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Rote Gentechnologie Krankheiten diagnostizieren und therapieren, Persönlichkeitsrechte schützen

Annette Rausch

/ 6 Minuten zu lesen

Rote Gentechnik gewinnt in der Medizin zunehmend an Bedeutung. Viele neue Medikamente, aber auch Insulin oder das durch Doping bekannt gewordene Mittel EPO basieren darauf. Die Diskussion über diese Technologie bewegt sich dabei zwischen der Hoffnung auf neue Therapien, der Angst vor unbekannten Folgen und sehr hohen Therapiekosten.

Die Spitze einer Insulin Spritze über Patronen mit Menschlichem Insulin. (© AP)

Definition

Unter "roter" Gentechnologie wird die Entschlüsselung und/oder Veränderung von Erbmaterial in der Medizin und der biomedizinischen Forschung verstanden. Dazu gehören vor allem

  • gentechnisch hergestellte Medikamente oder Impfstoffe,

  • Gentests, um Krankheiten zu entdecken,

  • Versuche, Menschen mit Hilfe von Gentheraphie oder Genscheren zu heilen.

Sie ist ein Teilbereich der roten Biotechnologie, zu der unter anderem die Stammzellforschung oder auch das Klonen gezählt werden. Verknüpfungen gibt es auch mit der Fortpflanzungsmedizin – etwa bei der Anwendung von vorgeburtlichen Gen-Tests.

Gentechnisch hergestellte Medikamente und Impfstoffe

Mit der gentechnischen Veränderung zumeist von Bakterien oder Pilzen ist es gelungen, Wirkstoffe zu produzieren, die vorher nicht oder nicht in ausreichender Menge isoliert werden konnten. Die so hergestellten Wirkstoffgruppen mit den größten Marktanteilen (Umsatz) sind derzeit

  • Immunsuppressiva, die bei Transplantationen oder rheumatischen Erkrankungen eingesetzt werden und Teile des Immunsystems unterdrücken,

  • Antidiabetika, d.h. Insuline (die vor 1982 aus Bauchspeicheldrüsen von Schweinen gewonnen wurden) zur Behandlung von Diabetes,

  • Immunstimulanzien wie z.B. Interferone, die vor allem bei Krebserkrankungen und Multipler Sklerose eingesetzt werden.

In Deutschland sind derzeit 173 gentechnisch hergestellte Wirkstoffe in etwa 221 Medikamenten zugelassen (VfA 06/2017).

Eine spezielle Gruppe sind monoklonale Antikörper, die gezielt in das Immunsystem des menschlichen Körpers eingreifen. Von 59 in Deutschland zugelassenen Präparaten ist Herceptin, das bei Brustkrebs eingesetzt wird, das bekannteste. Sowohl 2006 (Großbritannien) als auch 2016 (Frankreich) wurde bei Erstanwendungen an Menschen (Phase-I-Studien) deutlich, dass diese Medikamentenklasse unerwartete – in Frankreich in einem Fall auch tödliche – Reaktionen hervorrufen kann.

Gentechnisch hergestellte Medikamente (sogenannte Biologicals, bzw. deren Nachbauten nach Patentablauf, genannt Biosimilare) hatten 2015 einen geringen Marktanteil von 2,5 % an den Verordnungen. Der Umsatz betrug 7,2 Mrd. € oder 20 % des GKV-Fertigarzneimittelmarktes und lag somit sehr viel höher. 2016 waren 18 Biosimilare für 6 Wirkstoffe auf dem Markt. Diese Nachbauten müssen deutlich höhere Anforderungen (z.B. eigene Studien) erfüllen, um eine Zulassung zu erhalten. Die Preisunterschiede zu patentgeschützten Originalen sind deutlich geringer (1,5 % bis 29 %) als bei Generika (im Durchschnitt 73 %) (Schwabe, Paffrath, 2016).

Der erste gentechnisch hergestellte Impfstoff auf dem Markt war 1986 einer gegen das Hepatitis-B-Virus. Weit verbreitet sind auch gentechnisch hergestellte Impfstoffe gegen bestimmte Arten des humanen Papillomavirus (HPV; kann zur Entstehung von Gebärmutterhalskrebs führen) und gegen Cholera. In der Veterinärmedizin werden auch gentechnisch veränderte Lebendimpfstoffe eingesetzt. Diese sind ähnlich umstritten wie die grüne Gentechnologie: So gab es Proteste und Klagen gegen eine in Mecklenburg-Vorpommern 2013/2014 durchgeführte Impfung von Pferden mit einem lebenden, gentechnisch veränderten Bakterium, bei der gegen Sicherheitsbestimmungen verstoßen wurde (Umweltinstitut München).

Gentests

Im Rahmen der Humangenomforschung werden immer mehr Veränderungen des Erbguts identifiziert, die mit der Entstehung von Krankheiten in Verbindung gebracht werden können. Diese Erkenntnisse bilden die Grundlage für die Entwicklung von Gentests. Grob wird unterschieden zwischen:

  • diagnostischen Gentests, die genetische Eigenschaften untersuchen, die für eine bereits bestehende Erkrankung oder gesundheitliche Störung (mit)ursächlich sind.

  • prädiktiven Gentests, die genetische Veränderungen (Mutationen) identifizieren, die im Laufe des weiteren Lebens mit erhöhter (zum Teil recht vage) oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer Krankheit führen können (z.B. familiärer Brustkrebs, Chorea Huntington). Z.T. treten die möglichen Krankheiten erst bei von der getesteten Person abstammenden Personen auf; dann besteht bei den Getesteten eine sogenannte Anlageträgerschaft.

  • Gentests zur Untersuchung genetischer Merkmale, die die Verträglichkeit von Medikamenten beeinflussen: Ziel ist es, die Wirkung von Medikamenten zu optimieren bzw. die Nebenwirkungen zu verringern (Kollek et al., 2004). Mitte 2017 sind bei 50 Medikamenten solche Tests vor der Anwendung vorgeschrieben oder empfohlen. Etwa 75% dieser Medikamente dienen der stratifizierten (z.T. auch als personalisiert bezeichneten) Krebsbehandlung.

  • Gentests zu nicht-medizinischen Zwecken, z.B. zur Klärung der Vaterschaft.

Die Ergebnisse von Gentests bergen auch die Gefahr einer möglichen Diskriminierung durch Arbeitgeber oder Versicherungen. Daher wurden im Gendiagnostikgesetz (GenDG) konkrete Vorgaben zur medizinischen Anwendung, dem Schutz der Daten, zum Recht auf Nichtwissen, dem Schutz vor Diskriminierung durch Versicherungen oder Arbeitgeber etc. getroffen. Ein großes Manko ist jedoch das Fehlen von Regelungen für die Forschung – ob im GenDG oder in einem Biobankengesetz.

Gentherapie und Genome Editing

Mittels einer Gentherapie wird genetisches Material in Körperzellen oder -gewebe übertragen, um fehlende oder defekte Funktionen des Organismus wiederherzustellen. Um diesen noch in den 90er Jahren von großen Hoffnungen begleiteten Forschungsansatz ist es sehr ruhig geworden. Das größte Problem ist die Frage, wie die Gene in die Zellen oder Gewebe des Menschen eingebracht werden können. Geforscht wird hier unter anderem mit Viren als Genüberträgern. Die damit verbundenen Risiken – unter anderem, weil Viren sich stark vermehren und unkontrolliert im ganzen Körper ausbreiten können – sind jedoch noch nicht überwunden. 2006 bis 2009 fand in Deutschland eine experimentelle Gentherapiestudie an Kindern mit dem Wiskott-Aldrich-Syndrom (Blutgerinnung und Immunsystem arbeiten nicht korrekt) statt. 2016 wurde bekannt, dass 8 von 9 Kindern, bei denen die Gentherapie anschlug, an Leukämie erkrankten und inzwischen 3 daran gestorben sind. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, die Risiken sehr genau gegen bestehende Behandlungsmethoden (mit Heilungschancen bis zu 95 %) abzuwägen (vgl. Deutscher Bundestag 18/9941).

2012 wurde in Europa erstmals eine Gentherapie gegen eine Stoffwechselerkrankung mit vielen Bedingungen und der zeitlichen Befristung von 5 Jahren zugelassen. Diese knapp 1 Mio. € teure Behandlung wurde seitdem in Europa bei einer Patientin eingesetzt und wird 2017 wieder vom Markt verschwinden. 2016 wurde die zweite Gentherapie zugelassen: Strimvelis soll die Immunschwäche ADA-SCID behandeln. Getestet wurde diese Therapie an 18 (weltweit 42) Kindern, und es wird damit gerechnet, dass in Europa zukünftig etwa 15 Kinder pro Jahr behandelt werden.

Der seit 2015 viel diskutierte Ansatz des "Genome Editing" weckt die Hoffnung, mit Hilfe von Genscheren (CRISP/Cas9) präzise Eingriffe ins Erbgut (DNA) vornehmen zu können. Er wird aktuell insbesondere an Tieren erforscht. Bei Menschen müssten viele Milliarden Körperzellen verändert werden, damit dieser Ansatz wirkt. Hierbei dürfen keine Fehler passieren, da sonst Krebs entstehen kann. Dass solche Fehler in Einzelfällen passieren, zeigen neue Nachuntersuchungen des Genoms von mit Genscheren behandelten Versuchsmäusen. Die Skepsis, die die Medizinnobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Vollhard äußert, wird damit aktuell bestätigt. Sie geht davon aus, "dass man einzelne Zellen nicht mit absoluter Sicherheit verändern kann. Das Risiko ist unvergleichbar höher als der Nutzen, den man sich davon verspricht." (ORF)

Rote Gentechnologie zwischen Akzeptanz, bioethischen Debatten und Kosten

Die rote Gentechnologie ist – anders als die grüne – wesentlich breiter in der Öffentlichkeit akzeptiert. Viele Menschen hoffen auf neue Therapien oder auf bessere Diagnosemöglichkeiten. Das Vertrauen in die Sicherheit ist, aufgrund eines europaweit einheitlich geregelten Zulassungsverfahrens für gentechnisch veränderte Medikamente und Impfstoffe, vergleichsweise hoch. Die Produktion findet zudem in sogenannten "geschlossenen Systemen" – also in Betriebsanlagen der Pharmaunternehmen – statt, die den Sicherheitsanforderungen des deutschen Gentechnik-Gesetzes entsprechen müssen.

In Debatten über die rote Gentechnologie dominieren ethische und gesellschaftspolitische Aspekte. Dies zeigte exemplarisch die kontroverse Debatte des Bundestages zur Präimplantationsdiagnostik (PID) Mitte 2011. Letztlich wurde eine eng begrenzte genetische Untersuchung und Auswahl von via künstlicher Befruchtung gewonnenen Embryonen erlaubt. Kritisiert wurde u.a., dass hiermit eine explizite Selektion von Embryonen nach "lebenswert" und "nicht lebenswert" eingeführt würde.

Der Einsatzschwerpunkt von gentechnisch hergestellten Arzneimitteln ist die Onkologie – die Behandlung von Krebs. Biologicals bieten hier ganz neue Ansatzpunkte für eine Therapie, gleichzeitig ist das Wissen über den Nutzen zum Zeitpunkt der Zulassung noch gering. Es stellen sich daher wissenschaftliche, gesundheitsökonomisch und ethisch schwierige Fragen: Offen ist etwa eine Antwort darauf, ob es gerechtfertigt ist, für eine Lebensverlängerung um wenige Tage oder Monate einen hohen fünfstelligen Betrag auszugeben (vgl. Glaeske et al. 2010). Unbeantwortet ist auch, wie verhindert werden kann, dass ein sehr wirksamer monoklonaler Antikörper zur Behandlung von Blutkrebs (Alemtuzumab) vom Markt genommen wird, weil dieser zu einem sehr viel höheren Preis bei der Krankheit Multiple Sklerose vermarktet werden kann.

Die ethische Debatte über Genom Editing hat in Deutschland begonnen. Der Deutsche Ethikrat hat seine Jahrestagung 2016 dem Thema gewidmet. Der Deutsche Bundestag hat sein Technikfolgenabschätzungsbüro mit einer Studie beauftragt, die Ende 2017 vorliegen soll.

Literatur

Externer Link: Aktion Mensch, Was wollen wir, wenn alles möglich ist? Fragen zur Bioethik.

Antwort auf Kleine Anfrage
Externer Link: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/099/1809941.pdf

Externer Link: Deutscher Ethikrat zu Gendiagnostik.

Externer Link: Glaeske et all, Sicherstellung einer effizienten Arzneimittelversorgung in der Onkologie.

Kollek et al., 2004: Pharmakogenetik: Implikationen für Patienten und Gesundheitswesen. Anspruch und Wirklichkeit der individualisierten Medizin. Nomos Verlag.

ORF, Externer Link: http://science.orf.at/stories/2847059

PEI, Externer Link: Paul-Ehrlich-Institut, Liste zugelassener monoklonaler Antikörper in Deutschland.

Schwabe, Paffrath (Hrsg.) 2012: Arzneimittelverordnungsreport 2016, Springer Medizin Verlag

TAB, Externer Link: https://www.tab-beim-bundestag.de/de/gutachter/g40000.html

Externer Link: Umweltinstitut München, Freisetzung genetisch veränderter Lebendimpfstoffe.
Externer Link: http://www.umweltinstitut.org/themen/gentechnik/gentechnik-bei-tieren/genmanipulierte-impfstoffe.html

Externer Link: VfA, Verband forschender Arzneimittelhersteller, Liste zugelassener gentechnisch hergestellter Medikamente und Impfstoffe in Deutschland.

ist aktuell Büroleiterin von Kordula Schulz-Asche MdB und war langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin von Biggi Bender MdB. Seit 2002 befasst sie sich mit Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik, bioethischen Fragestellungen (wie z.B. die Erarbeitung des Gendiagnostikgesetzes, PID) sowie der Arzneimittelpolitik.