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Das Dilemma der nachholenden Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft | bpb.de

Das Dilemma der nachholenden Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft

Udo Ludwig

/ 14 Minuten zu lesen

Im 25. Jahr der Deutschen Einheit blickt Udo Ludwig zurück auf die Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft: Zwar entwickelte sich in Ostdeutschland ein erfolgreicher Unternehmenssektor, doch seit einem Jahrzehnt reicht seine wirtschaftliche Dynamik nicht mehr aus, um den Abstand gegenüber den westlichen Bundesländern zu verkürzen.

Weizenbearbeitender Betrieb Cerestar in Barby (Sachsen-Anhalt) - Gemeinschaftwerk "Aufschwung Ost", 1994. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00003561, Foto: Engelbert Reineke)

Die vor einem Vierteljahrhundert abgeschlossenen Einigungsverträge zwischen der früheren Bundesrepublik und der DDR bedeuteten nicht nur die vollständige Übernahme des bundesdeutschen Institutionensystems durch das Beitrittsgebiet. Sie waren zugleich mit der Erwartung verknüpft, dass auf dem Gebiet der ehemaligen DDR unter den neuen ordnungsökonomischen Verhältnissen der sozialen Marktwirtschaft ein kräftiger Modernisierungsprozess ausgelöst wird, in dessen Gefolge das Leistungsniveau der ostdeutschen Wirtschaft in einem historisch kurzen Zeitraum an westdeutsche Standards herangeführt wird. Auch wenn sich der wirtschaftliche Rückstand der DDR während der deutschen Teilung nicht genau bestimmen ließ, er war trotz der Einholpläne und des enormen Ressourceneinsatzes groß geblieben. Nach dem Kollaps beim Einstieg in die Marktwirtschaft lag die Pro-Kopf-Produktion in Ostdeutschland im Jahr 1991 bei einem Drittel des Westniveaus.

Das Ausmaß der Rückstände der DDR war spätestens seit dem Fall der Mauer einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Der Kapitalstock war weitgehend verschlissen und trotz staatlich forcierter Erneuerungsprogramme in einzelnen Bereichen, beispielsweise bei der Entwicklung und Einführung der Mikroelektronik, technisch veraltet und wirtschaftlich wenig leistungsfähig. So war der Ausrüstungsbestand in allen großen Wirtschaftsbereichen 1989 zu deutlich mehr als der Hälfte abgeschrieben, darunter ein Fünftel vollständig. Der Zwang zur Erfüllung ihrer Produktionspläne hatte die Betriebe veranlasst, veraltete Anlagen weit über ihre Nutzungsdauer im Bestand zu halten. Die Produkte blieben hinter dem technischen Stand im Westen zurück, wurden zu teuer produziert und schafften zumeist nur den Sprung in die unteren Preissegmente westdeutscher Kaufhäuser. Für die Erwirtschaftung einer D-Mark im Export mussten zum Schluss Produkte im Wert von 4,40 DDR-Mark erzeugt werden.

Was bedeutet nachholende Modernisierung?

Die Untersuchung und Erklärung von Rückständen und Fortschritten der Entwicklung gehört zum Gegenstand der Modernisierungstheorie. Versteht man – wie der Soziologe Reinhard Bendix – unter Modernisierung den wirtschaftlichen und politischen Fortschritt einiger Pioniergesellschaften und die darauf folgenden Wandlungsprozesse der Nachzügler, dann hat nachholende Modernisierung das Streben eines Nachzüglers nach den Errungenschaften des Vorreiters zum Inhalt. Wenngleich im Fokus dieser Theorie ursprünglich globale Entwicklungstendenzen seit der industriellen Revolution in England und der politischen Revolution in Frankreich im 18. Jahrhundert standen, bieten ihre Erkenntnisse einen geeigneten Bezugsrahmen auch für die Erklärung der Transformationsprozesse nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus. Nach dem Soziologen Wolfgang Zapf zeichnen sich diese Transformationsprozesse von offenen Modernisierungsprozessen dadurch aus, dass das Ziel bekannt ist, nämlich die Übernahme von modernen demokratischen, marktwirtschaftlichen, rechtsstaatlichen Institutionen. Angewandt auf den deutschen Fall ist der Bezugsrahmen nachholender Modernisierung aus politischen, historischen und kulturellen Gründen durch die bundesdeutsche Prägung einer sozialen Marktwirtschaft vorgegeben.

Modernisierung ist ein mehrdimensionaler Prozess, in dem sich nach dem Soziologen Johannes Berger der wirtschaftliche Teil auf Wachstum und Konvergenz bezieht. Die Erwartungen an einen schnellen Aufholprozess auf der Grundlage einer breit angelegten Modernisierung der Wirtschaft in Ostdeutschland waren freilich nicht unbegründet. Fanden sie doch Rückhalt in den geschichtlich belegten Beispielen vom "Vorteil der Rückständigkeit", der es erlaubt, "den Weg zur Moderne" durch die Adaption moderner Technologien zu verkürzen und ganze Entwicklungsstufen zu überspringen.

Modernisierungsschub in Ostdeutschland ohne Verstetigung

Ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Vereinigung ist zu konstatieren, dass bis Mitte der 1990er Jahre dank kräftiger (und staatlich geförderter) Investitionen der Unternehmen in ihre Produktionsanlagen und Produkte sowie des Staates in die Infrastruktur, vor allem in die Nachrichtenübertragungswege, den Straßen- und Schienenverkehr, ein Modernisierungsschub am Kapitalstock und der Produktpalette gelang.

Die technisch und ökonomisch verschlissenen alten Produktionsanlagen aus DDR-Zeiten wurden in kurzer Zeit ausgesondert und durch leistungsfähige neue Anlagen ersetzt. Der Kapitalstock wurde in einem Tempo verjüngt, dass sein Modernitätsgrad den Stand in den alten Bundesländern in den Jahren des Neuaufbaus der ostdeutschen Wirtschaft bald um Längen übertraf (vgl. Abbildung). Allerdings ging dieser Vorsprung ab Ende der 1990er Jahre mit der nachlassenden Investitionstätigkeit langsam, aber kontinuierlich zurück und er verschwand, bezogen auf die für den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt bedeutsamere Ausrüstungskomponente, seit dem Jahr 2008 gänzlich. Die Investitionsquote, der Anteil der Anlageinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt, war nur in der starken Aufbauphase in der ersten Hälfte der 1990er Jahre überdurchschnittlich hoch, aber sie war in dieser Zeit unverhältnismäßig baubestimmt. Nach der Überwindung der auf die anfänglichen Übertreibungen der Bauinvestitionen folgenden zehnjährigen Baukrise pendelte sie sich bei 20 Prozent ein. Insgesamt ist der Modernitätsgrad der Anlagen gegenüber dem Westen noch geringfügig höher, der Modernisierungsvorsprung wird aber allein durch das hohe Niveau der baulichen Anlagenbestände gehalten.

Abbildung: Modernitäts- und Wachstumsvorsprung der ostdeutschen gegenüber der westdeutschen Wirtschaft (in Prozentpunkten). Ostdeutschland ohne Berlin, Westdeutschland einschließlich Berlin. Der Modernitätsgrad bezeichnet hier das Verhältnis vom Netto- zum Bruttoanlagevermögen zu Wiederbeschaffungspreisen. (© Arbeitskreis "VGR der Länder"; Berechnungen des Autors)

Auch der Modernisierungsvorsprung der auf dem Gebiet der ostdeutschen Bundesländer gefertigten Produkte ist zum Erliegen gekommen. Die nach 1990 erneuerte Produktpalette hielt lange Jahre im Wettbewerb stand, ihre fortlaufende Erneuerung blieb jedoch zurück. In den Jahren nach 2005 nahmen die Unternehmen in Ostdeutschland weniger Produktinnovationen als im Westen vor. Der Umsatzanteil, der auf neue Produkte entfällt, lag im Durchschnitt der Jahre 2006 bis 2010 mit 15 Prozent in der Industrie beziehungsweise sechs Prozent im Dienstleistungssektor merklich unter den Vergleichswerten für Westdeutschland. Dies gilt analog für Markt- und für Sortimentsneuheiten.

Der Verlust des Modernisierungsvorsprungs spiegelt sich in den gesamtwirtschaftlichen Erfolgskriterien der Modernisierung wider, dem Wachstumstempo des Bruttoinlandsprodukts und dem Stand der Angleichung der wirtschaftlichen Leistung im Osten an das Niveau im Westen. Der deutliche Wachstumsvorsprung der ostdeutschen Wirtschaft in den Jahren des Umbaus und Neuaufbaus ist Ende der 1990er Jahre entschwunden und war nach dem Jahr 2000 nur noch in konjunkturellen Schwächephasen der westdeutschen Wirtschaft zu beobachten (Abbildung). In der Pro-Kopf-Produktion gab es nach einer kurzen, aber kräftigen Aufholphase in der ersten Hälfte der Neunziger nur noch marginale Fortschritte, die zudem durch die sinkende Einwohnerzahl im Osten überzeichnet werden. Seit dem Jahr 2005 verharrt das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner bei rund zwei Dritteln des Westniveaus.

Im Allgemeinen wird die Stagnation des Aufholprozesses mit einer ganzen Reihe wirtschaftsstruktureller Nachteile des Ostens gegenüber dem Westen begründet, wie durch das Fehlen von Konzernzentralen und Großbetrieben, den Werkbankcharakter vieler Produktions- und Dienstleistungsstätten, die Rückstände im Industrialisierungsgrad, das vorherrschende industrielle Spezialisierungsmuster auf Vorleistungsgüter, die geringe Orientierung auf die Auslandsmärkte und anderes mehr. Dahinter verbirgt sich jedoch ein gemeinsamer Nenner: die entstandenen Eigentümer- und Größenverhältnisse der Unternehmen. Berger schreibt: "Ob es zu konvergenten Entwicklungen kommt, hängt von den Institutionen ab." Institutionen sind nicht nur die in Ost und West gleichen formellen und informellen Regeln des Wirtschaftens und die für das Regelwerk zuständigen öffentlichen Einrichtungen, sondern auch die privaten Akteure, die nach diesen Regeln handeln. Die Unternehmen in Ostdeutschland, die aus dem tief greifenden, massiven Privatisierungsprozess früherer Staatsbetriebe sowie aus Neugründungen hervorgegangen sind, unterscheiden sich jedoch in wesentlichen Parametern von der gestandenen Unternehmerschaft im Westen und das schränkt ihre Leistungsfähigkeit ein.

Kleinteiliger Unternehmensbestand

Der von der Treuhandanstalt praktizierte Privatisierungsweg veränderte zunächst drastisch die Größenstruktur der Betriebe. Ein Extrem löste das andere ab: Die systemimmanente Überdimensionierung der Betriebsgrößen in der Zentralplanwirtschaft wurde infolge der Aufspaltung der großbetrieblichen Vereinigungen (Kombinate) durch eine überzogene Kleinteiligkeit ersetzt. Nach der Privatisierung dominierten kleine und mittlere Unternehmen. Sie bildeten den Ausgangspunkt für die Wiedergeburt des Mittelstandes im Osten des vereinigten Deutschlands. Aber es ergab sich zugleich ein ausgesprochener Mangel an Großbetrieben. So ist, bezogen auf das Verarbeitende Gewerbe, die Anzahl der Betriebe mit mindestens 1000 Beschäftigten gering geblieben, zusammen mit den Betrieben ab 500 Beschäftigte stellten sie 2010 einschließlich Berlin nicht einmal 12 Prozent der industriellen Arbeitsplätze in Ostdeutschland. In Westdeutschland war der Anteil mit 36 Prozent dreimal so hoch.

Großbetriebe sind aufgrund der Kostenvorteile der Massenproduktion in der Regel produktiver. Die hohe Produktivität verschafft ihnen die ökonomische Grundlage, überdurchschnittlich hohe Löhne zu zahlen, auf Auslandsmärkte vorzudringen und dort aktiv aufzutreten, sich überregional zu vernetzen und die auswärtigen Wachstumspotenziale zu nutzen. Die großen Unternehmen verfügen über ausreichend Mittel, eigene Forschung und Entwicklung zu betreiben und Prozess- oder Produktinnovationen vorzunehmen. Ihre ökonomische Stärke erleichtert ihnen zugleich den Zugang zum Kapitalmarkt.

Für sich genommen verfügen auch kleine und mittelgroße Betriebe über eine Reihe von ökonomischen Vorteilen, so dass sie erfolgreich und langfristig neben großen existieren. Die Kundschaft der kleinen und mittelgroßen Unternehmen stellen jedoch zu einem nicht geringen Teil Großunternehmen, mit denen sie als Zulieferer von Vorprodukten und Komponenten von Fertigerzeugnissen sowie von Dienstleistungen verbunden sind. Fehlen solche industriellen Anker, haben Kleinbetriebe geringe Chancen, sich in die Wertschöpfungsketten moderner industrieller Produktion einzugliedern. Sie sind unter solchen Bedingungen als produzierende und dienstleistende Kleinunternehmen in ihren Entwicklungsmöglichkeiten beschränkt. Abgesehen von einer geringen Anzahl auch in Ostdeutschland ansässiger heimlicher Weltmarktführer, wie beispielsweise Jenoptik in Jena oder der Gerätehersteller FCM in Freiberg, orientiert sich eine große Mehrheit der kleinen und mittleren Unternehmen an der lokalen Nachfrage oder an der Nachfrage der Großunternehmen außerhalb der Region. Letzteres erhöht ihre Transaktionskosten. Die lokale Nachfrage weist – infolge des demografischen Wandels in den ostdeutschen Flächenländern – wenig Wachstumspotenzial auf.

Fremdbestimmte großbetriebliche Werkbänke

Hinter der großen Anzahl kleiner Betriebe und der kleinen Anzahl großer Betriebe verbergen sich zugleich verschiedene Eigentümerverhältnisse. Die Privatisierung via Treuhandanstalt führte zu einer massenhaften Übertragung von Eigentumstiteln an gebietsfremde Akteure. Die Treuhandanstalt veräußerte bis zur Einstellung ihrer Tätigkeit Ende 1994 rund 2700 Objekte an Investoren aus den alten Bundesländern und 860 an Ausländer. Letztlich kamen auch in Ostdeutschland ansässige Betriebsangehörige und Leitungspersonal der ehemaligen Staatsbetriebe als neue Eigentümer zum Zuge. Es bildete sich ein ganzer Sektor von Unternehmen heraus, die unter der Führung einheimischer Kräfte den Sprung in die Marktwirtschaft wagten. Sie gründeten knapp 3000 sogenannte Management Buy-Outs (MBO) oder Management Buy-Ins (MBI), je nachdem ob die Manager aus dem eigenen Haus oder von außen kamen. Darüber hinaus wurden rund 1600 Betriebe vollständig an die in der letzten großen Verstaatlichungswelle in der DDR enteigneten Besitzer beziehungsweise deren Nachkommen zurückgegeben.

Als die Treuhandanstalt Ende 1994 ihre Tätigkeit einstellte, befand sich fast die Hälfte der verkauften Wirtschaftseinheiten in der Hand westdeutscher oder ausländischer Eigentümer. Die Investorenschaft war im Hinblick auf ihre Dispositionsfreiheit äußerst heterogen. Unter ihr befanden sich mehrheitlich sowohl rechtlich unabhängige Eigentümer, sogenannte Eigenständler, aber auch in nicht geringer Zahl von gebietsfremden Unternehmenszentralen abhängige Betriebe. Sie bilden ein Segment von Großbetrieben, die sogenannten verlängerten Werkbänke, die im Einklang mit deren, in der Regel gebietsunabhängigen Entwicklungsstrategien gesteuert werden. Deren Wertschöpfung wird in der Regel durch unternehmensinterne Verrechnungen abgeschöpft. Die wertschöpfungsintensiven Funktionen: die Leitung und Organisation der Produktion und des Vertriebs, die Durchführung von Forschungs- und Entwicklungsarbeiten befinden sich in der Regel in den Stammsitzen der gebietsfremden Unternehmenszentralen. Gerade diese Wertschöpfungsquellen fehlen Ostdeutschland weitgehend und schränken das Wachstumspotenzial ein.

Ganz ausgeprägt war der Abfluss der Eigentumstitel im Verarbeitenden Gewerbe Ostdeutschlands. Zwar befanden sich im Jahr 1997 fast drei von fünf Betrieben mit mindestens 20 Beschäftigten in ostdeutscher Hand, aber diese Betriebe stellten nur rund zwei von fünf Arbeitsplätzen in diesem Teil des Verarbeitenden Gewerbes. Auffällig war die Eigentumsübertragung an Gebietsfremde im Bereich der Herstellung von Vorleistungsgütern (unter anderem Rohstoffe, Material, Komponenten von Fertigerzeugnissen). Hier arbeiteten vier von fünf Beschäftigten in Unternehmen westdeutscher oder ausländischer Eigentümer. Dagegen lag ihr Anteil im Bereich der Herstellung von Nahrungsgütern sowie von Investitions- und Gebrauchsgütern mit 55 Prozent knapp über der Hälfte. Zehn Jahre später hatte sich der Anteil im Vorleistungsgütergewerbe zwar um fünf Prozentpunkte auf 76 Prozent verringert. Im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt verschoben sich die Arbeitsplatzverhältnisse aber weiter in Richtung gebietsfremder Unternehmenseigner. Im Jahr 2007 waren 63 Prozent aller Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe Ostdeutschlands in Unternehmen westdeutscher und ausländischer Eigentümer tätig.

Unter den gebietsfremden Unternehmenseignern im Verarbeitenden Gewerbe Ostdeutschlands haben Niederlassungen beziehungsweise Tochtergesellschaften auswärtiger Unternehmen ein hohes Gewicht erlangt. Hier gingen im Jahr 1997 rund 20 Prozent und im Jahr 2007 knapp 28 Prozent der Beschäftigten einer Tätigkeit nach, die fast ausschließlich in Filialen auswärtiger Stammhäuser erfolgte. Das trifft auf die Hersteller von Vorleistungsgütern, von Investitions- und Gebrauchsgütern, aber auch von Verbrauchsgütern zu, wo sich fast alle Niederlassungen in auswärtiger Hand befinden. In diesen Niederlassungen waren 2007 rund 30 Prozent der Beschäftigten in den entsprechenden Produzentengruppen angestellt. Lediglich im Ernährungsgewerbe war die Situation anders. Der Beschäftigungsanteil unter den Vorleistungsgüterproduzenten lag bereits im Jahr 1997, wenn nicht schon früher, bei 30 Prozent.

Die Filialbetriebe gebietsfremder Unternehmen erfüllen eine wichtige Funktion bei der laufenden Produktion und der Sicherung von Arbeitsplätzen. Warum sollten sie aber per se bei Konzernentscheidungen über die Zukunft bevorzugt werden, um zu Modernisierung und aufholendem Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland beizutragen? Bei Grundsatzentscheidungen über die Zukunft: die künftigen Produktionsprofile, Innovationen und Investitionen, befinden sich die Filialen im Tross der Entscheidungen gebietsfremder Konzernzentralen. Werden neue Märkte erschlossen und Standorte verlagert, dann sind regionale Zukunftsaussichten nachgeordnet.

Unternehmerische Forschungs- und Entwicklungsschwäche

Die Eigentümer- und Größenverhältnisse der Unternehmen präjudizieren die erheblich geringere Intensität an Forschung und Entwicklung (FuE) in Ost- gegenüber Westdeutschland. Im Jahr 2009 beliefen sich die FuE-Ausgaben in Relation zum regionalen Bruttoinlandsprodukt in Ostdeutschland auf 1,95 Prozent gegenüber 2,87 Prozent in Westdeutschland. Auch hier schlagen die Größenverhältnisse der Betriebe und ihr Rechtsstatus negativ zu Buche. Nur ein Fünftel der auf das Bruttoinlandsprodukt bezogenen FuE-Ausgaben wird in Ostdeutschland von Großunternehmen getätigt, während das in Westdeutschland zwei Drittel sind. Als reine Fertigungsstätten betreiben viele ostdeutsche Großbetriebe seltener eigene Forschung und Entwicklung und bringen weniger Innovationen auf den Markt als westdeutsche. Forschung und Entwicklung findet in der Regel in den gebietsfremden Stammhäusern statt.

Bei aller Bedeutung der kleinen und mittleren Unternehmen für die Erneuerung der Produktpalette und die Modernisierung der Produktionsprozesse, sie sind aufgrund ihrer größenbedingt begrenzten internen Ressourcen in besonderem Maße auf die Nutzung externen Wissens angewiesen. Hier füllt die mit öffentlichen Mitteln finanzierte Forschung an den Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen einen großen Teil der Ausgabenlücke bei FuE gegenüber Westdeutschland aus. Die für den wirtschaftlichen Erfolg letztlich ausschlaggebenden Innovationen im Unternehmenssektor können sie aber nicht ersetzen. Der Rückstand gegenüber Westdeutschland bleibt hier groß.

Ein Fazit

Der wirtschaftliche Aufholprozess Ostdeutschlands stockt seit Jahren. Im Zuge der nachholenden Modernisierung hat sich zwar ein erfolgreicher Unternehmenssektor entwickelt, der seine Wettbewerbsfähigkeit auch in konjunkturell schwierigen Zeiten unter Beweis gestellt hat. Seine wirtschaftliche Kraft und Dynamik reicht jedoch seit einem Jahrzehnt nicht mehr aus, den wirtschaftlichen Abstand gegenüber den alten Bundesländern entschieden zu verkürzen. Mit dem Auslaufen des anfänglich erreichten Modernisierungsvorsprungs ist auch der Wachstumsvorsprung der Wirtschaft verloren gegangen und der Rückstand in der Pro-Kopf-Produktion in den ostdeutschen Flächenländern verharrt bei einem Drittel.

Der Leistungsrückstand der heute in Ostdeutschland bestehenden Unternehmen hat gemeinsame Ursachen in den Größen- und Eigentumsverhältnissen, die bereits mit der Privatisierung der ehemaligen Staatsbetriebe der DDR und den Neugründungen gelegt worden sind. Das Wachstums- und Erneuerungspotenzial in Ostdeutschland wird letztlich von der überwiegenden Kleinteiligkeit der Betriebe, ihrem Eigentümerstatus und dem Werkbankcharakter vieler Großbetriebe eingeschränkt. Produktivität und Löhne, Investitionen und Innovationen bleiben so hinter dem Stand im Westen zurück. Innovatives Unternehmertum ist zu schwach ausgeprägt. Die dahinter liegenden objektiven Gegebenheiten sind nur langfristig veränderbar.

Der mit dem ordnungsökonomischen Umbau in Ostdeutschland eingeschlagene Modernisierungspfad nachholender Art trägt wohl in wirtschaftlicher Hinsicht nur ein begrenztes Aufholpotenzial in sich. Der "Vorteil der Rückständigkeit" ist vor dem Erreichen einer vollständigen Konvergenz mit dem Westen geschwunden. Auch wenn der Aufholprozess zum Erliegen gekommen ist, selbst die Fortsetzung des wirtschaftlichen Wachstums bedarf einer Innovations- und Investitionsoffensive, mit der die Leistungskraft der Unternehmen über den technischen Fortschritt gestärkt wird. Ohne einen kräftigen Impuls von außen dürfte das nicht gelingen. Nur so kommt die Modernisierung weiterhin voran.

Zitierweise: Udo Ludwig, Das Dilemma der nachholenden Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft, in: Deutschland Archiv, 29.12.2015, Link: www.bpb.de/218013

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das markanteste Beispiel ist die Zielvorgabe im Siebenjahrplan für 1959 bis 1965 "Westdeutschland im Pro-Kopf-Verbrauch bei den meisten industriellen Konsumgütern und Lebensmitteln bis Ende 1961 einzuholen und zu überholen." Vgl. Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 56/1959, S. 704. Der Plan wurde weder erfüllt noch offiziell abgerechnet.

  2. Der Rückstand gegenüber dem früheren Bundesgebiet belief sich je nach Berechnungsmethode und Autorenschaft für die 1980er Jahre zwischen einem Viertel und reichlich der Hälfte. Zur einer Übersicht vgl. Udo Ludwig, Ohne Rückrechnung kein Nachweis des wirtschaftlichen Umbruchs in den neuen Bundesländern, in: Statistisches Bundesamt (Hg.): Rückrechnungen gesamtwirtschaftlicher Daten für die ehemalige DDR, Stuttgart 1993, S. 25. Vergleiche für die Zeit nach der Einführung der D-Mark auf dem Gebiet der ehemaligen DDR dürften den Abstand aufgrund des Angebotsschocks nach der Grenzöffnung allerdings eher überschätzen.

  3. Günter Kusch, Rolf Montag, Günter Specht und Konrad Wetzker, Schlussbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 54ff.

  4. Reinhard Bendix: Modernisierung in internationaler Perspektive, in: Wolfgang Zapf (Hg.): Theorien des sozialen Wandels, Köln und Berlin 1969, S. 510.

  5. Wolfgang Zapf: Die Transformation in der ehemaligen DDR und die soziologische Theorie der Modernisierung, Berlin 1992, S. 12.

  6. Dies gilt im Grundsatz, bedeutet aber keine totale Imitation altbundesdeutscher Verhältnisse in allen Lebensbereichen. Beispielsweise hat sich die konservative Auffassung von der Stellung der Frau in der Gesellschaft unter dem Druck der realen Verhältnisse nicht als Vorbild für den Umbau bewährt.

  7. Johannes Berger: Was behauptet die Modernisierungstheorie wirklich – und was wird ihr bloß unterstellt, in: Leviathan 1/1995, S. 48, 53ff. Die Erklärung von Modernisierungsprozessen scheint eine Domäne der Soziologen zu sein. Bezeichnenderweise gibt es im "Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft" dieses Stichwort nicht.

  8. Der "Vorteil der Rückständigkeit" wurde von Veblen bei seiner Untersuchung des wirtschaftlichen Aufholprozesses des deutschen Kaiserreichs vor 100 Jahren herausgearbeitet. Thorstein Veblen: Imperial Germany and the Industrial Revolution, Original 1915, Reprint 1984, insbesondere S. 86f, 249ff.

  9. Der Modernitätsgrad bezeichnet hier das Verhältnis des Nettobestandes am Anlagevermögen zum Bruttobestand. Er zeigt den Anteil der nicht abgeschriebenen Anlagen am Bruttovermögen und ist damit ein Indikator für dessen Alterung und für die verbliebene Leistungsfähigkeit der aktivierten Anlagen. Die amtlichen Datenreihen reichen derzeit nur bis 2011.

  10. Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Evaluierung des BMWi-Programms "FuE-Förderung gemeinnütziger externer Industrieforschungseinrichtungen Ostdeutschlands – Innovationskompetenz Ost (INNO-KOMOst)" einschließlich des Modellvorhabens Investitionszuschuss technische Infrastruktur. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWi). IWH Online 1 (2012), S. 32f.

  11. Ausführlicher dazu vgl. Udo Ludwig, Der unvollendete Aufholprozess der ostdeutschen Wirtschaft, in: Berliner Debatte Initial, Heft 2 (2015), S. 34-49.

  12. Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH): Wirtschaftlicher Stand und Perspektiven für Ostdeutschland. Studie im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, IWH-Sonderheft 2 (2011), Halle (Saale), S. 59ff.

  13. Berger, Modernisierungstheorie (Anm. 7), S. 59.

  14. Janos Kornai, Das sozialistische System. Die politische Ökonomie des Kommunismus, Baden-Baden 1995, S. 452.

  15. DIW Econ, Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft. Gibt es spezifische Wachstumshemmnisse für die Bildung größerer Unternehmenseinheiten? Berlin 2014, S. 128.

  16. Zu den Weltmarktführern in Ostdeutschland vgl. Gerald Braun et al., Atlas der Industrialisierung der Neuen Bundesländer, Rostock 2013, S. 26f.

  17. Ruth Grunert, Brigitte Loose, Udo Ludwig, Eigentums- und Vermögensstrukturen in Ostdeutschland – eine Bestandsaufnahme, in: IWH (Hg.), Wirtschaft im Wandel, 1 (1998), Halle (Saale), S. 12.

  18. Udo Ludwig, Brigitte Loose, Die wirtschaftliche Leistung im Lichte von Eigentum und Selbstbestimmung der Unternehmen in Posttransformationsökonomien: Beispiel Ostdeutschland, in: Cornelie Kunze (Hg.), Wirtschaftlicher Aufholprozess und EU-Integration in Mittel- und Osteuropa – das europäische Wachstumsmodell in der Krise? Leipziger Beiträge zu Wirtschaft und Gesellschaft, Nr. 27/28, Leipzig 2010, S. 96f.

  19. Stifterverband, FuE-Datenreport, Essen 2011, S. 44.

  20. IWH und ZEW, Evaluierung (Anm. 10), S. 29.

  21. DIW Econ, Kleinteiligkeit (Anm. 15), S. 102.

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Prof. Dr.; Professor am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Abteilung Makroökonomik sowie an der Universität Leipzig, Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Konjunktur- und Wachstumsanalysen sowie Untersuchungen zu wirtschaftlichen Strukturveränderungen in Deutschland nach 1945 im Vergleich zwischen der Planwirtschaft der DDR und der Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland.