Wege in die Opposition. Widerständiges Verhalten in der DDR
Im gesamten Zeitraum zwischen 1945 und 1989 gab es in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR widerständiges Verhalten, dessen Motivation und Intensität sich im Laufe der Jahre aber mehrfach wandelte. Fundamentale Opposition dominierte am Anfang. Später herrschte eine reformorientierte Kritik vor. Sehr viele Oppositionelle hofften bis zum Herbst 1989 auf die Reformierbarkeit des sozialistischen Systems."Doch irgendwann stand dann die Entscheidung an, entweder aktiv mitzumachen oder weiter vom 'sicheren Hafen' aus zuzusehen. Das wollte ich nicht mehr, obwohl ich mich nicht gern in die erste Reihe drängele – ich bin kein Kämpfertyp (…) Doch nun hielt es mich nicht mehr zu Hause. Das war wie ein Zwang."[1] Am 7. Oktober 1989 entschied sich Pfarrer Martin Kind erstmals, an den seit Wochen in Leipzig stattfindenden Demonstrationen teilzunehmen und nicht mehr nur den Studenten des Theologischen Seminars, an dem er tätig war, zu helfen, die seelischen Belastungen nach polizeilichen Zuführungen und Verhaftungen aufzuarbeiten.
Er wollte mit seiner Person für gesellschaftliche Veränderungen einstehen, wurde Mitglied im "Neuen Forum" und (wenig später) sogar einer seiner Sprecher in Leipzig. Er trat aus seinem eigenen Schatten heraus und ging in aktive Opposition zu den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR – wie Andere vor ihm, in den viereinhalb Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft im Osten Deutschlands, von der Bildung der Sowjetischen Besatzungszone 1945 bis zum Sturz der DDR durch eine friedliche, demokratische Revolution im Herbst 1989. Zuerst waren es nur wenige Mutige, die gegen die allgewaltige SED und ihre sowjetische Schutzmacht zu opponieren wagten und viel dabei riskierten; lange bevor im Herbst 1989 große Teile der Bevölkerung öffentlich Widerspruch erhoben gegen den gesellschaftlichen Zustand des Landes. Immer aber waren es Menschen verschiedener Weltanschauungen und mit unterschiedlicher Motivation, die sich im Verlauf der 45 Jahre dazu entschlossen haben, nicht mehr zu schweigen. Zugleich waren die von ihnen gewählten Formen widerständigen Verhaltens ebenso dem Wandel unterworfen, wie der Staat, auf den sie sich bezogen.[2] Betrachtet man den gesamten Prozess in seiner zeitlichen Abfolge, so stand in der zweiten Hälfte der 1940er bis Mitte der 1950er Jahre der verdeckte Widerstand – geprägt durch eine immer grundsätzlicher werdende Ablehnung der SED-Herrschaft und (ab Ende 1949) auch des Staates DDR – im Mittelpunkt widerständigen Verhaltens. Beginnend mit Stalins Tod im März 1953 wurde die reformorientierte Kritik am DDR-Sozialismus – bis weit in die 1980er Jahre hinein – zum bestimmenden Tenor des Dissens‘. Wichtige Stimmen dieser Kritik kamen vornehmlich (aber nicht ausschließlich) aus den Reihen der SED selbst. Öffentlichkeit erhielten sie zumeist nur über den "Umweg" der Medien im Westen Deutschlands.
Dies ging auch den oppositionellen Bewegungen so, die gezielt Veränderungen in einzelnen Gesellschaftsbereichen herbeiführen wollten. Sie bildeten sich in der DDR – stimuliert durch entsprechende Vorreiter in der CSSR und Polen – erst in den 1980er Jahren heraus. Doch verfolgten auch sie bis weit in den Herbst 1989 hinein hauptsächlich reformorientierte Ansätze. Die Macht der SED grundsätzlich in Frage zu stellen, wagten sie erst nach dem Fall der Mauer. Denn die SED-Führung versuchte stets alle Ansätze von Widerstand, Reformsozialismus und Opposition mithilfe eines aufgeblähten Repressionsapparates kategorisch zu unterbinden, um die von ihr diktatorisch ausgeübte Vorherrschaft zu sichern. Gelungen ist es ihr – dies sei vorab festgestellt – nie ganz; auch wenn man für den gesamten, zu betrachtenden Zeitraum sowohl Phasen eines stärkeren als auch eines schwächeren widerständigen Verhaltens ausmachen kann. Deutlich zu erkennen ist ebenso eine mit den Jahren wachsende Vielfalt an Formen des zivilen Ungehorsams gegenüber den Allmacht-Ansprüchen der SED, die vorgab, ihre Diktatur im Auftrag des Proletariats auszuüben, stets aber nur eine Diktatur zur Aufrechterhaltung der eigenen Herrschaft war. All dies kann im Rahmen dieses Beitrages nur grob umrissen und mit wenigen, prägnanten Beispielen belegt werden.
Verdeckter Widerstand in der SBZ und frühen DDR
In der Zeit vor der Gründung der DDR bestimmte die übermächtige Sowjetische Militäradministration (SMAD) nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch geheimdienstlich und juristisch die Geschicke der Ostdeutschen. Mit drakonischen Maßnahmen und Urteilen verdrängte sie nach und nach alle politischen Gegner der Kommunisten aus dem öffentlichen Leben. Etwa 150.000 Deutsche wurden von der SMAD in zehn "Speziallagern" gefangen gehalten, die sie ab Frühsommer 1945 auf dem Boden der SBZ errichtet hatte; infamer Weise zum Teil unter Nachnutzung von Konzentrationslagern der Nationalsozialisten.[3] Deren ehemalige Gefolgsleute zu internieren war ursprünglich Ziel dieser menschenverachtenden Einrichtungen. Unter den Zehntausenden, die dort verhungerten oder an (epidemischen) Krankheiten starben waren aber auch viele politische Gegner der KPD und SED: Politiker aus bürgerlichen Parteien, Sozialdemokraten, die sich gegen die (Zwangs-)Vereinigung mit den Kommunisten gewandt hatten, wie auch "Abweichler" aus den eigenen Reihen. Kurzum Menschen, die verdächtig erschienen, den Machtansprüchen der kommunistischen Partei im Wege zu stehen.Aber auch zahlreiche, politisch kaum in Erscheinung getretene Bürger gerieten aufgrund von Denunziationen in das Räderwerk der sowjetischen Besatzungsmacht, verschwanden in den Speziallagern und in den Gefängnissen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD oder wurden in Arbeitslager bis nach Sibirien verschleppt. Diejenigen Internierten, die all dies überlebten, waren danach unter Androhung strengster Strafen für sich und ihre Familien zum absoluten Schweigen über ihre Hafterlebnisse verpflichtet. Das galt auch für die zivilen Opfer von Übergriffen durch Soldaten der Roten Armee. Auch wenn also über den brutalen Restriktionen der neuen Machthaber der "Mantel des (Ver-)Schweigens" lag, war dennoch in der Bevölkerung die Angst vor den "verhaftenden, beschlagnahmenden, demontierenden und kontrollierenden Besatzungssoldaten" allgegenwärtig. Ein organisierter Widerstand konnte so nicht entstehen.[4]
Dagegen sprach aber auch die von vielen Deutschen tief empfundene historische Schuld, welche ihr Volk durch die Verbrechen des Nationalsozialismus an der Bevölkerung der Sowjetunion und den anderen, von ihnen überfallenen Völkern auf sich geladen hatte. "Gehemmt wurde der Widerstandswille" im Osten Deutschlands zugleich "durch den die (neue) Macht adelnden Antifaschismus", wie der Schriftsteller Günter de Bruyn in seinen Erinnerungen an die Jugend in der SBZ festhält.[5]
Den nominell stärksten Widerstand der Nachkriegszeit gab es seitens ostdeutscher Sozialdemokraten, die sich zu Tausenden – meist in illegalen Zirkeln – gegen die Vereinigung ihrer Partei mit der KPD aussprachen. Rund 6.000 von ihnen büßten ihren Widerspruch mit langjährigen Strafen in Gefängnissen und Arbeitslagern. Darunter viele, die bereits von den Nationalsozialisten wegen ihrer politischen Haltung inhaftiert worden waren.
Auch in den bürgerlichen Parteien wurde Kritik gegen eine politische Parallelisierung laut. Politiker, die den Widerspruch wagten – wie der Mitbegründer und erste Vorsitzende der Ost-CDU, Andreas Hermes, und deren zweiter Vorsitzender, Jakob Kaiser – wurden daraufhin, auf Druck der SMAD, aus ihren Parteiämtern und in die Emigration in den Westen gedrängt. Wesentlich brutaler ging die Besatzungsmacht gegen weniger namhafte Kritiker vor:[6] Der Student Wolfgang Natonek, Mitglied der Liberal Demokratischen Partei (LDP) und Vorsitzender des Studentenrates der Universität Leipzig, wurde 1949 wegen seiner Kritik an der Unterdrückung von Meinungsfreiheit in der SBZ zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, von denen er sieben Jahre abbüßen musste.[7] Den Rostocker Studenten Arno Esch, ebenfalls Mitglied der LDP, kostete sein öffentliches Eintreten gegen den Machtanspruch der SED und für Gewaltenteilung und Einhaltung der Bürgerrechte sogar das Leben. Noch von der SMAD verhaftet, wurde er 1950 zum Tode verurteilt und ein Jahr später in Moskau hingerichtet.[8]

Politische Prozesse waren nach Gründung der DDR an der Tagesordnung. "Allein im Jahre 1950 verurteilten die Gerichte […] 78.000 Angeklagte wegen politischer Delikte."[11] Daraus aber Rückschlüsse auf die tatsächliche Stärke des politischen Widerstandes in der jungen DDR zu ziehen, wäre sicher falsch. Vielmehr steht diese Zahl für das Bestreben der SED-Führung, durch die Instrumentalisierung der Justiz, aufkeimenden Widerstand von vornherein zu unterdrücken und damit ihre "politischen Ziele besonders nachdrücklich durchzusetzen."[12] Symptomatisch dafür sind die von April bis Juni 1950 im sächsischen Waldheim von einem Sondergericht im Schnellverfahren gefällten Urteile gegen 3.324 Häftlinge aus den aufgelösten sowjetischen Speziallagern. Im 30-Minuten-Takt wurden hier ohne rechtsstaatliche Verfahren Freiheitsstrafen von 15 bis 25 Jahren verkündet. 33 Häftlinge ereilte das Todesurteil, 24 davon wurden vollstreckt. Vorgeworfen wurden den Verurteilten, als überzeugte Nationalsozialisten (Kriegs-)Verbrechen begangen zu haben. Überwiegend waren es aber "Mitläufer, (frühe) Gegner des stalinistischen Systems und sogar zufällig Aufgegriffene. Die meisten waren seit 1945/46 interniert."[13] Ihre Verurteilung durch ein deutsches Gericht sollte die langen Lageraufenthalte nachträglich legitimieren.
Unter diesen lebensgefährlichen Bedingungen war organisierter Widerstand nur verdeckt möglich. Und doch fanden sich in diesen Jahren immer wieder kleine, regionale Gruppen von überwiegend jugendlichen Oppositionellen zusammen, die sich oft in der Widerstandstradition der "Weißen Rose" sahen,[14] um mit Flugblatt- und Störaktionen öffentlich auf das politische Unrecht in der DDR hinzuweisen. Sie wurden oft nach nur wenigen Widerstandsakten enttarnt und zu drakonischen Strafen verurteilt, wie die 19 Oberschüler, Lehrlinge und jungen Arbeiter aus dem sächsischen Werdau, die im Oktober 1950 durch das Verteilen von Flugblättern Kritik am Todesurteil gegen Hermann Joseph Flade und gegen die Manipulation der Volkskammerwahlen geübt hatten. Sie erhielten dafür insgesamt 130 Jahre Zuchthaus.
Eine andere jugendliche Widerstandsgruppe aus Altenburg bei Leipzig wollte mehr Menschen erreichen, als dies mit Flugblättern allein möglich war. Sie bauten einen Störsender. Damit überdeckten sie im Dezember 1949 die Ausstrahlung der Festansprache des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck zum 70. Geburtstag Josef W. Stalins. Statt der Elogen auf den großen Sowjetführer war – wenn auch nur für Minuten und regional begrenzt – im staatlichen Rundfunk zu hören: "Stalin ist ein Massenmörder!" und "Wir fordern freie demokratische Wahlen!" Diese Absage an das SED-Regime und seinen Ziehvater in Moskau kostete vier der mutigen Jugendlichen – Siegfried Flack, Ludwig Hayne, Wolfgang Ostermann und Joachim Näther – das Leben. Von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt, wurden sie im berüchtigten Gefängnis Butyrka in Moskau hingerichtet; wie 919 andere Deutsche auch.[15]

Reformorientierte Kritik in den 1950er bis 1980er Jahren
Auch in den Reihen der SED wurde der von der Parteiführung eingeschlagene Weg und die von ihr eingesetzten Methoden früh hinterfragt. Kritik kam sowohl von ehemaligen SPD-Mitgliedern als auch von aus der Emigration heimgekehrten Kommunisten und bürgerlichen Humanisten. Sie hatte der in der SBZ/DDR propagierte Antifaschismus in den Osten Deutschlands gezogen. Selbst im Parteiapparat fehlte es nicht an kritischen Stimmen von "Abweichlern und Ausweichlern."[20] So sprach sich der DDR-Justizminister Max Fechner am 30. Juni 1953 im Neuen Deutschland – mit Verweis auf das in der DDR-Verfassung verankerte Streikrecht – gegen eine Strafverfolgung der Arbeiter aus, die mit ihren Arbeitsniederlegungen den Volksaufstand vom 17. Juni ausgelöst hatten. Fechner (Sozialdemokrat seit 1910) wurde daraufhin als "Feind des Staates und der Partei" seines Amtes enthoben und aus der SED ausgeschlossen. 1955 verurteilte ihn das Oberste Gericht der DDR zu acht Jahren Zuchthaus. Abgesessen hat er davon aber nur ein knappes Jahr. Bereits 1958 wurde er erneut in die SED aufgenommen, um 1973 als hochdekorierter Antifaschist zu sterben.[21]Für viele Kritiker aus den eigenen Reihen führte der einmal eingeschlagene Weg der Dissidens jedoch nicht mehr zurück in den "Schoß der Partei", um deren Erneuerung willen sie angetreten waren. Die Liste ihrer Namen ist lang und reicht – um nur einige von ihnen zu nennen – von Rudolf Herrnstadt und Gerhart Ziller über Ernst Bloch, Robert Havemann, Walter Janka, Wolfgang Harich, Gustav Just bis zu Rudolf Bahro und Wolfgang Henrich.[22]
All ihr "Streben war darauf gerichtet", wie Robert Havemann noch 1978 bekannte, "die Politik der DDR positiv zu beeinflussen und weiterzuführen, um sie aus ihrer Sackgasse herauszubekommen."[23] Und sie waren sich sicher, dass die Ursache für das Dilemma der Partei und des Landes in der "kollektiven Selbstherrschaft einer Zentralbehörde" – in Gestalt des Zentralkomitees der SED – lag, die zur "inneren Gleichschaltung der Partei" und einer "Subalternität der (Volks-)Massen" geführt habe, wie Wolfgang Henrich 1989 in seiner Analyse des "vormundschaftlichen Staats" DDR betonte.[24]
Schon Rudolf Bahro hatte 1977 in seiner "Alternative" in diesem "Überstaatsapparat … die entscheidenden Entwicklungshemmnisse auf dem Weg zur weiteren Emanzipation des Menschen" gesehen. "Die Kommunisten sind in solchen Parteien gegen sich selbst und gegen das Volk organisiert."[25] Doch hielt die innerparteiliche Opposition diese Mängel lange Zeit noch für reparabel. So war sich Bahro sicher: "In der Stunde der Umgestaltung wird sich überall wie 1968 in der CSSR herausstellen, dass unter der harten Schale eine andere, neue Partei – wir müssen sagen: mindestens eine – auf ihre Entbindung gewartet hat."[26]
Zwar waren die Schriften von Havemann und Bahro, später auch die von Henrich, nur im Westen erschienen und damit für Leser in der DDR nur bedingt verfügbar, dennoch hatten sie "eine immense Wirkung auf die sich entwickelnde Opposition" im Lande.[27] Sie kursierten in wenigen, zerlesenen Exemplaren oder als mühsam mit der Schreibmaschine abgetippte Manuskripte unter Vertrauten und Freunden. Selbst wenn viele Vertreter nachwachsender Generationen mit dem Festhalten dieser Autoren am Sozialismusmodell nur noch wenig anfangen konnten, so fanden sie doch in deren Analyse und Kritik des real-existierenden Sozialismus ihre gesellschaftlichen Erfahrungen mit der DDR nachhaltig bestätigt.[28] Wirkung erzielte vor allem aber, dass sich Havemann und Bahro – anders als viele "SED-Renegaten" vor ihnen – weigerten, öffentlich "abzuschwören" und stattdessen ins Gefängnis gingen oder jahrelangen Hausarrest erduldeten. Das machte sie "zu Symbolfiguren eines allgemeinen Widerspruchs."[29] Gleiches galt in der DDR auch für kritische Schriftsteller, Künstler und Liedermacher – von Wolf Biermann bis Christa Wolf –, die "gerade jenen eine Brücke" bauten, "die sich an das sozialistische System gebunden fühlten, es aber für verbesserungsbedürftig hielten."[30]
Der Bedarf nach solch moralischem Rüstzeug wuchs vor allem nach der blutigen Niederschlagung des "Prager Frühlings" durch die Truppen des Warschauer Paktes im Sommer 1968. Der Traum vom demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz schien für viele damit endgültig gescheitert; ebenso die Hoffnung, der Sozialismus könne sich aus sich selbst heraus reformieren. Zu brutal hatten die "Bruderparteien" des Ostblocks die Reformversuche der KPC, der kommunistischen Partei der CSSR, zunichte gemacht. Spontan kam es in der gesamten DDR zu einer Vielzahl von Protesten: Mit Mauerinschriften, selbst verfassten Flugblättern und vereinzelt auch Demonstrationen manifestierten vor allem Lehrlinge, junge Arbeiter und Schüler ihren Unmut und ihre Enttäuschung. Die Staatssicherheit registrierte bis Ende 1968 insgesamt 422 "Delikte der Verbreitung selbst gefertigter Hetzschriften", konnte aber trotz 1.290 eingeleiteter Ermittlungsverfahren nur 90 davon aufklären.[31] Das MfS musste zugleich feststellen, dass sich im Querschnitt die innerhalb der Partei geäußerten kritischen Haltungen zu den Vorgängen in der CSSR nicht von denen in der Bevölkerung unterschieden.[32]

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Ein Ventil fand ihre Unzufriedenheit aber erst Mitte der 1980er Jahre, als Michael Gorbatschow die politische Bühne betrat. Nun, da der "Revisionismus" von der Spitze der KPdSU ausging, schien die Chance für eine Demokratisierung des Ostblocks endlich gegeben zu sein. Gorbatschows Politik der "neuen Offenheit" ließ selbst aus ihrer kommunistischen Heimat gedrängte Dissidenten wie Lew Kopelew ausrufen: "Man muss an Wunder glauben" und den Liedermacher Wolf Biermann die "große Skepsis " gegen noch "größere Hoffnung" eintauschen.[34] Der Ende der 1970er Jahre aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelte Dichter Günter Kunert blieb dagegen eher skeptisch, dass die von linken Zeitgenossen "so inständig erhoffte Regenerationsfähigkeit des Systems" von innen heraus, damit bewiesen sei: "Die Botschaft hör ich wohl …"[35]
Was die Reaktion der greisen SED-Führung betraf, sollte Kunert Recht behalten. Sehr zum Verdruss auch vieler reformwilliger Parteimitglieder, die sich im Herbst 1989 zusammen mit hunderttausenden, bis dahin eher "unpolitischen" Menschen auf den Straßen und Plätzen der DDR zum friedlichen Protest für eine Reform des politischen Systems versammelten.
Die gezielte Opposition der 1980er Jahre
Im Herbst 1989 traf sich viel Verdruss, Wut, Zorn und Veränderungswillen auf den Straßen der DDR. Bei jedem Demonstranten stand eine spezielle Lebensgeschichte dahinter.[36] Lauter Individualisten allein machen aber noch keine Revolution, auch wenn sie zu Tausenden aufmarschieren. Sie bedürfen gemeinsamer Ziele, um an Überzeugungs- und Schlagkraft zu gewinnen. Und sie benötigen eine organisatorische Klammer, die ihren individuellen Veränderungsdrang zu gemeinsamer Stärke bündelt und ihm eine Richtung gibt.[37]Im Herbst 1989 leistete das vor allem die Bürgerbewegung "Neues Forum" – flankiert von der "Initiative Frieden und Menschenrechte", den Bürgervereinigungen "Demokratie jetzt" und "Demokratischer Aufbruch" sowie der wiedergegründeten Sozialdemokratischen Partei (SDP).[38] Sie konnten diese Funktion wahrnehmen, weil viele ihrer Initiatoren bereits über längere oppositionelle Erfahrungen aus der unabhängigen Friedensbewegung im ersten Drittel der 1980er Jahre[39] und ihrer späteren Formierung als Demokratiebewegung[40] in thematischen Basisgruppen verfügten, inklusive der Organisation von (ersten) öffentlichen Aktionen und Demonstrationen.
Den Schutzraum – aus dem heraus die sich formierende Opposition für lange Jahre agierte – bot die Evangelische Kirche. Mit den Friedensgebeten wurden die Gotteshäuser dann auch zu den lokalen Kristallisationspunkten der Entwicklung der Opposition, bevor sie ihren Protest auf die Straßen trug.[41] Bis dahin war es aber ein weiter Weg: Beflügelt durch das KSZE-Abkommen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kam es nach 1975 in vielen Staaten des Ostens zu einer Beförderung des Bürgerrechtsgedankens. Auch die DDR-Regierung hatte in Helsinki den Anspruch ihrer Bürger auf Meinungs- und Reisefreiheit sowie die freie Wahl des Wohnortes unterschrieben. Schlagartig kam es zu einem Anwachsen der Ausreiseanträge. Im Sommer 1976 stellten bereits über 100.000 Menschen einen "Antrag auf ständige Ausreise" aus der DDR, ohne über lange Jahre eine reelle Chance zu haben, das Land tatsächlich verlassen zu können. Stattdessen mussten sie und ihre Kinder massive Nachteile in Beruf und Bildung in Kauf nehmen.
Mit der wachsenden Bedrohung des Friedens durch die Nachrüstung in Ost und West kam es um 1980 auch in der DDR – "allerdings mit erheblicher zeitlicher Verzögerung und wesentlich schwächerer Rückendeckung durch die offizielle Kirche"[42] als in Polen und der CSSR– zur schrittweisen Herausbildung erster Bürgerinitiativen. Noch vermieden sie bei Protesten wie gegen die Einführung des Wehrunterrichtes (1978) als Gruppen in Erscheinung zu treten. Unter ihren Eingaben stand zumeist nur eine Unterschrift. Jeder Hinweis auf eine "anti-sozialistische Gruppenbildung" hätte der Staatsmacht Angriffsfläche geboten. Dennoch kam es immer wieder zu Vorladungen, Verhaftungen (wie 1983 bei den "Frauen für den Frieden")[43] und zu Ausweisungen einzelner Bürgerrechtler.
Seit Anfang der 1980er Jahre handelten die Basisgruppen jedoch immer selbstbewusster und ihr inhaltliches Spektrum differenzierte sich weiter aus: zu den Friedens- und Menschenrechtsgruppen kamen ökologische Initiativen und Dritte-Welt-Gruppen.[44] Die Größe der Gruppen betrug zumeist um die 15 Mitglieder. Ihr Alter lag im Durchschnitt bei etwas über 25 Jahren. Alle sozialen Schichten waren darin vertreten. Ein nicht unerheblicher Teil der Gruppenmitglieder war bei der Kirche angestellt oder studierte an kirchlichen Hochschulen.[45]
Friedensbewegung und Opposition
Von zentraler Bedeutung war das Anfang der 1980er Jahre von Christoph Wonneberger – damals Pfarrer in Weinböhla bei Dresden – entworfene Konzept des "Sozialen Friedensdienstes" (SoFd). Es sollte jungen Wehrdienstverweigerern eine zivile Alternative zum Armeedienst bieten. Die Verbreitung und Umsetzung des Konzepts wurde Wonneberger auf Druck staatlicher Behörden von der Kirchenleitung untersagt.[46] Die Schaffung der Friedensgebete – damals noch in Dresden – war seine Reaktion auf diesen Eingriff.[47] Im September 1982 wurde in der Leipziger Nikolaikirche im Rahmen der kirchlichen Friedensdekade erstmals ein Friedensgebet von einer Basisgruppe gestaltet. Die Friedensgebete entwickelten sich – als neue Form der Gegenöffentlichkeit – zu einem dauerhaften Forum der Verständigung über gesellschaftliche Probleme. Das Zeichen "Schwerter zu Pflugscharen" wurde ab 1982 zum Symbol der gesamten Bürgerbewegung. Später wurden die Friedensgebete immer wieder auch von Ausreisewilligen als Podium für ihr Anliegen und als Zufluchtsstätte benutzt.
Kulminationsjahr 1989
Ein Jahr später gelang Leipziger Bürgerrechtlern eine Luxemburg-Liebknecht-Demonstration durch das Stadtzentrum mit hunderten Teilnehmern. Deren Organisatoren kamen aus jenen Basisgruppen, die über lange Zeit die Friedensdekaden und Montagsgebete gestaltet hatten.[50] Nun drängten sie verstärkt aus dem schützenden Raum der Kirche in die Öffentlichkeit. Mit dieser Aktion setzten sie bereits im Januar 1989 ein deutliches Zeichen, dass ihr Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung in ein neues Stadium getreten war. Der Bürgerprotest erhielt eine neue Qualität und eine, sich bis zum Herbst hin immer weiter steigernde Quantität. Wichtige Meilensteine dazu waren im Verlauf des Jahres 1989 u.a.:- der DDR-weite Nachweis von Wahlfälschungen bei der Kommunalwahl am 7. Mai,[51]
- die Protestaktionen in Eisenach, Berlin, Leipzig, Dresden, Altenburg und anderen Orten in der DDR gegen das blutige Massaker der chinesischen Parteiführung am Tiananmen-Platz in Peking vom 3. und 4. Juni,[52]
- die Gründung eigener Bürgerbewegungen und Plattformen ab August und die landesweite Verbreitung ihrer Gründungsaufrufe.[53]

Nur 14 Tage später fiel, unter dem Ansturm Tausender, die keine DDR mehr haben wollten, die Mauer; eine andere Form von gezielter Opposition. Die bürgerbewegte Gegenöffentlichkeit der DDR aber wurde in dem Maße überflüssig, wie sie Öffentlichkeit für sich erkämpfen konnte.[55]
Zitierweise: Bernd Lindner, Wege in die Opposition. Widerständiges Verhalten in der DDR, in Deutschland Archiv, 6.6.2014, Link: http:\\www.bpb.de\185289