Der Mauerbau vom 13. August 1961 ist ein Ereignis, das sich im das Gedächtnis der Bevölkerung in Ost und West eingeprägt hat. Bekannt ist dagegen nicht, dass etwa zehn Monate später die DDR einen Warenkreditwunsch über drei Milliarden West-Mark an die Treuhandstelle für den Interzonenhandel herangetragen hat. Erst hat man Berlin geteilt, dann hat man beim "Klassenfeind" einen Kredit beantragt.
1. Der "Spiegel"-Bericht
Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" berichtet am 30. Mai 1962, dass bereits auf der Leipziger Frühjahrsmesse, Anfang März 1962, Ost-Berliner Wirtschaftsfunktionäre bei den Briten nach einem größeren Kredit angefragt hätten. Die aber hätten sich an die Devise gehalten: "Trade, not aid". Da habe, so "Der Spiegel", Walter Ulbricht sich entschlossen "zu einem letzten, verzweifelten Schritt: Gegen Ende März wurde dem westdeutschen Handelstreuhänder [Kurt] Leopold in Westberlin jener Kreditantrag zugestellt".
Diese "kapitalistische Entwicklungshilfe" sollte die DDR-Planwirtschaft sanieren; denn 1961 ging die industrielle Produktion von geplant 7,2 Prozent auf 5,7 Prozent zurück, die landwirtschaftliche Produktion sank wegen der schlechten Ernte und der Zwangskollektivierung und schließlich hatte China seine Lieferungen gestoppt und die Sowjetunion ihre Kredite eingeschränkt. "Ulbricht bezifferte außerdem den durch die Massenflucht seiner Arbeiter und Bauern bis zum 13. August 1961 verursachten
Plakat des Bonner Büros für gesamtdeutsche Hilfe zur Aktion "Dein Päckchen nach drüben", 1962 (© Bundesarchiv, Plak 005-048-043)
Plakat des Bonner Büros für gesamtdeutsche Hilfe zur Aktion "Dein Päckchen nach drüben", 1962 (© Bundesarchiv, Plak 005-048-043)
Verlust auf mindestens 30 Milliarden Mark" (offensichtlich sind Ost-Mark gemeint).
Bei dem von Ost-Berlin gewünschten Kredit handelte es sich um einen Warenkredit zu günstigen Bedingungen – langfristig und zinsgünstig – für Lieferungen aus der Bundesrepublik. Die DDR wünschte Industrieausrüstungen, Kohle und Lebensmittel, daher die Bezeichnung "Warenkredit".
Mit diesem Kreditantrag hat sich – auf der Grundlage von Ausarbeitungen und Stellungnahmen des Bundesministeriums für Wirtschaft – das Bundeskabinett am 30. Mai 1962 befasst.
2. Die Stellungnahmen des Bundeswirtschaftsministeriums
Die Federführung in der Behandlung des Ost-Berliner Kreditwunsches lag beim Bundesministerium für Wirtschaft, das sich mit den anderen Ressorts abstimmte. Bei den Vorlagen für die Sitzung des Bundeskabinetts am 30. Mai 1962 handelt es sich einmal um einen Vorentwurf ("Wünsche der SBZ auf Abschluß eines Warenkreditabkommens mit der Treuhandstelle für den Interzonenhandel", ohne Datum und ohne Unterschrift, sieben Seiten) und um den Entwurf eines Briefes an den Staatssekretär des Bundeskanzleramtes mit dem gleichen Betreff (drei Seiten, gleichfalls ohne Datum). Beide Papiere, die der seinerzeit üblichen Diktion folgen und deshalb die DDR grundsätzlich nur "Sowjetische Besatzungszone" (SBZ) nennen, unterlagen der Einstufung als Geheime Verschlusssache (VS Geheim).
Der Vorentwurf ist in die Abschnitte politische und wirtschaftliche Gesichtspunkte, die Vorschläge über landwirtschaftliche Erzeugnisse und die finanziellen Gesichtspunkte gegliedert.
Die Übersicht der Warenwünsche der DDR stammt aus dem Entwurf das Briefes an den Staatssekretär des Bundeskanzleramtes:
Warenwünsche der DDR
1. Bezug von jährlich 3 Mio. t Steinkohle und Koks auf 10 Jahre = 30 Mio. t: 2,550 Mrd. DM
2. Bezug von Maschinen und industriellen Ausrüstungen: 0,500 Mrd. DM
3. Bezug von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Chemikalien, Textilien und anderen Gütern: 0,065 Mrd. DM
Insgesamt: 3,115 Mrd. DM
Die Ressorts waren aus politischer Sicht übereinstimmend der Auffassung, dass zu prüfen sei, ob durch die gewünschte Kreditvereinbarung die Position der DDR gestärkt oder geschwächt und ob die DDR eine starke wirtschaftliche Bindung mit der Bundesrepublik eingehen würde; dann würde dem Interzonenhandel wieder eine größere Bedeutung im Hinblick auf die Sicherung des Berlin-Verkehrs zukommen.
Unter diesem Gesichtspunkt sei der Kohlenvorschlag negativ zu beurteilen, da die DDR die Kohlenbezüge auf den Ostblock umstellen könnte. Im Übrigen könnte eine plötzliche Unterbrechung der Kohlenlieferung dem westdeutschen Steinkohlenbergbau Schwierigkeiten bereiten. Der Maschinenvorschlag sei anders zu bewerten, da die DDR nicht kurzfristig die Unterbrechung der westdeutschen Lieferungen durch östliche oder westliche Lieferungen ersetzen könnte. Allerdings müsste vermieden werden, dass die DDR mit den westdeutschen Investitionsgütern eigene Maschinen herstelle, um die "Störfreimachung" ihrer Wirtschaft zu erreichen. Der zusätzliche Bezug von landwirtschaftlichen Erzeugnissen sei unter humanitären Gesichtspunkten zu beurteilen.
Aus politischer Sicht – so schlug das Bundeswirtschaftsministerium vor – sollte geprüft werden, ob der DDR überhaupt Kredite bewilligt werden sollen; denn die westdeutsche Bevölkerung hätte kein Verständnis dafür, der DDR "Entwicklungshilfe" zu gewähren, auch außenpolitisch – etwa von Seiten der NATO – könnten Bedenken geltend gemacht werden.
Dann folgt eine detaillierte Einzelbewertung der wirtschaftlichen Gesichtspunkte: Die DDR habe jährlich rund acht Millionen Tonnen Steinkohle und rund 2,5 Millionen Tonnen Koks vornehmlich aus der Sowjetunion und aus Polen importiert, aus der Bundesrepublik 1960 etwa 450.000 Tonnen und 1961 nur 235.000 Tonnen. In zehn Jahren sollen 30 Millionen Tonnen Steinkohle im Wert von 2,55 Milliarden DM in die DDR geliefert werden. Angesichts der schwierigen Absatzlage dürfte der westdeutsche Steinkohlenbergbau an erhöhten Lieferungen interessiert sein; ob er aber sich für zehn Jahre verpflichten kann, wäre zu prüfen.
Entscheidend sei aber die Finanzierung: Ost-Berlin habe angeboten, Mineralölerzeugnisse in jährlichen Raten von 150 Millionen DM von 1967 bis 1983 zu liefern. Aber das Bundeswirtschaftsministerium meldete Bedenken an: Die DDR liefere ausschließlich Hydrierware und erziele hohe Erlöse, da diese zollfrei importiert werde. Auf Grund der Vertrages über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) müsse auch die Hydrierware ab 1964 mit hohen Einfuhrzöllen belegt werden. Um die bisherigen Erlöse in Höhe von 170 Millionen DM zu erzielen, müsste die DDR die bisherige Liefermenge verdoppeln. Es sei zweifelhaft, ob diese erhöhte Menge vom Markt in der Bundesrepublik aufgenommen werde.
Unterstellt, die Rückzahlung des Kredites sollte ausschließlich durch die Lieferung von Braunkohlenbriketts erfolgen, dann müsste die DDR von 1967 bis 1983 jährlich rund fünf Millionen Tonnen liefern, die erheblich über den bisherigen Liefermengen lägen und nicht abzusetzen wären. Auf Grund der Erfahrungen aus der Vergangenheit müsse damit gerechnet werden, dass die DDR aus irgendwelchen Gründen ihren Lieferpflichten nicht nachkomme, was zu Problemen in der Bundesrepublik führen würde.
Hinsichtlich der Lieferung von Maschinen und industriellen Ausrüstungen im Wert von einer halben Milliarde DM in die DDR kam das Wirtschaftsministerium zu folgendem Schluss: Die DDR habe 1960 für rund 250 Millionen DM Maschinen und elektrotechnische Ausrüstungen im Interzonenhandel gekauft. Nachdem die Bundesrepublik "vorsorglich" das Berliner (Interzonenhandels-)Abkommen im Herbst 1960 gekündigt hatte, sei von der politischen Führung der DDR die "Aktion Störfreimachung" befohlen worden, die DDR bemühte sich, sich aus der wirtschaftlichen Bindung an die Bundesrepublik zu lösen. Folglich habe sie aus dem Jahreskontingent 1961 im Interzonenhandel in Höhe von 200 Millionen DM nur 120 Millionen ausgenutzt; für 1962 werde ein weiterer Rückgang erwartet. Im Übrigen habe die DDR mit französischen Firmen ein Kompensationsgeschäft abgeschlossen und stehe mit britischen und holländischen Firmen in Verhandlungen. Allenfalls könnte geprüft werden, das Kontingent des Interzonenhandelsabkommens auszuschöpfen und – falls dieses nicht ausreiche – eine Erhöhung des Kontingents zu vereinbaren.
Ost-Berlin habe signalisiert, die landwirtschaftlichen Erzeugnisse (30 Millionen DM), Chemikalien (20 Mio.) und Textilien (15 Mio.) sofort zu beziehen und im übernächsten Jahr mit ihren Lieferungen im Rahmen des Interzonenhandels zu verrechnen.
Im letzten Abschnitt des Vorentwurfes wird auf die finanziellen Gesichtspunkte eingegangen: Offensichtlich sei die westdeutsche Wirtschaft nicht bereit, die von Ost-Berlin gewünschten Lieferungen selbst zu kreditieren. Eine Finanzierung aus Bundesmitteln komme jedoch angesichts der Haushaltslage nicht in Frage, allenfalls käme höchstens eine Bundesgarantie für den von der Wirtschaft zu beschaffenden Kredit in Betracht. Die Gewährung von Bundesgarantien würde schwierige Fragen im Bundesministerium der Finanzen aufwerfen, dies gelte insbesondere für die langfristigen Kohle- und Maschinenlieferungen. Außerdem müsste das Finanzministerium eine Art Ausfallbürgschaft für den Fall übernehmen, dass die DDR nicht zahlen könnte.
Der Vorentwurf ist insgesamt von großer Skepsis geprägt, die im Entwurf des Briefes an den Staatssekretär des Bundeskanzleramtes noch stärker zum Ausdruck kommt. Daher werden einige Sachverhalte aus dem Vorentwurf des Bundeswirtschaftsministeriums wörtlich oder sinngemäß wiederholt, im Folgenden aber nicht erneut wiedergegeben.
3. Der Brief an den Staatssekretär des Bundeskanzleramtes
Einleitend wird in dem Brief angemerkt: "Der für den Interzonenhandel zuständige Delegationsleiter der DDR hat in den laufenden Besprechungen mit der Treuhandstelle für den Interzonenhandel vertraulich den Wunsch vorgebracht, über den Abschluß mehrerer Kreditabkommen zu verhandeln."
Kurt Leopold (3.v.l.), Leiter der Treuhandstelle für den Interzonenhandel, und Heinz Behrendt (2.v.l.), Leiter der Hauptabteilung Innerdeutscher Handel im Ministerium für Aussenhandel und Innerdeutschen Handel, unterzeichnen am 16. August 1960 in Berlin Vereinbarungen für den innerdeutschen Handel (© Bundesarchiv, Bild 183-75520-0001; Foto: Bube)
Kurt Leopold (3.v.l.), Leiter der Treuhandstelle für den Interzonenhandel, und Heinz Behrendt (2.v.l.), Leiter der Hauptabteilung Innerdeutscher Handel im Ministerium für Aussenhandel und Innerdeutschen Handel, unterzeichnen am 16. August 1960 in Berlin Vereinbarungen für den innerdeutschen Handel (© Bundesarchiv, Bild 183-75520-0001; Foto: Bube)
Dieser Satz ist deshalb von Bedeutung, weil "Der Spiegel" in dem eingangs zitierten Bericht den Eindruck erweckt hatte, dass Anfang März 1962 "dem westdeutschen Handelstreuhänder [Kurt] Leopold in West-Berlin jener Kreditantrag zugestellt" worden sei. Tatsächlich aber handelte sich offensichtlich nicht um einen formellen (schriftlichen) Kreditantrag, sondern um eine verbales Vorfühlen, um unter Umständen den Rückzug antreten zu können. Das entspricht den diplomatischen Gepflogenheiten.
Der Briefentwurf befasst sich mit dem Steinkohle- und Koksbezug, mit dem Bezug von Maschinen und industriellen Ausrüstungen sowie der Lieferung landwirtschaftlicher Produkte, sodann mit den politischen, den wirtschaftlichen und schließlich mit den finanziellen Gesichtspunkten.
Beim Bezug von Steinkohle und Koks soll es sich zu zwei Drittel um Kohle für den Betrieb der ostdeutschen Reichsbahn und zu einem Drittel um Kohle und Koks für die Stahlerzeugung handeln. Der Kredit, der im 1971 seinen Höchststand mit etwa 1,7 Milliarden DM erreichen würde, solle bis 1983 abgedeckt sein. Der Kredit solle verzinst werden, ein Zinssatz wird nicht genannt. Im Übrigen sei Ost-Berlin auch damit einverstanden, dass die Kohle- und Kokslieferung geringer als drei Millionen Tonnen jährlich ausfalle.
Die DDR möchte neben dem Interzonenhandelsabkommen Maschinen und industrielle Ausrüstungen im Wert von 500 Millionen DM kaufen. Als Kreditabkommen wurde von der DDR vorgeschlagen:
1962 für Anlauf- und Projektionskosten 25 Millionen DM,
1963 zur Bezahlung von Maschinenlieferungen aus der Bundesrepublik 275 Millionen DM und
1964 zu demselben Zweck 200 Millionen DM.
Die Rückzahlung des Kredites solle in Jahren 1965–1972 (richtig wäre: 1983) durch Warenlieferungen erfolgen, wobei in den ersten Jahren die Zinsen für den Kredit erstattet würden. Allerdings hätten die Vertreter der DDR bisher noch keine Waren zur Abdeckung des Kredites nennen können.
Der Bezug von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und anderen Produkten solle nur 65 Millionen DM betragen. Die Vertreter Ost-Berlins planten, die Rückzahlung im nächsten und im übernächsten Jahr aus ihren laufenden Interzonenhandelslieferungen vorzunehmen.
Die politischen Gesichtspunkte sind von entscheidender Bedeutung. Hierzu heißt es in dem Briefentwurf: "Die Ressorts sind der Auffassung, daß die Vorschläge der DDR in erster Linie unter politischen Gesichtspunkten zu prüfen sind. Die Gewährung eines Kredites an die DDR in einer Größenordnung ca. 3,1 Mrd. DM würde bei der Bevölkerung in beiden Teilen Deutschlands nur dann auf Verständnis stoßen, wenn die Stellen der DDR dafür große politische Zugeständnisse machen, wie z.B. Fortfall der Mauer und die Gewährung eines freien Personenverkehrs in Berlin. Mit solchen Zugeständnissen ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu rechnen. Die Resssorts sind deshalb der Meinung, daß gegebenenfalls nur eine Erweiterung des Interzonenhandelsabkommens in einem wesentlich geringerem Rahmen ins Auge gefaßt werden kann. Da die DDR nicht in der Lage ist, zusätzliche Lieferungen der Bundesrepublik sofort mit Geld oder vermehrten Gegenlieferungen zu bezahlen, käme als finanzielle Überbrückung nur eine Erhöhung der Swingbeträge als Verrechnungskonten in Frage".
Die Vorschläge der DDR seien – so heißt es weiter – daraufhin zu prüfen, ob die Position der Bundesrepublik gegenüber der DDR gestärkt werde, ob also die DDR eine starke Bindung eingehen und der Interzonenhandel wieder eine größere Bedeutung im Zusammenhang mit der Sicherung des Berlin-Verkehrs (Junktim Interzonenhandel/Berlin-Verkehr) bekommen würde.
Auf die wirtschaftlichen Gesichtspunkte soll nicht eingegangen werden, da der Brief hier weitestgehend die Passagen des Vorentwurfes wiederholt. Aus politischer Sicht wird in diesem Zusammenhang noch auf Folgendes hingewiesen: Zur Erhöhung des Swingbetrages um insgesamt 150 Millionen DM werde die Deutsche Bundesbank nur bereit sein, wenn der Bundesfinanzminister eine Garantie übernehme, da die Swingerhöhung ein versteckter Kredit sei. Der Kohlevorschlag sei negativ zu beurteilen, da die DDR ihren Kohlebezug auf den Ostblock oder andere Länder umstellen könnte. Der Maschinenvorschlag sei dagegen positiv zu bewerten, weil die DDR hiermit eine stärkere Bindung eingehen würde, die nicht kurzfristig unterbrochen werden könne. Der Bezug landwirtschaftlicher Erzeugnisse sei aus humanitärer Sicht interessant, sofern die Güter der Versorgung der "mitteldeutschen Bevölkerung" dienten.
Schließlich wird im Abschnitt "Finanzielle Gesichtspunkte" der Beschluss der Ressorts dem Bundeskabinett zur Entscheidung vorgelegt:
"1. Sollte in der gegenwärtigen politischen Lage die Gewährung finanzieller Erleichterungen, gleichgültig in welcher Art, nicht in Betracht kommen, sind alle drei Vorschläge SBZ abzulehnen mit der Maßgabe, daß in der NATO ein gemeinsamer Beschluß über ein gemeinsames Vorgehen aller NATO-Mitglieder herbeigeführt werden soll.
2. Falls keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Gewährung finanzieller Erleichterungen gegenüber der SBZ bestehen und die Vorschläge der DDR in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Stärkung des Interzonenhandelsabkommens und der Position der Bundesrepublik im Zusammenhang mit der Sicherung des Berlin-Verkehrs zu entscheiden sind", sollten der Kohlenvorschlag abgelehnt werden, Verhandlungen mit der DDR über die Lieferung von Investitionsgüter im Wert von 250 (statt 500) Millionen DM aufgenommen werden, Verabredungen mit der DDR geführt werden über landwirtschaftliche Erzeugnisse im Wert von 50 Millionen DM bei gleichzeitiger Swingerhöhung um denselben Betrag. Schließlich sollte der Swing um insgesamt 150 Millionen DM aufgestockt werden, sofern der Bundesbank eine Bundesgarantie gewährt würde.
4. Die Kabinettssitzung am 30. Mai 1962
Unter Punkt 7 behandelte das Bundeskabinett unter Tagesordnungspunkt "Wunsch der SBZ auf Abschluß von Warenkreditabkommen mit der Treuhandstelle für den Interzonenhandel".
Offensichtlich hat das Kabinett keinen Beschluss gefasst, und offensichtlich haben die Unterhändler der DDR aus den Gesprächen mit der Treuhandstelle für den Interzonenhandel den Eindruck gewonnen, dass die Kreditgewährung an substanzielle politische Bedingungen geknüpft sein würde. Damit war der Warenkredit über 3,1 Milliarden DM erledigt.
5. Wertung der Verhandlungen über den Warenkredit
Mit einem Abstand von einem halben Jahrhundert soll nun eine Wertung des Warenkreditwunsches der DDR versucht werden. Dabei ist einerseits die Position der DDR und andererseits die der Bundesrepublik zu unterscheiden. Zunächst ist deshalb zu fragen:
Warum hat die DDR den Warenkredit nachgesucht?
Warum hat Ost-Berlin nicht um einen Kredit bei den sozialistischen Bruderländern – insbesondere der Sowjetunion –, sondern beim "Klassenfeind", der Bundesrepublik, nachgesucht? Offensichtlich hatten auch die Bruderländer Devisenengpässe und die harte Währung für die eigene Wirtschaft benötigt. Wie aus dem eingangs zitierten "Spiegel"-Bericht ersichtlich, hat die DDR bei den Briten nachgefragt, die indes nur an Wirtschaftsbeziehungen, nicht aber an "Entwicklungshilfe" interessiert waren. So blieb nur noch die Bundesrepublik als Kreditgeber.
Ost-Berlin muss sich dessen bewusst gewesen sein, dass etwa zehn Monate nach dem Mauerbau die Stimmung gegenüber der DDR sowohl in West-Berlin als auch im Bundesgebiet gereizt war. Der Mauerbau wurde hier als unfreundlicher Akt empfunden, und man war nicht bereit, den 'Maurermeistern' eine freundliche Hilfe zu gewähren. Dies dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass keine "reine" Kredithilfe, sondern ein Warenkredit vorgeschlagen wurde; schließlich war zudem bekannt, dass der westdeutsche Steinkohlebergbau mit Absatzproblemen zu kämpfen hatte. Die DDR hat ihren Kredit verpackt und das eigene Interesse mit dem der Bundesrepublik kaschiert.
Die DDR hat öffentlich nie zugegeben, dass sie bis zu ihrem Untergang permanent unter Devisenmangel litt. Daher hat Ost-Berlin argumentiert, die DDR habe die Ausbildungskosten für die qualifizierten, in den Westen abgewanderten Fachkräfte getragen, während die Bundesrepublik mit den "Republikflüchtlingen" bzw. freigekauften Häftlingen die "Ernte einfahre"; es hat sogar Berechnungen gegeben, in welchem Umfang dadurch das Bruttoinlandsprodukt im Westen gestiegen sei. Mit dem Warenkreditwunsch zu günstigen Konditionen sollte – unausgesprochen – die Bundesrepublik die Ausbildungskosten zumindest teilweise erstatten. Dabei habe die DDR, so zitiert "Der Spiegel" Walter Ulbricht, einen Verlust von mindestens 30 Milliarden (Ost-?)Mark erlitten.
Alexander Schalck-Golodkowski, 1988 (© Bundesarchiv, Bild 183-1988-0317-312; Foto: Eva Brüggmann)
Alexander Schalck-Golodkowski, 1988 (© Bundesarchiv, Bild 183-1988-0317-312; Foto: Eva Brüggmann)
Der Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung (KoKo) in Ost-Berlin, Alexander Schalck-Golodkowski, hat nach 1989 aus seiner Sicht die "Republikflucht" kritisiert und den Freikauf der DDR-Häftlinge ausschließlich unter ökonomischen Aspekten betrachtet und darauf aufbauend Forderungen gegenüber der Bundesrepublik geltend gemacht. Diese hat er wie folgt begründet: "Für mich war die DDR der bessere [deutsche] Staat, und ich sah in einem Ausreisewunsch auch einen Akt der Undankbarkeit. Ich konnte für die, welche die DDR verlassen wollten, kein Verständnis aufbringen. In meiner Funktion habe ich diese Vorgänge vornehmlich unter politischen und volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet. Unter denen, die es in die Bundesrepublik drängte, waren viele gut ausgebildete Ärzte, Ingenieure, Facharbeiter und andere qualifizierte Werktätige. Jeder Bürger, der über die Grenze ging, stellte für unsere Gesellschaft einen volkswirtschaftlichen Verlust dar. Der Verlust war umso größer, je beruflich qualifizierter der Betreffende war, je mehr also die DDR in seine Ausbildung investiert hatte". Schalck-Golodkowski zeigte sich "davon überzeugt, daß wir die einzig richtige Politik machten."
Offensichtlich hat die DDR die emotionale Lage nach dem Mauerbau in West-Berlin und in der Bundesrepublik unterschätzt und geglaubt, die vorgeschlagene zehnjährige Kohlelieferung würde die Emotionen im Interesse des westdeutschen Bergbaus dämpfen. Aber die Bundesrepublik hat weniger ökonomisch denn politisch gedacht und den DDR-Antrag scheitern lassen, sodass Ost-Berlin den Rückzug antreten musste.
Die ökonomische und politische Position der Bundesregierung
Die Behandlung des informellen Antrages auf Gewährung eines Warenkredites wurde innerhalb der Bundesregierung unter der Federführung des Bundeswirtschaftsministeriums beraten und formuliert. Diese Beratungen mündeten in einen Vorentwurf ein, der vornehmlich aus wirtschaftlicher Sicht formuliert war,
die politischen Gesichtspunkte spielten noch keine dominierende Rolle. In dem Entwurf an den Staatssekretär des Bundeskanzleramtes gewannen die politischen Argumente an Gewicht, um in der Kabinettssitzung letztlich politisch behandelt zu werden.
Offensichtlich hatte das Bundeswirtschaftsministerium ökonomische Bedenken: Eine zehnjährige Kohle- und Kokslieferung wurde als problematisch angesehen, da die DDR unerwartet die Abnahme stoppen und den westdeutschen Kohlebergbau in Schwierigkeiten bringen konnte; dagegen wurde die Lieferung von Maschinen positiv bewertet. Das Wirtschaftsministerium war sich zudem nicht schlüssig, ob und wie die DDR den Kredit zurückzahlen wolle bzw. könne. Angeblich sollte der Warenkredit verzinst werden, ein Zinssatz wurde aber nicht genannt; man kann nur vermuten, dass es sich um einen relativ günstigen, gewissermaßen "sozialen" Zinssatz gehandelt haben dürfte.
Im Entwurf an den Staatssekretär des Bundeskanzleramtes stehen die politischen Argumente im Vordergrund: Hier sind gegenüber dem Vorentwurf die politischen Forderungen wesentlich hochgeschraubt worden, es wurde sogar der Fortfall der Mauer und die Gewährung eines freien Personenverkehrs verlangt. Selbst in Bonn war man der Ansicht, dass "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" die DDR diese Kreditbedingungen nicht erfüllen würde und auch nicht erfüllen könne. Es war undenkbar, dass man mit Zustimmung der Sowjetunion die Mauer errichtete, um sie dann nach etwa einem Jahr für eine Gegenleistung von 3,1 Milliarden DM wieder abzureißen. Hier ist zu fragen, warum Bonn so hoch gepokert hat. Man darf vermuten, dass die Bundesregierung aus ökonomischen Gründen dieses Warenkreditgeschäft nicht abschließen, aber ein glattes Nein vermeiden wollte. Mittels unerfüllbarer Bedingungen für die Vergabe des Warenkredites wurde zudem Ost-Berlin der Rückzug eröffnet.
Die DDR-Führung hat den Warenkredit nicht schriftlich beantragt, sondern vertraulich ins Gespräch gebracht. Offensichtlich hat es wiederholt zwischen Ost und West Erörterungen gegeben – leider sind keine Namen der Verhandlungspartner genannt –, in denen die Vertreter der Treuhandstelle für den Interzonenhandel weisungsgemäß die Bonner Position vertraten, welche die DDR-Vertreter diese an ihre Regierung weiterleiteten. Als in Ost-Berlin deutlich geworden war, dass das Bundeskabinett die politische Position über die der Ökonomie stellen werde, hat man erklären lassen, dass man keinen Kredit beantragt, sondern Warenlieferungen angestrebt habe. Das allerdings entsprach nicht in Gänze der Wahrheit; denn mit der Warenlieferung waren auch Kredite verbunden.
Es ist offensichtlich, dass Ost-Berlin die politische und die emotionale Dimension des Mauerbaues unterschätzt hat. Offenbar glaubte sie, dass mit der langfristigen Kohleabnahme die Emotionen in West-Berlin und in der Bundesrepublik besänftigt werden könnten. Damit saßen sie einer eklatanten Fehleinschätzung der Stimmung in West-Berlin und in Bundesrepublik auf, wo man nicht bereit war, für ein Warengeschäft die gesamtdeutsche Position zu "verkaufen".
6. Der Freikauf der DDR-Häftlinge – ein Ersatzgeschäft?
Zwar war mit dem unterbliebenen Kabinettsbeschluss das Warenkreditgeschäft gestorben. Es erscheint aber plausibel, dass man innerhalb der Ost-Berliner Nomenklatura darüber nachgedacht hat, wie man an Devisen gelangen könnte, ohne existenzbedrohende politische Bedingungen in Kauf nehmen zu müssen. Bei diesen Überlegungen ist offenbar irgendjemand auf die Idee gekommen, (politische) Häftlinge gegen materielle Leistungen der Bundesrepublik freizulassen. Für die folgenden Argumente gibt es keine Belege, wohl aber plausible Überlegungen.
Der West-Berliner Rechtsanwalt Jürgen Stange – der auch nach dem Mauerbau in den Ostsektor von Berlin einreisen durfte – hatte Kontakt zu dem Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Stange brachte gegen Ende 1962 "die Nachricht mit, daß die DDR bereit sei, in größerem Umfang politische Häftlinge gegen materielle Leistungen freizulassen."
Gegenüber dem Warenkredit hatte der Freikauf für die DDR Vorteile und Nachteile: Die Vorteile bestanden darin, dass Ost-Berlin keine politische Forderungen erfüllen musste. Im Gegenteil: Die DDR konnte sich als humanitärer Staat gerieren, indem sie politische Häftlinge – gegen Devisen – freigab. Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass die DDR keine Zinsen zahlen musste und möglichen Schwierigkeiten bei der Rückzahlung entging. Diesen Vorteilen stand als Nachteil gegenüber, dass der geldwerte Vorteil der Warenlieferung nicht kurzfristig, sondern nur in den jährlichen Freikaufraten zur Verfügung stand.
Das Zustandekommen des Häftlingsfreikaufs mag Zufall sein, doch lag nicht nur eine zeitliche Koinzidenz, sondern auch eine Übereinstimmung in den verhandelten Summen vor: Das Warenkreditgeschäft sollte ein Volumen von 3,1 Milliarden DM haben, und für 31.775 freigekaufte Häftlinge hat Bonn zwischen 1963 und 1989 3,399 Milliarden DM gezahlt. Humanitär war es ein gutes Geschäft für die Bundesrepublik, finanziell für die DDR.
Obwohl es für die These, dass der Freikauf ein Ersatzgeschäft für den Warenkredit gewesen sei, keine Belege gibt, sprechen etliche Indizien dafür, dass diese Überlegungen einige Plausibilität für sich beanspruchen können.