.

Neben der klassischen Rockmusik entwickelte sich auch eine Punk- und Heavy-Metal-Szene. Die einflussreichste und gefährlichste Punkband der Sowjetunion war "Graschdanskaja Oborona". Die Texte von Frontmann Jegor Letow waren eine provokative Mischung aus Schimpfwörtern, Philosophie und Poesie und führten dazu, dass "Graschdanskaja Oborona" verboten und Letow kurzzeitig in eine Nervenklinik zwangseingewiesen wurde. Heute gibt es sogar Doktorarbeiten über Letows Texte.

Größer noch als Punk wurde der Heavy Metal in der Sowjetunion. Da die Texte von Bands wie "Korrosia Metala" oder "Tschorny Obelisk" selten politisch waren, gab es mit den Behörden kaum Probleme. Einige der Bands schafften es sogar ins DDR-Fernsehen. Auch kommerziell betrachtet, war Heavy Metal sehr erfolgreich. So kamen beispielsweise zum Festival "Heavy Leto" bei Tallinn im Jahr 1987 knapp 100.000 Besucher.

Rockmusik als Phantom - Schwarzhandel, Rockmusicals und staatliche Strategien

Der Schwarzhandel mit Tonbändern hatte bereits in den 1950er-Jahren angefangen, als die ersten Underground-Musiklabels entstanden. Analog zum Samizdat, dem Selbstverlag von Literatur im Untergrund, entwickelte sich mit dem Magnitizdat eine regelrechte Musikindustrie im Untergrund. Mit der Einführung und Produktion von Kassettenalben fand der Magnitizdat in den 1980er-Jahren seinen Höhepunkt. Es handelte sich hierbei um semi- professionelle Alben, die zumeist bei Andrej Tropillo in Leningrad aufgenommen wurden, der alle wichtigen Leningrader Bands produzierte. Zuvor hatte es nur Konzertmitschnitte in schlechter Qualität gegeben. Nun konnte man in Ruhe im Studio herumbasteln, das Produkt vervielfältigen und sogar in der Lieblingsdiskothek spielen lassen. Das war ein Quantensprung für die Entwicklung der Rockszene. Die Kassetten wurden von den Musikern in liebevoller Handarbeit in einer Auflage von 20-30 Stück gestaltet und an Freunde gegeben. Diese kopierten sie dann wieder für Freunde, und so verbreitete sich die Musik im ganzen Land, auch wenn die Qualität der Kopien litt.

Eine weitere, raffinierte Möglichkeit, die Zensur zu umgehen und trotzdem seine Lieder publik zu machen, waren Rock- Musicals. Die Theateraufführungen waren in der Bevölkerung sehr populär und für die Rockmusiker ein möglicher Weg mit größerer künstlerischer Freiheit ihre Lieder unters Volk zu bringen.

Dem Staat blieb die aufkommende Begeisterung für Rockmusik nicht verborgen. Während die Rockbands zuvor weitestgehend ignoriert und durch fehlenden Zutritt zum staatlichen Kulturbetrieb bestraft wurden, erhielten sie in den 1980er-Jahren schlichtweg keine Spielerlaubnis. Es gab in der Sowjetunion, ähnlich zur DDR, eine Aufnahmekommission, die über die Zulassung einer Band entschied. Auch in der Presse wurden Artikel über Rockmusik zensiert. Das Wort "Rock" durfte zeitweise nicht verwendet werden, was die Redakteure zu Umschreibungen wie "moderne Jugendmusik" zwang. In den Diskotheken hingen schwarze Listen, auf denen alle wichtigen russischen Rockbands standen, die nun nicht mehr gespielt werden durften. Ein Kulturbeamter fasste es zu der Zeit folgendermaßen zusammen: "Mit Rockmusik ist bei uns alles in Ordnung, es gibt sie nämlich nicht!" Noch im Jahr 1987 auf dem Plenum des sowjetischen Schriftstellerverbandes verglichen einige parteitreue Redner Rockmusik mit Aids - einer demoralisierenden und zerstörerischen Kraft für die Jugend.

Sichtbare Perestroika und zögerliche Marktwirtschaft

Über all die Jahre der staatlichen Repression waren Rockmusik und vor allem die Texte der Lieder für die Jugend eine emotionale und geistige Stütze im stillen Widerstand. Und wie so oft, wenn etwas verboten wird, gedeiht es besonders kreativ. In den Diskos wurden weiter heimlich einheimische Rockkassetten gespielt, das Aufnahmestudio von Andrej Tropillo in Leningrad war ständig von Bands belegt.

Livekonzert in St.Petersburg 1990 (© Andrej "Willy" Usow)

Und dann, eines Apriltages 1985, kam die berühmte Rede von Michail Gorbatschow auf dem Plenum der Kommunistischen Partei und leitete die Perestroika ein. Der Staat strauchelte gewaltig und rief selbst zu Glasnost (Offenheit) auf. Damals wurde es auf den Straßen der Sowjetunion bunter - die Perestroika wurde sichtbar. Es gab Punks mit bunten Haaren, Metaller und Breakdancer. Alle Jugendkulturen, die sich von der Norm und damit vom Komsomol, der Jugendorganisation der KPdSU, unterschieden, wurden unter dem Sammelbegriff "Neformaly" gefasst. Die Neformaly provozierten eine Gegenbewegung - die sogenannten Ljubery, später auch Gobniki genannt. Die Ljubery stammten vor allem aus der Arbeiterklasse, hatten eine einfache Ausbildung und eher rechte Gesinnung. Diese Kraftsport-Fans fühlten sich bedroht von den bunten Künstlern und deren Fans, auf die sie häufig Hetzjagden veranstalteten.

Die beginnende Marktwirtschaft änderte nur langsam die Lebensumstände der Menschen. Auch die großen Rockstars mussten noch bis 1988 tagsüber normalen Berufen nachgehen, da offiziell Arbeitspflicht bestand. So hat beispielsweise Juri Schewschuk von "DDT" in einem Cafe geputzt und Viktor Zoi von "Kino" als Heizer gearbeitet.

Der goldene Westen öffnet Türen

Im Zuge der Perestroika begann sich der Westen stark für die Sowjetunion zu interessieren. Seit 1986 durften die ersten Bands im Westen auf Tour gehen, erste Platten erschienen auf westlichen Labels und viele Artikel und Reportagen über Rockmusik aus der Sowjetunion wurden gedruckt. Für den Westen waren die Sowjet-Bands exotisch und stießen auf Neugier und Interesse. Letztlich konnte aber keine von ihnen einen Durchbruch erzielen, da die Texte - das stärkste Element russischer Rockmusik - weitestgehend unverstanden blieben. Im Gegenzug konnten mit der Perestroika aber auch Westmusiker die Sowjetunion besuchen. So nahm sich Brian Eno, der unter anderem auch U2 produziert hatte, der Avantgarde-Band "Swuki Mu" an. In den USA wollte man es etwas kommerzieller angehen und den Gorbatschow-Hype ausnutzen. Darum ließ man Boris Grebenschtschikow von der Band "Aquarium" für viel Geld gleich ein Album zusammen mit Dave Stewart ("Eurythmics") aufnehmen. Beide Projekte waren nur mäßig erfolgreich.

Durch die verstärkte Aufmerksamkeit des Westens wurde auch endlich Melodia, die staatliche Plattenfirma, auf die einheimischen Rockbands aufmerksam. Nach so vielen Jahren - "Aquarium" bestand schon 15 Jahre, "Maschina Wremeni" waren bereits 19 Jahre aktiv - erschienen endlich die ersten Alben der Rockgrößen offiziell im eigenen Land.

Endlich Freiheit, aber keiner hört mehr zu

Die spezielle Situation der Rockmusik in der Sowjetunion war Ende der Achtziger vorbei. Durch die Perestroika gewann sie natürlich an Freiheit und Popularität. Aber sie verlor auch etwas: ihr Monopol auf verbotene Themen, darauf, die Wahrheit sozusagen. Das wurde inzwischen breit und tiefgehend in der Presse diskutiert.

Die Besonderheit der sowjetischen Rockmusik war die internationale Isolation und die besondere Vergeistigung der Texte. Damit hatte sie eine wichtige Funktion als Sprachrohr der Jugend. Nun war plötzlich alles mehr oder weniger erlaubt. Die Bands kehrten deshalb langsam wieder zu zwischenmenschlichen Themen und philosophischen Fragen zurück. Den Hauptvorteil gegenüber anderen Ausdrucksformen hatte die Rockmusik weiterhin inne - die Emotionalität der Musik. Gleichzeitig rückte der Rock langsam auf die große Bühne und wurde das, was er auch im Westen weitestgehend ist - reine Unterhaltung. Die Bands mussten jetzt mehr in die Musik und in die Show investieren, um Interesse zu erregen.

Anfang der Neunziger-Jahre ging die Essenz russischer Rockmusik zum Teil im Kommerz verloren. Einige große Bands, wie "DDT", "Aquarium" oder "Maschina Wremeni" werden zwar bis heute gefeiert, aber es sind auch neue spannende Richtungen entstanden. Russland und die anderen Ex-Sowjetrepubliken versuchen den Spagat zwischen westlichem Niveau und eigenem Stil. Dabei entsteht originelle Musik, die hoffentlich auch ihren Weg zu uns finden wird.

Armin Siebert ist Diplom-Übersetzer für Englisch und Russisch, Journalist, DJ, Label-Chef (Eastblok Music) und Radio-Moderator bei Radio Fritz und YouFM – immer im Einsatz in den Weiten Osteuropas auf der Suche nach toller Musik und diesem Tick extra Leidenschaft, Verrücktheit und tiefen kulturellen Wurzeln.