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Die Bonner und ihre Republik - Essay | Bonn | bpb.de

Bonn Editorial Die Bonner und ihre Republik „What About Bonn?“. Bonns Platz in der deutschen Geschichte Spuren rheinischer Demokratie. Der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz Cocktail bei Konrad. Im ehemaligen Regierungsviertel von Bonn Bonner Republik – Begriff, Verortung und Erzählung Politik an Tisch und Tresen. „Lokal-Politik“ in Bonn zu Hauptstadtzeiten Bonn – Ein historisches Stadtporträt

Die Bonner und ihre Republik - Essay

Konrad Beikircher

/ 15 Minuten zu lesen

Das Bonner Wesen ist komplex. Die Hauptstadtwerdung 1949 stand in einem Spannungsfeld zwischen dem eher provinziellen, ruhigen und bescheidenen Charakter der dortigen Menschen und dem herrschaftlichen Glanz vergangener Zeiten – und sie war nur provisorisch.

Die Schmerzen lassen langsam nach, Bonn und die Bonner:innen haben sich an ein Leben nach dem Abzug der Regierungstruppen gewöhnt und suchen mehr oder weniger glücklich nach neuen Wegen ins Leben danach. Sie sind nach dem Krieg lange am Fläschchen der Bundesregierung großgezogen worden. Das hat zu dem geführt, was man in der Erziehung „Verwöhnen“ nennt, ein Prozess, der nie ohne Folgen bleibt. So sind die Bonner:innen in ein weltstädtisches Leben gestolpert, ohne dafür reif gewesen zu sein: Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland – den Vorsatz „vorläufig“ hatte man schnell vergessen. Die provisorische Bundeshauptstadt ist aber der sympathischen rheinischen Provinzstadt nie entwachsen. Das hat erstmal Vorteile, vielleicht sogar definitiv bleibende Vorteile mit sich gebracht.

Als Adenauer 1948 Bonn gegen Frankfurt am Main und Düsseldorf favorisierte, hatte er zunächst sachliche Argumente im Auge. Hermann Wandersleb, Freund Adenauers und Chef der damaligen Staatskanzlei in Düsseldorf, hatte zuvor in etwa gesagt: „Erstens hammer in Düsseldorf sowieso kaum noch janze Häuser und zweitens möchten die Düsseldorfer lieber Büros und Industrie als wie noch ein Parlament und deshalb soll der Parlamentarische Rat und der janze Apparat drumerum nach Bonn jonn.“ Und siehe da: Obwohl Adenauer das nicht alleine entscheiden konnte, „hätt et jeklapp“. Später dann, nachdem Adenauer im September 1948 Präsident des Parlamentarischen Rates geworden war, hat er sich selbstverständlich, zusammen mit Wandersleb, für Bonn als Regierungssitz stark gemacht. Da hat er bereits auf etwas gebaut, worauf die Berliner Republik nie wird bauen können: auf das Rheinland und die rheinische Mentalität.

Frankfurt hatte dagegen ein ziemlich starkes Blatt in der Hand. Die Frankfurter:innen sagten etwa: „Frankfort muss Bundesauptstadt wedde, weil in unsern Paulskerch 1848 die erst deutsche Nationalversammlung war un iwwerhaupt“, ganz wie es in Friedrich Stoltzes Gedicht heißt, das 1884 veröffentlicht wurde: „Un es will merr net in mein Kopp enei: wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!“

Adenauer konterte mit dem Argument, dass „die alten traditionellen Verbindungen zwischen dem rheinischen Westen und den westlichen Nachbarn Deutschlands stärker sind als die Beziehungen zwischen Frankfurt und den westlichen Nachbarn“, und er hoffte, wie gesagt, auf die rheinische Mentalität. Das hat er so ausgedrückt: „Es jeht janz ausjezeichnet. Die Leute fühlen sich hier so wohl, dat sie jar nich’ mehr wegwollen. Jetzt können wir dranjehen, einen Vorschlag in der Richtung zu machen, dat Bonn vorläufige Bundeshauptstadt wird.“

Fernab jeder berlinischen Protzerei

Soweit die Vorgeschichte. Damit war Bonn aber wieder auf dem Stand, auf dem es immer schon war: zum einen hochherrschaftlich, sprich: höfisch, mit den Kurfürsten und ihren Schlössern und mit dem Charisma einer politischen Zentrale, zum andern die kleine rheinische Provinzstadt, ein Ort ohne besondere Vorkommnisse, mal abgesehen von Ludwig van Beethoven und einer Reihe eher üblicher Verdächtiger. Luigi Pirandello, der große italienische Schriftsteller, war fast vier Jahre in Bonn, und wenn er noch ein paar Tage geblieben wäre, hätte er wahrscheinlich Nachwuchs bekommen und wäre nicht mehr nach Sizilien zurückgegangen, hätte vielleicht mit „Sei personaggi in cerca di una pizza“ eine avantgardistische Restaurantkette aufgemacht und später Helmut Kohl zu seinen Hauptkunden zählen können. Verzeihung, ich schweife ab. Wo waren wir? Ach ja: Verwöhnung.

Aus dem Füllhorn der Bonner Republik quoll eine Wohltat nach der anderen: Die Bonner Oper, die normalerweise über Wuppertaler Niveau nie hinausgekommen wäre, errang europäischen Ruhm, weil Intendanten wie Jean-Claude Riber oder Giancarlo Del Monaco auf Kosten des Bundeshaushalts Weltstars wie Montserrat Caballé, Katia Ricciarelli oder Plácido Domingo in die Stadt holten. Das lockte zwar Abonnenten weit über Hennef-Uckerath hinaus nach Bonn, brachte aber nichts, da die Stars nach der Vorstellung ja immer nach Hause fuhren. Das nur als kleines Beispiel aus dem kulturellen Leben. Auch die Beethovenfeste waren in der Bonner Republik echte Ereignisse, Geld war ja da.

Geld war immer da, das Fläschchen wurde scheinbar nie leer, und die Bonner:innen tranken, schlürften und schlemmten. Unvergessen bleiben die Gänge der jeweiligen Bonner Oberbürgermeister ins Regierungsviertel: mit leerer Alditüte hin, mit prall gefüllter wieder zurück. Gerade deshalb hat es „uns“ Rheinländer:innen so geschmerzt, als die Politiker:innen, das Parlament und die „janzen Jedönsräte“ nach Berlin umgezogen sind. Plötzlich war vorbei, was das Rheinland und speziell Bonn mit den Händen Adenauers den Deutschen geschenkt hat: ruhige, heitere Gelassenheit, fernab von jeder berlinischen Protzerei. Und weil die Rheinländer:innen die einzigen mediterranen Menschen deutscher Sprache sind, hat das ganze Nachkriegseuropa Deutschland wieder in seine Gemeinschaft aufgenommen. Die Verdienste Bonns um das wachsende Ansehen Deutschlands in der Welt sind gewaltig, denn – und das ist ein Satz, den man nicht laut genug schreiben kann – von Bonn ist noch nie ein Krieg ausgegangen.

Zwischen Provinz und Herrschaftlichkeit

Am Tage des endgültigen Beschlusses des Bundestages nach Berlin zu ziehen, war ich in Venedig. Ich stand in der Kneipe „da Ivo“, die Abendnachrichten liefen, und da kam die Meldung: Die Deutschen ziehen wieder nach Berlin. Man kann kaum glauben, was da los war. Nach ein paar Schrecksekunden war die Hölle los, und alles gipfelte in der Frage: „So, jetzt ziehen die Deutschen von Bonn nach Berlin. Und wann marschieren sie wieder bei uns ein?“ Plötzlich war alles wieder da: die Schlacht um Monte Cassino, Otto Skorzeny, die Republik von Salò, SS und Bella ciao – Assoziationen, die dank der Bonner Republik fast vergessen waren. Fast.

Die Rheinländer:innen haben es genau so empfunden: Der Umzugsbeschluss war der Triumph der „aufgeblasenen Hauptstadt“ Berlin, da zählte preußische „Gechichte [sic]“, wie Helmut Kohl immer sagte, mehr als die rheinischen Geschichtchen, da wurde der aller Welt sympathische „südliche Wesenszug“, den die Rheinländer:innen stellvertretend für alle Deutschen haben, mit Füßen getreten und an die Wand gedübelt, die Bescheidenheit hatte verloren. Der schlitzohrige Rheinländer Adenauer hat mit wenigen Worten in rheinischen Anekdötchen mehr erreicht als Kohl mit seinem ganzen Gebrummel und seinem großprotzigen Gehabe.

Nein, das kleine Bonn, das bei aller Weltpolitik seine wunderbare Kleinkariertheit, ja schon fast Dörflichkeit, behalten hat, hat eine große Rolle für Deutschland gespielt. Und das ganz aus sich selbst heraus, denn die Bonner:innen haben immer schon die Fähigkeit gehabt, die Dinge ein bisschen anders zu sehen. Das lag allerdings nicht nur am linksrheinischen Bonn mit seinen Kurfürsten, Schlössern und der herrischen preußischen Geschichte – alle Kronprinzen haben in Bad Godesberg gewohnt und in Bonn, an der von den Hohenzollern 1818 gegründeten und den Bonner:innen geschenkten rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, studiert und gesoffen –, sondern am geerdeten Pendant im Rechtsrheinischen: in Beuel. Hier waren (und sind) die Wäscherinnen, hier waren (und sind) die Arbeiter, hier war das rheinische Herz und ist es heute noch. Die Bonner:innen tragen diese kleine Lobotomie alle in sich: zum einen die weltmännische Feudalität und das Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein, und zwar quasi von höheren Gnaden (ich sage nur: Kurfürst Clemens August), zum anderen aber zu wissen, dass die Wäsche in Beuel traditionell auf der Rheinwiese ausgebreitet und in der Sonne gebleicht wurde. Diesen Spagat trägt jeder Mensch in Bonn in sich und nutzt ihn mit viel Kreativität, zum Beispiel wenn es um die Suche nach einem vernünftigen Altersruhesitz geht. Da sitzt das alte Bonner Ehepaar und überlegt, diskutiert und „simmeliert“ hin und her, als ihm schließlich der Kragen platzt: „Dat eine sage ich Dir: Wenn einer von uns beiden stirbt, zieh ich nach Godesberg!“

Was in Bonn noch möglich war, dass sich nämlich die Politiker in verschwiegenen kleinen Privatclubs schon mal „erholen“ konnten, das wandelt sich in Berlin in anonyme Hektik. Während die Bonner:innen die Politiker:innen familiär durchs Leben begleiteten und – fast – immer eng umschlungen hielten, gehen die dunkleren Wege unserer Politiker in Berlin in großstädtischer Anonymität unter. Keinen kümmert‘s, keiner weiß was, keiner schaut hin. Aber: Wenn keiner hinschaut, braucht auch keiner wegschauen. Vielleicht ist das eine der Dynamiken, von denen unsere „Vertuschungsdemokratie“ lebt.

Wenn Franz Josef Strauß im Club Eve in der Rathausgasse „Entspannung“ suchte, wusste das am nächsten Tag die ganze Stadt und hat darüber geschmunzelt. Und als Helmut Kohl nach Bonn zog und angeblich als erstes für „seine“ Ju 52, wie man in Bonn seine energische engste Helferin Juliane Weber nannte, einen „Geheimgang“ in den Seitentrakt des Kanzlerbungalows anlegen ließ, so hat sich das rheinische Bonn nicht etwa darüber aufgeregt, dass er mutmaßlich eine Geliebte hatte, sondern darüber, dass es „so eine“, eine Nicht-Rheinländerin, war. Sie wurde von den eher weichen Bonner:innen als herb empfunden, als preußisch, ja, von einigen Spöttern wurde sie „die Blechschere“ genannt. Trotzdem ist sie aber nach ihrem Leben mit Helmut Kohl in Bonn beziehungsweise im Rheinland geblieben und hier gestorben.

Bonner Frömmigkeit

Das Verhältnis, das Bonner:innen zur Politik wie überhaupt zum Leben haben, ist dasselbe wie das zur Religion. Natürlich ist das Leben in Bonn immer noch von der Kirche geprägt, wenn auch nicht mehr so wie in der Vergangenheit. Nun gibt sich der linksrheinische Mensch in Bonn eher weltläufig-liberal und zeigt sich meistens nur bei öffentlichen Anlässen als „normal gläubig“, sprich: katholisch, während das Verhältnis in Beuel, also im Rechtsrheinischen, zu „unserem“ Herrgott stärker ländlich geprägt ist. In den kleinen Kirchen rund um Beuel sieht man das, der legendäre Pützchens Markt, der in Bonn seit 1367 im September stattfindet, ist so ein Fall. Grund für das Volksfest ist die Heilige Adelheid von Vilich, die um das Jahr 1000 herum im heutigen Beueler Ortsteil Pützchen ihren Wanderstab in die Erde gestoßen hat, woraus sofort eine Quelle sprudelte, ein sogenannter Pütz. Diese tat Wunder über Wunder, vor allen Dingen bei Augenkrankheiten. Jetzt kommen Sie mal mit mir und setzen sich während des Jahrmarktgebrülls auf die Bank hinter der Kirche an den Brunnen. Es vergeht keine Minute, ohne dass nicht einer unserer aufgeklärten Katholiken vorbeikäme, um sich zu bekreuzigen und dann mit dem aus dem Brunnen sprudelnden Wasser die Augen auszuwaschen. Es sind Hunderte, die da kommen, vielleicht sogar mehr, und das sechs Tage lang, ohne Unterlass. Und es sind vor allem junge Leute: Kappe quer, die weißen Kopfhörer vom iPhone im Ohr, aber sich mit dem Wasser vom Brunnen die Augen gesund wischen.

Dieses etwas doppelköpfige Verhältnis zur Religion ist typisch für Köln und Bonn. Gut, in Köln vielleicht etwas deutlicher und frecher als in Bonn, was übrigens mit dem Erzbischof zu tun hat: In der Schlacht bei Worringen 1288 haben die Kölner gegen ihren Erzbischof gekämpft, gewonnen und sich gerächt: Ab sofort durfte kein Erzbischof mehr in Köln wohnen, geschweige denn übernachten. Und das hielt, bis Napoleon ins Rheinland kam. Das Ende war sehr rheinisch: Kein Gang nach Canossa, kein Bericht in der „Cöllnischen Zeitung“, er durfte einfach wieder nach Köln, auch nachts, einfach so, als wäre nie etwas gewesen. Bonn hat ihn auch ziehen lassen, den letzten Kurfürsten und Erzbischof, Maximilian Franz. Er ist 1794 vor Napoleon geflohen und 1801 bei Wien gestorben. Er war ja Wittelsbacher, also quasi bönnscher Wittelsbacher. Unter seiner Regierung zeigten sich allerdings schon erste Akzente einer obrigkeitsabhängigen Kultur: Das kurfürstliche Orchester in Bonn, in dem Beethoven vier Jahre lang Bratsche gespielt hat, der kurfürstliche Chor und vor allem die kurfürstliche Oper waren führend im deutschsprachigen Raum, ähnlich wie unter Riber und Del Monaco. Die Bonner:innen waren es also schon lange gewohnt, durch Pfützen und dreckige Straßen in die Oper zu gehen, um da beste europäische Kultur zu genießen – das alte Bonner Thema also: den Kopf ganz oben und das Herz auf den Äckern der Vorgebirgs-Gemüsekultur.

Studentenrevolution

Dass das Bonner Universum wenig mit den anderen deutschsprachigen Universen zu tun hat, wurde mir eigentlich schon klar, als ich das erste Mal dort war. Eigentlich stamme ich nämlich aus Südtirol. Das fing 1965 beim Taxifahrer an, der mich, als ich ihm sagte, ich müsse in die Sternstraße 98, also um die Ecke vom Hauptbahnhof, was ich, neu in Bonn, nicht wusste, einsteigen ließ, mit mir nach Godesberg fuhr, dort mit einer Fähre über den Rhein setzte, zurück nach Beuel düste, um über die Kennedybrücke zur Sternstraße zu fahren, und dafür 80 D-Mark kassierte. Das ist wie in Neapel oder Mailand, war mein Gedanke, und das war mir sympathisch, denn das kannte ich aus meiner Heimat.

Oder das kleine Drama mit der Anmeldung, ich war ja italienischer Staatsbürger. Die Uni weigerte sich, mich einzuschreiben, weil ich keine Aufenthaltsgenehmigung hatte. Das Ausländeramt gab mir keine, weil ich nicht eingeschrieben war. Ich war ratlos. Ich rufe meinen Papa an, schildere ihm die missliche Lage, er lacht aber nur und meint: „Dann musst du Folgendes machen: Du klemmst 20 D-Mark in den Pass, gehst zum Ausländeramt und wenn der Beamte dich fragt, wo denn die Bescheinigung von der Uni sei, sagst du: im Reisepass.“ Ich gehe also ins Amt zurück, der Beamte fragt nach der Bescheinigung der Uni, ich sage: „im Pass“. Er blättert, dann fischte er mit spitzen Fingern die 20 D-Mark heraus, lässt sie auf den Tisch gleiten und sagt tadelnd: „So geht das aber nicht, junger Mann, wir sind in Deutschland und nicht in Italien!“ Mir rutscht schon das Herz in die Hose, dann schaut er mich an und lächelt: „Aber Bonn ist im Rheinland“, drückt den Stempel in den Pass und ich hatte die Aufenthaltsgenehmigung – und die 20 D-Mark zurück.

Ein weiterer, für die Charakterisierung der Bonner:innen wichtiger Punkt ist die besondere Interpretation des Obrigkeitsprinzips in der vorläufigen Bundeshauptstadt, das war nämlich die typisch rheinische Toleranz: um Jottes Willen kein Bohei, kein Aufsehen und keine Aufgeregtheit. Das hatte klare Konsequenzen: Kiffen beispielsweise war in meiner Studentenzeit ein Delikt. Man hat es heimlich getan und nur, wenn man sich sicher wähnte. Natürlich gab es die ein oder andere Lokalität, in der gekifft wurde, zum Beispiel im legendären „Underground“ in Muffendorf oder in der „Falle“, einer Disco am Stockentor. Dort traf man sich zum konspirativen Abtanzen und so weiter – und zum Kiffen natürlich. Ab und zu gab es mal eine Razzia. Was wir aber nicht wussten, war, dass die Polizei überhaupt kein Interesse daran hatte, uns alle festzunehmen. Wie sähe das denn aus? Die provisorische Bundeshauptstadt eine Kifferhöhle? Der Polizei langte es zu wissen, wo wir Revolutionäre sitzen, wie viele wir ungefähr sind und wer da so alles dabei ist. Rheinisch eben. Die Stadt ist klein genug, um alle zu kennen, zumindest vom Sehen.

Ein Ereignis, das gar nicht typischer für die Bonner:innen sein könnte, war das, was auf dem Münsterplatz fast ein Jahr lang jeden Abend passierte: Irgendwann im Februar 1967 gab es eine zufällige, aber wohl recht laute Diskussion am Rande des Münsterplatzes zwischen einer Handvoll älterer Bonner:innen auf der einen Seite und junger Student:innen auf der anderen. Es ging um das klassische Thema zu Beginn der Studentenrevolution: den Generationenkonflikt. „Ihr seid doch alle Nazis“ und „Geht doch nach drüben, wenn es euch hier nicht gefällt, ihr Gammler“ waren sozusagen die Standpunkte, die einander gegenüberstanden. Eine Zeitung berichtete über dieses kleine, aber tagesaktuelle Ereignis, und das war der Startschuss zu einem Großereignis, das bis etwa Mitte November dauerte: Jeden Tag trafen sich – zuerst ein paar Dutzend, nach ein paar Tagen aber schon Hunderte, im Sommer waren es dann manchmal Tausend oder mehr – Menschen aus allen Generationen auf dem Münsterplatz, um miteinander zu diskutieren. Lautstark, erregt, heftig und oft auch nachdenklich. Das ging vom Februar an jeden Tag, so von 18 Uhr bis Mitternacht. Man stand in Kreisen von acht bis zehn Personen zusammen, verteilt über den ganzen Platz. Die Jungen trauten sich, den Älteren die Fragen zu stellen, die sie ihren Eltern nicht stellen konnten, wenn der Familienfrieden gewahrt bleiben sollte, und die Älteren staunten immer öfter darüber, dass die Jungen ihnen tatsächlich zuhörten. Rommel, Stalingrad, Konzentrationslager und überhaupt die Nazi-Zeit waren die Themen, die da angeschnitten wurden. Von unserer Seite kamen die Themen studentische Beteiligung an der Uni, Institutsrat, Abtreibung, Gleichberechtigung und so weiter. Zwischendurch gingen die Älteren immer wieder zum „Hähnchen“, der Kneipe hinter dem Denkmal vom Ludwig van, holten einen Kranz Kölsch und hielten ihn in die Runde: „Kumm, Student, sollst auch nicht leben wie ein Hund!“

Die Angst, dass alles so ausarten könnte wie in Berlin, Hamburg oder Frankfurt, mit Gummiknüppeln, Wasserwerfern und Polizeigewalt, rückte immer weiter in die Ferne, die Studentenrevolution wurde bönnsch, wie auch die kleine Geschichte vom Besuch Rudi Dutschkes zeigt, eine Geschichte, die auch Kurt Tucholsky gefallen hätte: Für die Uni in Bonn stand wieder der Dies academicus an: Sie stellte sich und die Institute den Bonner:innen vor, ein Tag angeblicher Transparenz, der uns Revolutionären natürlich gewaltig stank, denn kritisch wurde da nicht berichtet. Der AStA (glaube ich, vielleicht war es auch „nur“ der Sozialistische Deutsche Studentenbund) lud Rudi Dutschke für den 6. Dezember 1967 ein, er sollte als Hauptredner beim Anti-Dies-academicus im Arkadenhof der Uni sprechen. Wir Revolutionäre waren natürlich alle dabei, standen dicht gedrängt und starrten vom Hof durch die Glastüren auf die Garderobe. Von dort sollten Hannes Heer, unser örtlicher Che Guevara, und Rudi Dutschke kommen. Da! Wir sahen sie! Sie gingen an die Garderobe, gaben ihre Dufflecoats ab, das war damals quasi unsere Uniform, und kamen nun raus. Heer übergab das Megaphon nach der Begrüßung an Dutschke, und der fing an, uns einzunorden, wir sollten uns mit den fortschrittlichen Professoren solidarisieren, auch die stünden allein gegen die Reaktion da. Hinten vor der sogenannten Blauen Grotte gab es ein paar Burschenschaftler, die fingen an „Oh alte Burschenherrlichkeit“ zu singen, also gute Stimmung vorne bei den Kämpfern und hinten auf den Rängen. Da fing es an zu nieseln, Dezember, iggelig. Wir waren natürlich bereit durchzuhalten, die Garderobenfrauen aber, quasi unsere Uni-Mamis, machten sich Sorgen um Rudi Dutschke. Eine kam heraus, stellte sich neben ihn, seinen Dufflecoat über’m Arm, und sagte ihm – und wegen des Megaphons konnten wir es hören: „Herr Dutschke, tun Sie sich doch der Mantel, bei dem Wetter können Sie sich sünst jet holen“. Dutschke schaut sie völlig irritiert an, dann zieht er den Dufflecoat an. Schon will er mit der Revolution weitermachen, da sagt sie: „Herr Dutschke, könnten Sie mir die Garderobenmarke … ?“ Er greift in die Hosentasche und gibt ihr die Marke.

Eine zweite bemerkenswerte Geschichte ergänzt diese Kombination aus pazifistischer Revolution, katholischer Friedensbereitschaft und scheinbarer Toleranz, also diese typisch rheinisch-bönnsche Mischung auf das Köstlichste: Bundespräsident Heinrich Lübke – Sie wissen schon: der größte Kabarettist aller Zeiten – lehnte es 1966 ab, der Aktivistin Klara Marie Faßbinder, das „Friedensklärchen“, wie sie auch genannt wurde, den französischen Ordre des Palmes académiques für ihre Verdiente um die Übersetzung der Werke von Paul Claudel auszuhändigen, weil sie in Kontakt mit der DDR-Regierung getreten war. Das schrie nach einer Demo gegen den guten Heinrich, die wir vor der Bonner Oper abhielten. Wir waren etwa 400 Student:innen, skandierten „Ho-Ho-Ho chi minh“ und waren bester Dinge als die Polizei anrückte. Die Studentendemos in Bonn hatten immer auch etwas von Happening. Natürlich bekamen wir Angst, alle hatten Berlin vor Augen und die Aggressivität der dortigen Polizei und harrten der Dinge. Die Beamten schoben uns vom Bühneneingang der Oper weg, dann standen alle still. In der Mitte parkte ein Polizeiauto; das war schon mal toll: keine Wasserwerfer! Ein Mann mit einem Megaphon stieg aus und sprach uns ganz ruhig an, dass wir da mal ein bisschen zur Seite gehen sollten, abgesagte Ordensverleihungen seien kein Grund für Demos, und der Bundespräsident würde schon wissen, was er da tut und so weiter. Seine ruhige Stimme verfehlte ihre Wirkung nicht. Dann aber kam der Hammer, und das ist Bonn wie es leibt und lebt: „Und übrigens halten wir von der Polizei uns an die rheinische Devise: Bevor mir uns kloppen, können mir uns auch direkt vertragen“, er sprach es und stieg wieder ins Auto. Es hat natürlich funktioniert. Wir waren so perplex, dass wir uns auflösten, auf den Marktplatz gingen und vor dem Marktkrug die Demo in diversen Kölsch ertränkten.

So komme ich zum Ende dieser kaleidoskophaften Beschreibung der Menschen in Bonn und ihrer Mentalität: Das kann man nämlich angesichts der extrem komplexen Charakterstruktur nur in kleinen Fragmenten und Beispielen.

Jetzt, in der Nach-Fläschchen-Zeit muss Bonn und müssen die Bonner:innen schauen, wie sie auf eigenen Beinen stehen können, keine Kurfürsten und keine Bundesregierung sind mehr in Sicht, es bleibt nur die rheinische Zuversicht. Auf die aber ist Verlass, denn „et hätt noch immer jot jejange!“

ist Kabarettist, Musiker und Autor und lebt in Bonn.