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Taktisch versierter Pragmatiker und Visionär zugleich. Zum politischen Wirken von Hans-Dietrich Genscher (1927–2016) | bpb.de

Taktisch versierter Pragmatiker und Visionär zugleich. Zum politischen Wirken von Hans-Dietrich Genscher (1927–2016)

Jürgen Frölich

/ 16 Minuten zu lesen

In diesem Jahr wäre Hans-Dietrich Genscher 90 Jahre alt geworden. Er prägte jahrzehntelang die deutsche Innen- und Außenpolitik und nicht zuletzt den Weg zur deutschen Einheit. Grund genug, nach seinem Wirken und seinen Wirkungen zu fragen.

von links nach rechts: Henry Kissinger, Hans-Dietrich Genscher, Joachim Gauck und James Baker bei den Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag der "Friedlichen Revolution" in Leipzig, 2014 (© picture alliance/dpa, Foto: Hendrik Schmidt)

70 Jahre hat sich der Ende März 2016 verstorbene Hans-Dietrich Genscher parteipolitisch engagiert und 42 Jahre "hauptamtlich" Politik betrieben, davon 33 Jahre als Mitglied des Bundestages, 23 Jahre als Bundesminister, 18 Jahre als Vizekanzler und gut zehn Jahre als Parteivorsitzender. Das sind gerade in puncto Ministertätigkeit bislang in der Bundesrepublik unerreichte Zahlen. Und doch führen sie historiografisch teilweise zu einem merkwürdig blassen Bild: So wird Genscher in einem Standardwerk zum "Kalten Krieg", für dessen Überwindung er sich so sehr einsetzte, nur zweimal eher beiläufig erwähnt und damit nicht nur weniger als "seine" drei Kanzler, sondern auch weit weniger als Erich Honecker! Ebenso bescheinigt ein anderer Zeithistoriker dem bundesdeutschen Rekord-Außenminister: "Bleibende Spuren in der deutschen Außenpolitik zu hinterlassen, war ihm nicht vergönnt."

Es gibt natürlich, gerade in der Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik, auch andere Stimmen. Es bleibt jedoch ein Unbehagen angesichts solcher "Bilanzen" eines Politikers, der auch über viele Jahre zu den beliebtesten in der Bundesrepublik gehörte und als Elder Statesman über Ansehen verfügte wie kaum ein zweiter Deutscher. Hinzu kommt in diesem Fall, dass Genscher meistens als der – neben Herbert Wehner – "andere virtuose, geheimnisvolle Taktiker der deutschen Nachkriegsgeschichte" wahrgenommen wurde. Ein derartiges Übermaß an Taktik gebiert leicht Misstrauen, was dann in der internationalen Politik zu einer ziemlich gefährlichen Einschätzung als "slippery man" führen kann. Genschers 90. Geburtstag gibt Anlass, sein politisches Wirken noch einmal kompakt Revue passieren zu lassen und ein Vierteljahrhundert nach seinem offiziellen Abgang von der politischen Bühne zu einer adäquaten Einschätzung zu kommen.

Herkunft und erste politische Schritte

Geboren wurde Genscher nahe Halle zum Frühlingsanfang 1927. Der Vater war ein Syndikus, der mit den Deutschnationalen sympathisierte, die Mutter Bauerstochter, die nach dem frühen Tod des Vaters zur wichtigsten Bezugsperson des Einzelkindes wurde. Im Jahr der "Machtergreifung" wurde der Sohn eingeschult, 1937 wechselte er auf ein Hallenser Gymnasium, das er erst 1946 nach Arbeitsdienst, Kriegseinsatz und -gefangenschaft abschließen konnte. Genscher hatte also schon eine Reihe von Erfahrungen mit den "Auswirkungen" von Politik gemacht, wozu auch eine ihm selbst offenbar zunächst gar nicht bewusste NSDAP-Mitgliedschaft gehörte, als er sich Anfang 1946 der Liberaldemokratischen Partei anschloss. Offenbar sprach ihn das Angebot des Liberalismus als "die umfassendste Alternative zu allen Formen der Unfreiheit" – auch zum Sozialismus – am meisten an.

Ein tiefergehendes Engagement hatte dies zunächst nicht zur Folge. Denn er erkrankte schwer und hatte mit den Folgen der Krankheit noch ein ganzes Jahrzehnt zu kämpfen. Insofern war es schon erstaunlich, dass er bereits im Oktober 1949 in Leipzig das erste juristische Staatsexamen ablegte. Die Erfahrungen zunehmender Unfreiheit im SED-Staat ließen Genscher im August 1952, unmittelbar nachdem in der DDR der „Aufbau des Sozialismus“ verkündet worden war, in den Westen übersiedeln. In Bremen folgten das zweite Staatsexamen und der Eintritt in die FDP. 1956 wurde der junge Rechtsanwalt dann wissenschaftlicher Mitarbeiter der FDP-Fraktion im Bonner Bundestag. Sein politischer Mentor wurde der ehemalige Justizminister und Parteivorsitzende Thomas Dehler. Erich Mende, der Nachfolger Dehlers im Vorsitz, machte Genscher einige Jahre später zum Geschäftsführer von Bundestagsfraktion und Bundespartei. Diese zentralen Positionen im Parteiapparat erwiesen sich als gutes Sprungbrett für eine politische Karriere, die mit der Wahl in den Bundestag auf der Landesliste Nordrhein-Westfalen 1965 begann.

Die Stuttgarter Rede 1966

Zu diesem Zeitpunkt galt Genscher vor allem als politischer Strippenzieher hinter den Kulissen, der lieber anderen zuarbeitete als selbst Profil zu entwickeln. Doch ein Jahr später trat er mit einem umfassenden politischen Konzept an die Öffentlichkeit, das ungeahnte Langzeitwirkungen ausüben sollte. Auf Einladung des württembergischen Altministerpräsidenten Reinhold Maier hielt Genscher am 6. September 1966 die Erinnerungsrede an den US-Außenminister Byrnes, der genau 20 Jahre zuvor in Stuttgart eine grundlegende Wende der amerikanischen Deutschlandpolitik angekündigt hatte. Doch statt über Vergangenes sprach Genscher vor allem über eine zukünftige Deutschland- und Außenpolitik. Angesichts seiner Herkunft und beim Fehlen fast jeglicher internationaler Erfahrung war natürlich die deutsche Frage sein Dreh- und Angelpunkt. Diese sollte, das war gerade auch aus liberaler Sicht die entscheidende Wende, nicht mehr isoliert oder als Frage der Siegermächte betrachtet, sondern gesamteuropäisch eingebettet werden: "In Europa reift ein neues Bewußtsein und Denken heran. Es eröffnet die Aussicht, die unselige Spaltung des Kontinents zu überwinden." Dies sei "für Deutschland wegen seiner Mittellage und wegen der ungelösten Frage seiner nationalen Einheit von besonderer Bedeutung."

Von diesem Ausgangspunkt aus entwickelte Genscher eine Reihe von Prämissen und Instrumenten, die zum Ziel führen sollten: Grundlegend war für ihn, dass bei einer etwaigen Wiedervereinigung für die "Bundesrepublik einschließlich West-Berlin Frieden, Freiheit und Unabhängigkeit" gesichert sein und dass dazu auch die USA unbedingt eingebunden werden müssten.

Notwendig sei auch eine Absage an alle "nationalen Hegemoniewünsche", was Genscher sowohl explizit auf die Bundesrepublik als auch indirekt auf den Gaullismus bezog. Als Instrumente sah Genscher zunächst "zweiseitige Sicherheitsvereinbarungen" und dann – unter Aufgreifen von sowjetischen Vorschlägen – eine "gesamteuropäische Sicherheitskonferenz": "Sie wird auf jeden Fall kommen und sie wäre das einzige internationale Gremium, das sich auch mit der deutschen Frage befassen könnte." Bis zu ihrem Zusammentreten gelte es von bundesdeutscher Seite das "Gemeinschaftsgefühl der Deutschen" zu erhalten und die Beziehungen zu den Ländern Osteuropas "so vielfältig wie möglich" auszustatten. Am Ende könne "kein Anschluß Mitteldeutschlands an die Bundesrepublik", wohl aber "eine Zusammenführung der getrennten Teile Deutschlands als eine logische Konsequenz und nicht als eine Kapitulation der Kommunisten in Moskau, in Osteuropa und in Ost-Berlin" stehen.

Eine grundlegende Vision

Diese Rede kann man im Nachhinein als Drehbuch für zentrale Aspekte des Kurses verstehen, den der Außenminister Genscher später verfolgen sollte. Sie stand insofern in einer liberalen Tradition, als sie die nationale Einheit – ein zentrales Anliegen der deutschen Liberalen vor 1871 und nach 1945 – in den Mittelpunkt stellte. Zugleich zog sie aber Lehren aus der deutschlandpolitischen Entwicklung in den beiden Jahrzehnten zuvor. Mit der Rede löste sich Genscher von seinem Mentor Dehler, der wie viele Freidemokraten seit Mitte der 1950er Jahre "in Adenauers Politik der Westintegration zunehmend Gefahren für die Wiedervereinigung“ gesehen hatte. Genscher bejahte ausdrücklich die Westbindung der Bundesrepublik und die Europäisierung der deutschen Frage und sah auch nicht mehr den alleinigen Schlüssel dazu in Moskau, sondern wollte die übrigen Staaten im sowjetischen Machtbereich einbeziehen und letztlich beide Teile Europas unter freiheitlichen Vorzeichen zusammenführen.

Er nahm damit einiges aus dem berühmten, nach dem belgischen Außenminister benannten "Harmel-Bericht" vorweg, in dem die NATO ein Jahr später "neben der klassischen Aufgabe der Verteidigung nunmehr die Politik der Entspannung als zweites gleichberechtigtes Ziel deklarierte“. Insgesamt kann man Genschers Ausführungen durchaus als eine liberale Vision für die Außen- und Deutschlandpolitik sehen. Deren Realisierung war allerdings erst in ferner Zukunft zu erwarten, zumal seine Partei zu diesem Zeitpunkt immer noch mit den deutschlandpolitisch eher konventionell denkenden Christdemokraten koalierte.

Der Innen- und Umweltminister

Abgesehen von einigen koalitionsinternen Aufregungen hatte die Rede zunächst keine Folgen und wurde auch nicht prominent publiziert. Es war auch unklar, ob Genscher selbst an den vom ihm gewiesenen Zielen tatkräftig mitarbeiten wollte. Denn als die FDP 1969 zwar vom Wähler geschwächt, aber vom neuen Koalitionspartner SPD durch drei klassische Ressorts mit einem bundespolitischen Einfluss wie nie zuvor ausgestattet in die Regierung zurückkehrte, streckte Genscher seine Hände nicht nach einem für seine "Vision" zuständigen Ministerium wie das für Äußeres oder für Gesamtdeutsches aus: Nach kurzem Liebäugeln mit dem Finanzressort übernahm er den „Bauchladen“ (Egon Bahr) Innenministerium.

Mit seinen vielen Kompetenzen und Aufgaben stellte dieses Ministerium gerade für den Ministerneuling eine große Herausforderung dar. Diese wurde im Fall Genschers, der als erster Liberaler die Leitung innehatte, durch das strukturelle ressortinterne Spannungsverhältnis noch gesteigert, das in der Doppelaufgabe des Innenministers liegt, sowohl die Verfassung und die von ihr garantierten Grundrechte zu wahren als auch die innere Sicherheit zu gewährleisten. Dennoch erlangte er schnell den Ruf "des sachkundigen Ressortleiters".

In Bezug auf den Umweltschutz stellte Genscher seine Aufgeschlossenheit für Innovation nun auch innenpolitisch unter Beweis: Nicht nur machte er ihn erstmals zu einer staatlichen Aufgabe, sondern er lancierte auch in rascher Folge gesetzgeberische und institutionelle Maßnahmen, die 1974 mit der Eröffnung des Umweltbundesamtes in West-Berlin gekrönt wurden, mit der der baldige Außenminister zugleich den Stand der Entspannungspolitik testen wollte. Diese Aktivitäten trugen ihm "zu Recht das Etikett ‚erster Umweltschutzminister‘ der Bundesrepublik ein".

Herausforderung innere Sicherheit

Überschattet wurden die unzweifelhaften Aktiva des Innenministers, zu denen auch eine Herabsetzung des Wahlalters gehörte, durch die rapide angewachsene Bedrohung von Staat und Gesellschaft, die von in- und ausländischen Terroristen ausging. Nicht nur forderte die Baader-Meinhof-Gruppe mit ihren marxistisch motiviertem „Kampf gegen das System“ und zahlreichen Attentaten die Sicherheitsorgane heraus. Auch die als „heitere Spiele“ geplante Olympiade in München wurde mit blutigem Terror, diesmal von Palästinensern, überzogen, der 17 Menschen, darunter viele Israelis, das Leben kostete.

Genscher zog daraus Konsequenzen für den Aufbau neuer Sicherheitsstrukturen, da er bei aller liberalen Skepsis gegenüber der Staatsmacht um die Bedeutung von "Frieden und Stabilität im Innern" für das Gedeihen und Ansehen der Bundesrepublik wusste: Der Aufbau einer speziellen Anti-Terror-Einheit im Bundesgrenzschutz und der massive Ausbau des Bundeskriminalamtes wurden vom ihm in die Wege geleitet und mit ihnen die Grundlagen für die erfolgreiche Terrorbekämpfung der späten 1970er Jahre gelegt.

Eine anders geartete Bedrohung der bundesdeutschen Sicherheit hätte Genschers Karriere 1974 beinahe beendet: Bei der Enttarnung von Günter Guillaume als DDR-Spion im Kanzleramt übernahm Kanzler Willy Brandt die "politische Verantwortung" und rettete damit in gewisser Weise seinen Innenminister, der im Vorfeld keine ganz glückliche Rolle gespielt hatte. Mit Glück und Können überstand Genscher die Tragödie von München und die "Guillaume-Affäre" politisch weitgehend unbeschadet, weshalb ihm Zeitgenossen "Anpassungsfähigkeit" und "Taktik als Lebenselixier" zuschrieben.

Im Innenministerium entwickelte er jenes Instrument, das er als Außenminister perfektionieren sollte, nämlich eine PR-Strategie, die auf "Omnipräsenz in Presse, Rundfunk und Fernsehen" zielte. Schon der Innenminister Genscher gehörte nicht nur zu den bekanntesten, sondern auch beliebtesten Politikern.

Der Parteivorsitzende

Mit seinem politischen vollzog sich auch ein innerparteilicher Aufstieg: Anfang 1968 war er zum stellvertretenden Vorsitzenden der FDP gewählt worden und gehörte so gemeinsam mit Walter Scheel und Wolfgang Mischnick jenem Triumvirat an, das die FDP in den Jahren des "Machtwechsels" und der Kanzlerschaft Willy Brandts führen sollte. Unangefochtener Parteichef war zwar Scheel, aber Genscher galt als "Eckstein der Koalition" und damit auch als Scheels "natürlicher Vize". Deshalb machte ihm auch niemand dessen Nachfolge streitig, als jener 1974 zum Bundespräsident gewählt wurde und aus dem Kabinett und der FDP-Führung ausschied.

Sollte die FDP-Basis wirklich nach dem Wechsel vom fröhlichen Rheinländer Scheel zum bis dahin eher als spröde geltenden Hallenser Genscher mit dem neuen Vorsitzenden "gefremdelt" haben, so änderte sich das rasch. Im Spiegel der Wahlplakate wird deutlich, wie sehr bald Genscher und die FDP "eins schienen": Trat die Partei 1976 noch mit der Parole "Die vier, auf die es weiter ankommt" – gemeint waren die vier Bundesminister – an, so spitzte sich der liberale Wahlkampf später immer mehr auf Genscher zu. 1980 hieß das Motto "Für die Regierung Schmidt/Genscher", verziert mit einem Foto des Außenministers. Drei Jahre später war der FDP-Slogan "Freiheit braucht Mut" die Überschrift zu einem plakatfüllenden Genscher-Porträt. 1987 warb die FDP weiterhin mit der "Leistung" des Außenministers, der nicht mehr ihr Vorsitzender war. Und 1990 schließlich war Genscher auf den Plakaten nicht nur mit der FDP, sondern auch dem "Deutschland, dem die Welt vertraut", identisch.

Problematische Abhängigkeit

Andererseits gerieten die Freien Demokraten nicht nur auf Bundesebene in starke Abhängigkeit vom öffentlichen Standing ihres Frontmannes: Waren dessen Popularitätswerte hoch wie 1980, als sich Genscher im Zweikampf zwischen Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß geschickt als die Stimme der Vernunft präsentiert, oder wie 1990 nach dem Vollzug der deutschen Einheit, dann profitierte auch seine liberale Partei davon und erzielte jeweils herausragende Wahlergebnisse. 1983 allerdings, nachdem die Sozialdemokraten Genscher als "Verräter" an der Koalition und den Wahlaussagen von 1980 bezeichneten und er in der öffentlichen Meinung tief abstürzte, hatte dies massive Auswirkungen auf das FDP-Wahlergebnis, mit dem die Partei nur mit Mühe wieder in den Bundestag einzog.

Als Genscher sich 1992 – auch für seine Parteifreunde – unerwartet von der aktiven Politik zurückzog, hatte das zunächst ein erhebliches Chaos in der FDP-Führung zur Folge, unter anderem weil es jetzt, anders als 1974, eben keinen logischen Nachfolger gab. Mittelfristig führte es zu einer Krise der Partei, die sechs Jahre später erstmals in ihrer Geschichte aus einer Bundesregierung "abgewählt" wurde.

Der Außenminister

Genschers starke Stellung als Parteivorsitzender beruhte auf seiner Position als Außenminister. Die erwähnten Wahlergebnisse seiner Partei deuten schon an, dass die 18 Jahre im Auswärtigen Amt keine lineare Erfolgsgeschichte waren, an deren Ende als logische Folge die deutsche Wiedervereinigung stand. Genschers lange Amtszeit war natürlich von Hochs und Tiefs geprägt, und es war gar nicht sicher, ob sein Konzept aufgehen würde.

Die Anfänge im Außenministerium waren unspektakulär, denn in der Tat waren die Ostverträge, mit denen sein Vorgänger gepunktet hatte, "unter Dach und Fach“, aufsehenerregende Fortschritte schienen weder hier noch bei der Westintegration zu erwarten. Genscher fand aber schnell einen Ansatzpunkt für seine Außenpolitik und der lag in der damals laufenden "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE). Er sah hier eine große Chance und es gelang ihm, diese Überzeugung auch seinen westlichen Amtskollegen, insbesondere dem zunächst zögerlichen US-Außenminister Kissinger, zu vermitteln.

Ein zweiter Ansatzpunkt war der von seinem Vorgänger Scheel beim Abschluss des Moskauer Vertrages 1970 übergebene und von der sowjetischen Führung akzeptierte "Brief zur deutschen Einheit", in dem die Bundesrepublik ihren Anspruch auf eine Vereinigung des deutschen Volks "in freier Selbstbestimmung" bekräftigte. Die zentrale Aussage dieses Dokumentes hat Genscher dann immer wieder zitiert, besonders bei seinen Auftritten vor der UNO-Vollversammlung. Es gelang ihm, gegen den starken Widerstand der Sowjetunion, jenen "Brief zur deutschen Einheit" gewissermaßen in die Schlussakte der KSZE zu überführen: Bei aller Festschreibung der damaligen Grenzen wurde so deren mögliche Überwindung im Zuge eines "Peaceful Change" auf deutschen Wunsch ausdrücklich dokumentiert. Nicht ohne Stolz konnte Genscher feststellen, man habe „damit sowohl die deutsche wie die europäische Option offengehalten“.

Rückschläge und Fortschritte

Mittelfristig wurde Genschers mit der KSZE verbundene Optimismus aber enttäuscht. In den nächsten Jahren kam es statt zu Fortschritten zum "Niedergang der Entspannung": Im Zuge des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan, der Diskussion um eine westliche Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen und der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen, verschlechterten sich seit 1979 die Ost-West-Beziehungen massiv.

Der Außenminister reagierte darauf vor allem zweifach: Er unterstützte einerseits rückhaltlos die westliche Doppelstrategie, die unter der Überschrift "NATO-Doppelbeschlus"“ firmierte. Für Genscher bedeutete dies eine Politik, die "das Gleichgewicht wahrt und gleichzeitig die Hand zur Kooperation ausgestreckt hält". So trat er sowohl für die Vorbereitung einer möglichen Aufrüstung des Westens ein und suchte gleichzeitig immer wieder das Gespräch mit den osteuropäischen Staaten. Genschers "Doppelstrategie" war schwierig durchzuhalten, weil sie ihn einerseits von den "friedensbewegten" Teilen der eigenen Partei entfremdete, andererseits bei den Hardlinern unter den westlichen Verbündeten das eingangs erwähnte Misstrauen hervorrief. Hinzu kam sein ramponiertes innenpolitisches Ansehen infolge des Koalitionswechsels von 1982, der nicht nur innerparteilich stark umstritten war, sondern auch die Öffentlichkeit zwischen den Anhängern der alten sozial-liberalen Koalition und der neuen CDU-FDP-Regierung stark polarisierte.

Das Stagnieren der Ost-West-Entspannung versuchte Genscher andererseits ab 1981 durch Fortschritte bei der Vertiefung der westeuropäischen Einigung in gewisser Weise zu kompensieren. Die gemeinsam nach ihm und seinem italienischen Amtskollegen Colombo benannte Initiative änderte dann auch mittelfristig mit der daraus hervorgehenden Europäischen Einheitlichen Akte von 1986 grundlegend den Charakter der Gemeinschaft und ebnete indirekt den Weg zu den Vertragswerken des Europäischen Binnenmarktes. Genscher konnte – im Gegensatz zu anderen, stärker ökonomisch orientierten Liberalen – diese Richtung auch deshalb unbefangen einschlagen, da er "die Europäische Gemeinschaft stets als politisches Projekt" verstand.

Der Höhepunkt – die deutsche Einheit

Mit dem Aufstieg von Michail Gorbatschow in die Kreml-Führung kam ab 1985 auch wieder Bewegung in die Ost-West-Beziehungen. Als einer der ersten im Westen spürte der deutsche Außenminister die Veränderungen im sowjetischen Machtbereich und forderte – im Unterschied zu Kanzler Helmut Kohl und vielen westlichen Politikern – schon Anfang 1987, den sowjetischen Reformpolitiker "mit aller Konsequenz beim Wort zu nehmen". Da Genscher dies auch mit Zugeständnissen bei der Nachrüstung verbinden wollte, entwickelte sich daraus zunächst bei seinen östlichen Gesprächspartnern und dann auch wieder in der Bundesrepublik selbst eine Renaissance seines Ansehens und seiner Popularität, während jenseits des Atlantiks der Begriff "Genscherismus", was für ihn gesteigerte Gesprächsbereitschaft mit dem Osten meinte, zunächst noch als Schimpfwort und "Synomym einer Politik im Zwielicht" galt, wie auch die eingangs zitierte Bemerkung des amerikanischen Botschafters belegt.

Aber in dem Maße, wie sich die Dinge im Ostblock in Richtung Liberalisierung entwickelten, konnten auch US-amerikanische Skeptiker Genscher die Anerkennung nicht mehr verweigern. James Baker, der neue Außenminister der Bush-Administration, wurde dann auch zu einer verlässlichen Stütze im Zuge des Einigungsprozesses.

Genschers großen Anteil daran nachzuzeichnen, ist hier nicht der Platz. Auf zwei Grundpositionen von ihm soll jedoch hingewiesen werden, weil sie die Einheit maßgeblich beförderten: Ganz im Sinne seiner Stuttgarter Rede und des "Briefes zur deutschen Einheit" sollte sich die deutsche Wiedervereinigung im Einklang mit den Nachbarn und nicht als Kapitulation von Dritten vollziehen. Das hieß zum einen, die Einheit sollte als "Vereinigung von unten", also als Angelegenheit des deutschen Volkes und nicht als gezielte Wiedervereinigungspolitik, passieren. Und zum anderen stand für ihn fest, dass es an der "Endgültigkeit der polnischen Westgrenze an Oder und Neiße" keinen Zweifel geben durfte. Zu Recht erhoffte Genscher sich davon eine leichtere Akzeptanz des "neuen" Deutschland in der internationalen Politik.

Das Bohren harter Bretter

Es ist jüngst geäußert worden, Hans-Dietrich Genscher habe "die deutsche Sicherheits- und Europapolitik bis zur Wiedervereinigung wie kein anderer nachhaltig" geprägt. Er konnte dies, weil er über beides verfügte: eine Vision und taktische Raffinesse. Letzteres ist ihm immer schon attestiert worden, erstere wurde bei ihm häufig vermisst. Doch wenn man seine Stuttgarter Rede nimmt und sie mit dem vergleicht, wie sich Europa ein Vierteljahrhundert später darstellte, dann findet man erstaunlich viel eingetroffen und mit Genschers Hilfe umgesetzt. Diese Vision könnte auch einen Schlüssel zu dem überraschenden Rücktritt im Mai 1992 bilden: Der Visionär war am Ziel und es fiel ihm offenkundig schwer, eine neue Vision zu entwickeln.

Über den sicherlich in der Erinnerung im Vordergrund stehenden Außenpolitiker Genscher sollte nicht seine vergleichsweise kurze Rolle als Innenminister vergessen werden, auch nicht der Parteipolitiker, dessen Bilanz möglicherweise umstrittener ist. Vor allem für den Außenpolitiker, aber gewiss auch für den gesamten Politiker Genscher gilt jedoch: Wenn man nach tatsächlichen Beispielen sucht für Max Webers berühmte Definition von "Politik als Beruf" als "ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich", bietet die politische Vita von Hans-Dietrich Genscher dafür ebenso reiches wie eindrucksvolles Anschauungsmaterial.

Zitierweise: Jürgen Frölich, Taktisch versierter Pragmatiker und Visionär zugleich. Zum politischen Wirken von Hans-Dietrich Genscher (1927–2016), in: Deutschland Archiv, 19.5.2017, www.bpb.de/248082

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bernd Stöver, Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947–1991, München 2007, S. 422 u. 458.

  2. Gregor Schöllgen, Jenseits von Hitler. Die Deutschen in der Weltpolitik, Berlin 2005, S. 309.

  3. Vgl. dazu z. B. Elisabeth Noelle-Neumann und Renate Köcher (Hg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1984–1992, München u. a. 1993, S. 748 f, S. 769 f und Helmut R. Schulze und Richard Kiessler, Hans-Dietrich Genscher. Ein deutscher Außenminister, München 1990, S. 76 f sowie die Festschrift von Klaus Kinkel (Hg.), In der Verantwortung. Hans-Dietrich Genscher zum Siebzigsten, Berlin 1997.

  4. Robert Leicht, Hans-Dietrich Genscher, in: Hans Sarkowicz (Hg.), Sie prägten Deutschland. Eine Geschichte der Bundesrepublik in politischen Porträts, München 1999, S. 239–248, hier S. 240.

  5. So der US-amerikanische Botschafter Richard Burt, zitiert nach Hans-Dieter Heumann, Hans-Dietrich Genscher. Die Biographie, Paderborn 2012, S. 49.

  6. Zur Biografie vgl. zuletzt Heumann, Genscher (Anm. 5) sowie Werner Filmer und Heribert Schwan, Hans-Dietrich Genscher, Düsseldorf u. a. 1988 und – mit eindrucksvollen Bilddokumenten – Schultze und Kiessler, Genscher (Anm. 3) und nicht zuletzt Hans-Dietrich Genscher. Erinnerungen, München 1995.

  7. Vgl. Heumann, Genscher (Anm. 5), S. 23.

  8. Genscher, Erinnerungen (Anm. 6), S. 56.

  9. Hans-Dietrich Genscher, Thomas Dehler als liberaler Politiker, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik (Hg.), Thomas Dehler und seine Politik. Bonn 1998, S. 75–78.

  10. Peter Koch, Ein politischer Souffleur besteigt die Bühne, in: Süddeutsche Zeitung, 10.11.1965.

  11. Klaus Schwabe, Weltmacht und Weltordnung. Amerikanische Außenpolitik von 1898 bis zur Gegenwart, Paderborn 2006, S. 182.

  12. Zitiert nach Hans-Dietrich Genscher, Deutsche Ost-, Sicherheits- und Wiedervereinigungspolitik, in: liberal 8 (1966), S. 730–741, dort auch die folgenden Zitate.

  13. Vgl. Petri Hakkarainen, Realistische Entspannungspolitik, multilaterale Deutschlandpolitik. Der Weg zur KSZE-Schlußakte von Helsinki 1974–75, in: Kerstin Brauckhoff und Irmgard Schwaetzer (Hg.), Hans-Dietrich Genschers Außenpolitik. Wiesbaden 2015, S. 125–138, hier S. 126 f.

  14. Hans-Heinrich Jansen, Die ersten 20 Jahre der FDP – der Weg zur Dritten Kraft, in: Walter Scheel und Otto Graf Lambsdorff (Hg.), Freiheit in Verantwortung – deutscher Liberalismus seit 1945, Gerlingen 1998, S. 33–42, hier S. 37.

  15. Klaus Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition 1963–1969, Stuttgart/Wiesbaden 1984, S. 304.

  16. Klaus J. Bade, Hans-Dietrich Genscher, in: Walter L. Bernecker und Volker Dotterweich (Hg.), Persönlichkeit und Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Politische Porträts, Göttingen 1982, S. 145–154, hier S. 149.

  17. Robert K. Furtak, Genscher, Hans-Dietrich, in: Udo Kempf/Hans-Georg Merz (Hg.), Kanzler und Minister. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Wiesbaden 2001, S. 267–276, hier S. 269.

  18. Vgl. Jürgen Lorenz, Gefragt: Hans-Dietrich Genscher, Bornheim 1983, S. 37 f.

  19. Friedrich Karl Fromme, Ein Minister steigt um, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.4.1974.

  20. Agnes Bresselau von Bressensdorf, Frieden durch Kommunikation. Das System Genscher und die Entspannungspolitik im Zweiten Kalten Krieg 1979–1982/83, Berlin/Boston 2015, S. 4.

  21. Vgl. Heumann, Genscher (Anm. 5), S. 152.

  22. Wolfram Kaiser, Halle – New York – Halle: Hans-Dietrich Genscher, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 15 (2003), S. 223–242, hier S. 239.

  23. Vgl. Bresselau von Bressensdorf, Frieden (Anm. 20), S. 79.

  24. Vgl. Kaiser, Halle (Anm. 22), S. 240 f.

  25. Vgl. die Warnung bei Eckart Conze, Das Geheimnis des „Genscherismus“. Genese, Möglichkeiten und Grenzen eines außenpolitischen Konzepts, in: Brauckhoff und Schwaetzer (Hg.), Außenpolitik (Anm. 13), S. 67–83, hier S. 68 f.

  26. Vgl. Schöllgen, Jenseits (Anm. 2), S. 309.

  27. Vgl. Hakkarainen, Entspannungspolitik (Anm. 13), S. 133 f.

  28. Zitiert nach Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 435.

  29. Vgl. Andreas Wirsching, Die "deutsche Frage" als roter Faden in der Politik Hans-Dietrich Genschers, in: Brauckhoff und Schwaetzer (Hg.), Außenpolitik (Anm. 13), S. 245–261, hier S. 246.

  30. Hans-Dietrich Genscher, Bundestagsreden und Zeitdokumente, Bonn 1979, S. 92; vgl. Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, München 2000, S. 220–224.

  31. Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 588.

  32. Hans-Dietrich Genscher, Unterwegs zur Einheit. Reden und Dokumente aus bewegter Zeit, Berlin 1991, S. 101.

  33. Agnes Bresselau von Bressensdorf, Liberale Europapolitik? Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und der Weg zu Einheitlichen Europäischen Akte (1981–1986), in: Brauckhoff und Schwaetzer (Hg.), Außenpolitik (Anm. 13), S. 173–191, hier S. 187.

  34. Genscher, Unterwegs (Anm. 32), S. 146.

  35. Schulze und Kiessler, Genscher (Anm. 3), S. 236, vgl. Schöllgen, Jenseits (Anm. 2), S. 335 u. 348.

  36. Vgl. Conze, Geheimnis (Anm. 25), S. 79.

  37. Vgl. Gerhard A. Ritter, Deutschland und Europa. Grundzüge der Außenpolitik Genschers 1989–1992, in: Brauckhoff und Schwaetzer (Hg.), Außenpolitik (Anm. 12), S. 209–241, hier S. 219 f.

  38. Genscher, Unterwegs (Anm. 32), S. 261.

  39. Siegfried Schieder, Liberalismus vs. Realismus. Der Versuch einer Einordnung des "Genscherismus" in die Theorie der internationalen Beziehungen, in: Brauckhoff und Schwaetzer (Hg.), Außenpolitik (Anm. 13), S. 41–66, hier S. 62.

  40. Max Weber, Politik als Beruf. München/Leipzig 1919, S. 66.

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Dr.; Studium der Geschichte, Hispanistik und Pädagogik in Bonn und Madrid, Mit-Herausgeber des "Jahrbuchs zur Liberalismus-Forschung", Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Stiftung Bundespräsident Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart, Referent für historische Liberalismus-Forschung und stellvertretender Leiter des Archivs des Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.