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Die Jesiden | "Life on the border" | bpb.de

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Die Jesiden Religion, Gesellschaft und Kultur

Sefik Tagay

/ 11 Minuten zu lesen

Woran glauben Jesiden? Was zeichnet das Jesidentum aus? Der Hintergrundtext gibt einen Einblick in die jesidische Gesellschaft und ihren Glauben und beleuchtet die aktuelle Situation vor dem Hintergrund einer langen Verfolgungsgeschichte.

Jesiden feiern das Neujahrsfest in Dohuk, Irak. (© Picture alliance / dpa)

Das Jesidentum ist eine eigenständige, monotheistische Religion, deren Wurzeln bis ca. 2000 Jahre v. Chr. zurückreichen. Nach dem Jesiden-Experten Philipp Kreyenbroek liegen diese in einer alt-iranischen Ur-Religion, die ähnlich überlieferte Schöpfungsmythen sowie ebenfalls die Engellehre und die Verehrung der Sonne beinhaltet. Im Jesidentum gibt es keine Missionierung, aber auch eine Konversion hierzu ist nicht möglich. Jesiden glauben an die Seelenwanderung und die Wiedergeburt (kurdisch: Kiras Guhartin). Das Leben endet nicht mit dem Tod, sondern es erreicht nach einer Seelenwanderung einen neuen Zustand.

Namensbezeichnung Jesiden (Eziden)

In der Literatur existieren zahlreiche Namensbezeichnungen für Jesiden. In älteren Publikationen aus dem deutschen Sprachraum wurde vielfach von den "Jesiden“, "Jezidi/s“ oder auch "Yaziden“ gesprochen. Viele Leserinnen und Leser haben erstmals durch Karl Mays populäre Bücher "Durch die Wüste“(1881) und "Durchs wilde Kurdistan“ (1882) aus dem sechsbändigen Orientzyklus von den Jesiden erfahren, die in diesen Schriften "Dschesidi“ genannt werden. In den letzten Dekaden waren die Begriffe "Yeziden“, "Jesiden“ und "Eziden“ in deutschsprachigen Publikationen am prominentesten vertreten. Im englischen Sprachraum wird meist der Name "Yezidis“ oder "Yazidis“ verwendet (Tagay & Ortac, 2016).

Die in Deutschland lebenden Jesiden gebrauchen inzwischen mehrheitlich den Begriff "Eziden“. Dies spiegelt sich in der Namensgebung zahlreicher Vereine, Organisationen und Gemeinden wider, die in den letzten zwei Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland gegründet wurden. Der Begriff "Eziden“ ist die etymologische Ableitung vom kurdischen Wort "Ezidi“ beziehungsweise "Ezdai“, was mit "der, der mich erschaffen hat“, also "Schöpfer“, übersetzt werden kann. Damit wird der Gottesbezug in der Namensgebung besonders deutlich (Tagay & Ortac, 2016).

Zentrale Figur neben dem Schöpfergott “Ezid“ ist der "Engel-Pfau“ (kurdisch: Tausi Melek), der von den Jesiden besonders verehrt wird. Nach jesidischer Mythologie hat Gott ihn mit sechs weiteren Engeln aus seinem Licht erschaffen, wobei Tausi Melek von Gott zum obersten der sieben Engel erkoren wurde. Entgegen der vielfachen Behauptung von einigen Muslimen im Interner Link: Nahen Osten symbolisiert Tausi Melek weder den Teufel noch ist er der in Ungnade gefallene Engel. Tausi Melek wird von Jesiden als Stellvertreter Gottes auf Erden verehrt, der Gottes Plan und Werk ausführt.

Das Jesidentum kennt die Vorstellung von einem Teufel als Widersacher Gottes nicht. Vielmehr ist Gott einzig, allmächtig und allwissend und gilt als der Schöpfer des Universums und allen Lebens. Jesiden lehnen daher den Dualismus von Gott und Teufel ab; damit einher geht auch die Verneinung einer Höllen-Paradies-Vorstellung. Die Aussprache des Namens des Teufels ist gleichbedeutend mit der Akzeptanz der Existenz dieser Kraft und stellt aus jesidischer Sicht einen Interner Link: blasphemischen Akt dar, der die göttliche Autorität infrage stellt. Daher wird der Begriff von Jesiden nicht ausgesprochen. Der wichtigste Feiertag der Jesiden ist der Îda Êzî (Fest zu Ehren Gottes ), der im Dezember zelebriert wird.

Das Jesidentum kennt keine verbindliche religiöse Schrift wie etwa die Interner Link: Bibel oder den Interner Link: Koran. Die Vermittlung religiöser Traditionen und Glaubensvorstellungen beruht seit Jahrhunderten ausschließlich auf mündlicher Überlieferung. Es gibt verschiedene Kategorien heiliger Texte (zum Beispiel Gebete), die überwiegend in Kurdisch-Kurmancî verfasst sind. Aufgrund der ausschließlich oralen religiösen Praxis hatten die Jesiden in ihrem vorwiegend muslimisch dominierten Umfeld nicht den Status von "Leuten der Schrift“, also Anhängern einer Offenbarungsreligion, wie etwa die Juden oder Christen. Sie galten damit vielmehr als “Ungläubige“, “Götzen-“ oder “Teufelsanbeter“. Diese falschen Darstellungen und Vorurteile waren immer wieder die Grundlage für die lange Verfolgungs- und Leidensgeschichte der Jesiden, die bis in die Gegenwart hineinreicht.

Gesellschaft und Kastenwesen

Das Kastenwesen bei den Jesiden. (Abbildung in Anlehnung an Tagay & Ortac, 2016.) (© Sefik Tagay)

Die jesidische Gesellschaft wurde vor über 800 Jahren von dem Reformator Scheich Adi (1074-1162) in drei Kasten eingeteilt (siehe Abbildung 1), für die ein striktes Endogamiegebot nach innen und auch außen gilt. Heiraten außerhalb der jesidischen Gesellschaft (Endogamiegebot nach außen) sind ebenso verboten, wie Eheschließungen zwischen den Kasten (Endogamiegebot nach innen). Die Laien (Mirîden) stellen mit rund 80% die größte Gruppe dar, gefolgt von den beiden Priesterkasten, den Scheichen (ca. 15%) und den Pîren (ca. 5%). Ein Laie darf nicht in eine der beiden Priesterkasten wechseln und umgekehrt ist dies auch nicht möglich. Die Kasten der Scheichen und Pîren gliedern sich in drei, beziehungsweise vier Untergruppen, zwischen denen ebenfalls das Endogamiegebot gilt. Zudem ist ein Wechsel zwischen den beiden Priesterkasten nicht möglich. Ein Pîr bleibt sein Leben lang ein Pîr, gleiches gilt für einen Scheich. Die Geistlichen (Scheichen und Pîren) haben die Aufgabe, die Kaste der Laien in den religiösen Regeln zu unterweisen. Die Laien unterstützen die Geistlichen materiell durch Spenden. Das jesidische Kastenwesen ist nicht hierarchisch gegliedert wie das indische, in dem es auch eine Kaste der Interner Link: "Unberührbaren“ gibt. Zwar fallen allen drei Kasten unterschiedliche Aufgaben und Funktionen zu, sie sind aber gleichberechtigt. Neben der Einhaltung der Kastenvorschriften gibt es fünf Grundpflichten für Jesiden, die für alle drei Kasten gültig sind. Diese umfassen:

  1. die Anerkennung des "einen“ Gottes


  2. die religiöse Betreuung durch einen Scheich (Priester)


  3. die Betreuung durch einen Pîr (Priester)


  4. mindestens einmal im Leben eine Pilgerfahrt nach Lalish (Heiligtum der Jesiden im Irak)


  5. die Wahl eines Jenseitsbruders (kurdisch: Birayê Achretê) oder einer Jenseitsschwester (kurdisch: Chucha Achretê)


Das Jesidentum ist wesentlich durch Oralität und Orthopraxie geprägt: Bei der Orthopraxie geht es um die rechte Lebensführung, wozu etwa die Teilnahme an religiösen Feierlichkeiten oder die Einhaltung der Verbote und Gebote zählen. Sie ist das Gegenstück zur Orthodoxie. Aufgrund der jahrhundertelang praktizierten mündlichen Weitergabe religiöser Lehren hat sich keine Orthodoxie im Sinne einer formal-religiösen Dogmatik entwickelt.

Bevölkerung und Geographie

Weltweit gibt es etwa eine Million Jesiden. Ihre ursprünglichen Heimatländer im Nahen Osten sind allen voran der Interner Link: Irak, die Externer Link: Türkei, Interner Link: Syrien und der Externer Link: Iran. Die überwältigende Mehrheit der Jesiden spricht das Kurdische "Kurmancî“. Das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden befindet sich in der nordirakischen Provinz Ninive, vor allem in den beiden Distrikten Sindschar ("Sinjar“) und Sheikhan. Hier lebten vor dem Sindschar-Genozid 2014 schätzungsweise zwischen 600.000 und 700.000 Jesiden. Rund 500.000 Jesiden waren es noch bis zum Beginn des am 03.08.2014 einsetzenden Völkermords in der Region Sindschar.

Die weltweit größte Diasporagemeinde der Jesiden mit rund 150.000 Menschen ist in Deutschland beheimatet, viele bereits in dritter und vierter Generation. Mehrheitlich leben sie in den Bundesländern Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen sowie Bremen, Hamburg und Berlin.

Jesiden – eine ethno-religiöse Volksgruppe?

Jeside wird man nur, wenn man als Kind einer jesidischen Mutter und eines jesidischen Vaters zur Welt kommt. In der wissenschaftlichen Literatur werden die Jesiden aufgrund ihrer Sprache und Kultur überwiegend den Kurden zugeordnet. Die Mehrheit der Jesiden definiert sich ebenfalls ethnisch als Kurden. Ein Teil der Jesiden aus Armenien, Georgien und Russland, aber auch aus Sindschar, betrachtet sich dagegen als eigene, unabhängige ethnische Volksgruppe. Diese Gruppe geht sogar so weit, dass sie jegliche ethnische Verbindung zu den Kurden und zum Kurdentum negiert. Dies führte auch dazu, dass die Jesiden in Armenien, Georgien und Russland von staatlicher Seite aus heute als eigenständige Volksgruppe betrachtet werden. Kurden und Jesiden werden deshalb von den jeweiligen Regierungen dieser Länder als einzelne, eigenständige Ethnien registriert. Dabei ist in der jesidischen Gemeinschaft die Meinung breit vertreten, dass die Ursprungsreligion der weltweit rund 30 bis 40 Millionen Kurden, die heute mehrheitlich dem sunnitischen Islam angehören, einst das Jesidentum gewesen sei.

Sindschar – das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden

Vor dem Einmarsch des sogenannten Interner Link: Islamischen Staates (IS) am 03.08.2014 war Sindschar mit circa 500.000 Menschen das weltweit größte homogene jesidische Siedlungsgebiet. Sindschar gilt bei den Jesiden als das Symbol der einstigen Macht der jesidischen Gemeinschaft und als Ort wichtiger jesidischer Heiligtümer. Besonders dramatisch ist die Vertreibung der Jesiden deshalb, weil ihr kulturell-religiöses Erbe für immer zu verloren gehen droht. Soweit die Geschichte der Jesiden sowie die ihrer Religion durch historische Quellen erschlossen werden kann, ist sie eine Geschichte von systematischen Vernichtungsfeldzügen und Vertreibung sowie von religiöser, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entrechtung. Gebrandmarkt als "Häretiker“ und "Anbeter des Bösen“, als "Ungläubige“ und "Gottlose“ erlitt die Religionsgemeinschaft eine Vielzahl von Massakern und Genoziden, durch welche die zahlenmäßig einst sehr starke Gemeinschaft im Laufe der Jahrhunderte immer weiter dezimiert wurde. Insbesondere in der Zeit des Interner Link: Osmanischen Reiches (1299 bis 1922) wurden die Jesiden vielfach und systematisch in Sindschar verfolgt.

Dies führte im Laufe der jesidischen Geschichte immer wieder zu Fluchtbewegungen. Eine größere Migration erfolgte nach dem Sturz Saddam Husseins im Irak im Jahr 2003 und dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011, wodurch es zu einer Destabilisierung der gesamten Region kam und das Erstarken terroristischer Gruppen wie der des IS begünstigt wurde. Die Verbrechen der IS-Terrorgruppe in den vergangenen Jahren haben zu einer erneuten Fluchtbewegung der im Nordirak beheimateten Minderheiten, allen voran der Jesiden sowie der Christen, geführt. Dies unterstreicht einmal mehr, dass die lange Verfolgungsgeschichte der Jesiden auch im 21. Jahrhundert nicht beendet ist, die sich nachhaltig auf die jesidische Identität, die religiösen Praktiken und auch das religiöse Selbstverständnis der Gemeinschaft auswirkt.

Die Menschenrechtsaktivistinnen Nadia Murad und Lamiya Aji Bashar haben den Genozid an den Jesiden überlebt. Sie setzen sich seit ihrer Flucht für jene ein, die noch immer in der Gewalt des IS sind. 2016 wurden sie für ihr Engagement mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet. (© picture alliance / dpa)

Völkermord durch den sogenannten Islamischen Staat

Nach der Vertreibung der Christen aus Mossul im Juni 2014 begann der IS am 03.08.2014 mit der Vernichtung und Verfolgung der Jesiden in Sindschar. Die Jesiden bezeichnen den Sindschar-Völkermord als den 73. Genozid in ihrer bisherigen Geschichte. Die Kette der Gräueltaten des IS ist lang: tausende Tote und Schwerverletzte, Entführungen, Massenerschießungen, zerstörte Dörfer und Heiligtümer, hunderttausende Geflüchtete ohne Versorgung und eine traumatisierte Gesellschaft. Aus Angst vor den Verbrechen des IS waren zehntausende Jesiden in das Sindschar-Gebirge geflüchtet. Auf der Flucht sind hunderte Kinder verdurstet und verhungert. Tausende jesidische Frauen und Mädchen wurden von IS-Terroristen verschleppt, vergewaltigt und versklavt. Über 3.000 Jesiden befinden sich noch immer in IS-Gefangenschaft, allen voran Frauen und Kinder. Nach einer Studie der UN aus dem Jahr 2017 wurden mehr als 3.000 Menschen getötet und weit über 6.000 entführt.

In wissenschaftlichen Studien konnte empirisch nachgewiesen werden, dass der Genozid einen vielfältigen Einfluss auf die jesidische Identität, auf das Sicherheitserleben sowie die körperliche und psychische Befindlichkeit ausübt. In einer aktuellen Studie wurden über 500 Jesiden in Deutschland befragt, in wie weit der Sindschar Genozid einen Einfluss auf ihre jesidische Identität aber auch auf ihr psychisches Befinden hat. Demnach beschäftigen sich Jesiden signifikant häufiger mit ihrer eigenen Geschichte, Kultur und Religion als vor dem Genozid. Aber auch die psychische Belastung bezogen auf den Genozid war in den Bereichen Depressivität, Ängstlichkeit und Traumasymptomatik deutlich erhöht.

Vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Verfolgungs- und Vertreibungsgeschichte der Jesiden im Nahen Osten können Erinnerungen an vergangene Massaker, Pogrome und Genozide, wie zuletzt der fortwährende Sindschar-Genozid im Kontext des kollektiven Gedächtnisses dazu führen, dass das Vertrauen in den politischen Islam massiv erschüttert wird. Die Jesiden haben nach der Flucht aus Sindschar aber auch vielfach Unterstützung durch die muslimischen Kurden aus dem Nordirak, der Türkei und aus Syrien erfahren. Das Verhältnis zum Islam und die Beziehungen zur muslimischen Gemeinde als solche bleiben jedoch belastet, da auch Teile der ansässigen sunnitisch-arabischen und sunnitisch-kurdischen Bevölkerung mit dem IS kollaborieren. Dies stellt ein Problem dar, das sich nicht mit der Vertreibung des IS auflösen wird. Ferner wurden die Jesiden aus dem Sindschar von der kurdischen Regionalregierung im Nordirak im Stich gelassen, weil diese die Peschmerga-Einheiten, die für den Schutz der zivilen Bevölkerung in Sindschar stationiert waren, im Zuge des IS-Überfalls unvermittelt abzog. Auch weigerten sich die Peschmerga-Einheiten, den Jesiden Waffen zur Selbstverteidigung zu überlassen. Stattdessen kam die kurdische Volksverteidigungseinheit YPG aus Nordsyrien in den Sindschar zum Schutz der Jesiden. Das Verhältnis zwischen den Jesiden und der kurdischen Regionalregierung im Nordirak ist seit dem Beginn des Sindschar-Genozids deutlich zerrüttet.

Aktuelle Situation von Jesiden im Irak

Die jesidischen Geflüchteten sind aufgrund der Erlebnisse von Vernichtung und Vertreibung massiv traumatisiert und es mangelt ihnen, auch aufgrund der katastrophalen humanitären Lage in den überfüllten Flüchtlingslagern im Nordirak, an Zukunftsperspektiven. Aktuell befinden sich noch mehr als 300.000 Jesiden in den Flüchtlingslagern im Nordirak. Sindschar könnte als Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden für immer verloren gehen, weil diese trotz der militärischen Zurückdrängung des IS aus diesem Gebiet keine Garantie für ihre Sicherheit haben, wenn sie zurückkehren. All dies verstärkt den Wunsch vieler Jesiden, nach Europa, in die USA oder nach Kanada auszuwandern.

Aktuelle Situation von Jesiden in Syrien

Vor dem Ausbruch des Syrienkrieges lebten rund 70.000 Jesiden vorwiegend in Nordsyrien. In der nordsyrischen Stadt Afrin waren mit knapp 30.000 Glaubensanhängern die meisten Jesiden Syriens angesiedelt. Die Jesiden besitzen hier seit Jahrhunderten alte Heiligstätten und lebten bis zum Einmarsch der türkischen Truppen im März 2018 friedlich mit ihren muslimischen, alevitischen und christlichen Nachbarn in der "säkular“ geführten Provinz zusammen. Durch die fortwährende Destabilisierung in vielen Ländern des Nahen Ostens geraten die Minderheiten, allen voran die Jesiden und Christen, immer stärker unter Druck. Wirksamen staatlichen Schutz vor Gewalt und Tod gibt es kaum. Das Erbe der jahrtausendealten Religion und Kultur dieser beiden religiösen Gemeinschaften droht in der Region unwiderruflich verloren zu gehen.

Kurzer Exkurs zu der jesidischen Diaspora in Deutschland

In ihren angestammten Heimatländern wurden die Jesiden und die Ausübung ihres Glaubens jahrhundertelang unterdrückt. Sie mussten ihre Religion und Identität verbergen und nicht selten auch verleugnen. Die neue Freiheit in der Diaspora ermöglicht den Jesiden ein Leben in Frieden und Freiheit, und sie ist nunmehr eine aktive, offene Glaubensgemeinschaft, die den Dialog mit anderen nicht mehr scheut, sondern aktiv sucht. In der Vielfalt der Religionen Deutschlands sind die Jesiden nun herausgefordert, ihren Glauben und somit auch ihre Identität zu erklären und sichtbar zu machen. Die lange Verfolgungs- und Leidensgeschichte beeinflusst das kollektive Traumagedächtnis der Jesiden und die jesidische Identität auch in der Diaspora. Gerade vor dem Hintergrund des Sindschar-Genozids ist die Identitätsfrage sehr präsent und unterliegt einem kontroversen Diskurs in der Kunst, der Literatur und der Philosophie, aber auch in den Religionswissenschaften. Die kulturelle und religiöse Dynamik der jesidischen Gesellschaft in Deutschland setzt vielfältige Transformationsprozesse und Lebensweisen in Gang, die womöglich weltweit in der jesidischen Diaspora Veränderungen in der Religion und Gesellschaft anstoßen werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Kreyenbroek, P. G. (1995). Yezidism - its background, observances, and textual tradition. Lewiston: Edwin Mellen Press Ltd.; Tagay, S. & Ortac, S. (2016). Die Eziden und das Ezidentum – Geschichte und Gegenwart einer vom Untergang bedrohten Religion. Landeszentrale für politische Bildung Hamburg.

  2. Graichen, A. (2015). Das Ezidentum: Monotheistische Religion rund um den Engel Pfau. Materialdienst der EZW 6: Hannover, S. 210–218.; Tagay, S. & Ortac, S. (2016).

  3. Açıkyıldız, B. (2010). The Yezidis: The History of a Community, Culture and Religion. London: I.B. Tauris.; Kreyenbroek, P.G., 1995.

  4. Layard, A.H. (1965). Auf der Suche nach Ninive. Beck Verlag: München.; Ackermann, A. (2003). Yeziden in Deutschland – Von der Minderheit zur Diaspora. In: Paideuma: Mitteilungen zur Kulturkunde. Band 49, S. 157-177.; Tagay, S. & Ortac, S., 2016.

  5. Açıkyıldız, B. (2010).

  6. Tagay, S. & Ortac, S., 2016

  7. ebd..

  8. ebd.

  9. ebd.

  10. Omarkhali, K. (2015). Yeziden in den ehemaligen Sowjetrepubliken. In: Pogrom, 2/2015, S. 23-32.

  11. Wießner, G. (1984). „…in das tötende Licht einer fremden Welt gewandert”. Geschichte und Religion der Yezidi. In: Schneider, R. (Hrsg.): Die kurdischen Yezidi – Ein Volk auf dem Weg in den Untergang. Göttingen: Gesellschaft für bedrohte Völker, S. 31-46.; Layard, A.H., 1965.

  12. Tagay & Ortac, 2016. ; Kreyenbroeck, P.G., (2009). Yezidism in Europe: Different generations speak about their religion. Wiesbaden: Harrasowitz.

  13. Tagay, S. et al. (2017). The 2014 Yazidi genocide and its effect on Yazidi diaspora. In: THE LANCET, Vol 390, 1946.

  14. Ortac, S. & Tagay S. (2017). Religionsfreiheit für Eziden im Nahen Osten: Ein Fremdwort?! In: Schirmmacher, T. / Klingberg, M. (Hrsg,): Jahrbuch Religionsfreiheit 2017, S. 89-115.

  15. Cetorelli V. et al. (2017). Mortality and kidnapping estimates for the Yazidi population in the area of Mount Sinjar, Iraq in August 2014: A retrospective household survey. In: PLoS Med., 9:14(5): e1002297.

  16. Dabag, M. (2016). WiederAneignung von Identität in der Fremde. Herausforderungen für eine Diaspora der Eziden in Europa. In: Gesellschaft Ezidischer AkademikerInnen e.V. (GEA) (Hrsg.), Eziden und das Ezidentum im Transformationsprozess: gestern, heute, morgen. Beiträge der Zweiten Internationalen GEA-Konferenz vom 04. bis 05.10.2014 in Bielefeld. Berlin: VWB-Verlag für Wissenschaft und Bildung, S. 35-45.; Tagay, S. & Kus, I. (2016). Ezidische Identität in der Diaspora. In: Gesellschaft Ezidischer AkademikerInnen e.V. (GEA) (Hrsg.), Eziden und das Ezidentum im Transformations-prozess: gestern, heute, morgen. Beiträge der Zweiten Internationalen GEA-Konferenz vom 04. bis 05.10.2014 in Bielefeld. Berlin: VWB-Verlag für Wissenschaft und Bildung, S. 45-66.

  17. Tagay, S. et al, 2017.

  18. Layard, A.H.,1965; Tagay, S. & Ortac,S., 2016; Krayenbroek, P.G., 1995; Tagay, S. et al., 2017.

  19. Tagay, S. & Ortac, S., 2016

  20. Ortac, S. & Tagay, S., 2017

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  22. Tagay, S. & Ortac, S., 2016.

  23. ebd.

  24. Eissler, F. (2015). Zur Situation der Eziden. In: Materialdienst der EZW 6, S. 205–210; Tagay, S. & Kus, I., 2016; Lühr, M. (2016). Die religiöse Identität von Eziden in Deutschland. Masterarbeit. Ruhr-Universität Bochum. Fakultät für Sozialwissenschaften; Dabag, M., 2016.

  25. Tagay, S. & Kus, I., 2016.

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"Life on the border" porträtiert das Leid der verfolgten Jesiden in nordsyrischen und irakischen Geflüchtetenlagern. Die Schüler/innen setzen sich mit der religiösen Minderheit auseinander.

Sefik Tagay ist habilitierter Wissenschaftler, Psychologe und Inhaber der Professur für "Psychologie mit dem Schwerpunkt Public Health" an der TH Köln. Zudem betreut er mehrere Promotionsprojekte an der Universität Duisburg-Essen, u.a. in den Bereichen Trauma, Ressourcen, Testentwicklung und Jesiden. Er forscht seit vielen Jahren über Jesiden in der Diaspora. Tagay ist Vorsitzender der Gesellschaft Ezidischer Akademiker*innen (GEA).

Kontakt: sefik.tagay@th-koeln.de