Amnesiopolis: Macht, Raum und Plattenbau in Nordost-Berlin
Die Zustände in den ostdeutschen Mietwohnungen und die Wohnungsnot erinnerten manche DDR-Bürger noch in den 1970er Jahren an die "kapitalistische Ära". Dem versuchte die SED-Führung durch ein ambitioniertes Neubauprogramm entgegenzuwirken. Eli Rubin beschreibt dessen Ambitionen und die Wirklichkeit und beleuchtet dabei auch eine "andere Seite" der Plattenbausiedlungen.[1]
Vor 40 Jahren hat der französische Theoretiker Henri Lefebvre mit seiner Arbeit "La producion de l’espace" ein Verständnis von Raum als einer grundsätzlichen Kategorie innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse geschaffen.[2] Nach Lefebvre haben andere wie David Harvey, Ed Soja und Doreen Massey diesen Gedanken als ein Teil des sogenannten "spatial turn" verankert und theoretisch sowie empirisch ergänzt.[3] Zumeist beschäftigten sie sich aber mit einer Kritik der spätkapitalistischen Gesellschaften. Gleichzeitig debattieren seit den 1990er Jahren Forscher über Macht und Gesellschaft in der DDR und fragen sich, wer die DDR "durchherrschte", ob sie von oben reguliert wurde[4] oder ob es "Nischen" gab, in denen ein "ganz normales Leben" möglich war.[5] Wie können wir, nach Thomas Lindenberger, Macht als "diffus" verstehen?[6] In diesem Aufsatz wird argumentiert, dass sich Machtverhältnisse in der DDR auch räumlich beziehungsweise materiell manifestierten. Namentlich soll es hier um die größte Plattenbausiedlung der DDR und Europas gehen: Berlin-Marzahn.
Berlin-Marzahn: Ein Renommierprojekt der DDR
Am 11. April 1977 begannen Arbeiter der Brigade Adolf Dombrowski, vom Tiefbaukombinat der Volkseigenen Betriebe (VEB) in Berlin, den Boden im kleinen Dorf Marzahn, nordöstlich von Berlin, auszugraben.[7] Sie waren die Avant-Garde einer Armee von bald 7000 Arbeitern, die aus allen Bezirken der DDR nach Marzahn beordert wurden, um die Plattenbausiedlung Berlin-Marzahn aufzubauen.[8] Ursprünglich für 100.000 Einwohner in 35.000 Wohnungen geplant, wuchs die Marzahner Plattenbausiedlung immer weiter und schloss bald die angrenzenden Orte von Hellersdorf, Ahrensfelde, Hohenschönhausen und Lichtenberg ein. Schließlich entstanden Wohnungen für mehr als 450.000 Ostdeutsche.[9] Würde man Marzahn als eigenständiges Stadtgebiet betrachten, so wäre es die viertgrößte Stadt Ostdeutschlands.Marzahn war das größte Projekt des DDR-Wohnungsbauprogramms. Dieses war vom Zentralkomitee der SED 1973 als "Kernstück"[10] der Politik der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" beschlossen worden. Die auf dem VIII. Parteitag der SED verabschiedete neue Wirtschaftspolitik war das Werk Erich Honeckers und bestimmte die Lebensverhältnisse in der DDR durch die gesamten 1970er und 1980er Jahre.[11] Das Wohnungsbauprogramm sollte mit drei Millionen neugebauten und sanierten Wohnungen "die Lösung der Wohnungsfrage als soziale Frage" bringen.[12]
Am Ende gelang es tatsächlich, 2,1 Millionen Wohnungen neu zu bauen und weitere eine Million Wohnungen zu sanieren.[13] 1989 wohnten demnach schätzungsweise über 40 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung in einer Neubauwohnung. Davon waren etwa 1,25 Millionen in Siedlungen beziehungsweise Großsiedlungen gebaut, die meisten an den Rändern bestehender Städte. 70 solcher Siedlungen hatten mehr als 5000 Einwohner, 28 hatten mehr als 25.000 Einwohner. Die Siedlungen wurden nicht nur als Wohnviertel, sondern bis zu einem gewissen Grad als eigenständige Städte gebaut – heile Welten mit allen Einrichtungen des alltäglichen Lebens, wie zum Beispiel Einkaufszentren, Schulen, Kliniken, Freizeiteinrichtungen und Gastronomie.[14] Das Wohnungsbauprogramm stellte mit Kosten von ungefähr 390 Millionen Mark die größte Investition des DDR-Staates dar.[15] Es führte zu immensen Staatsschulden.[16] Berlin war der wichtigste Standort für das Programm. Für die Stadt waren der Neubau beziehungsweise die Sanierung von 200.000 bis 230.000 Wohnungen bis 1990 vorgesehen.[17]
Die Überwindung der Wohnungsmisere: ein loyalitätsstiftendes Versprechen
Das Wohnungsbauprogramm war eine Antwort auf die schlechte Wohnungsversorgung in der DDR. 1960 waren nur zehn Prozent der Wohnungen in der DDR nach 1945 gebaut worden.[18] Es gab ein Wohnungsdefizit von 570.000 Wohneinheiten.[19] Die meisten Wohnungen hatten keinen "Vollkomfort", verfügten also weder über ein Vollbadezimmer noch über eine Zentralheizung. Obwohl die Regierung und die Deutsche Bauakademie viel über Neubauten diskutierten, wurde relativ wenig getan. In Berlin, wo die Bevölkerung zwischen dem Mauerbau 1961 und 1970 um 13.000 gestiegen war und wo die Kriegsverluste an Wohnungen sehr hoch waren, wog der Rückstand besonders schwer: ab 1970 suchten schätzungsweise 90.000 Menschen – viele davon junge Leute mit Kindern – erfolglos eine Wohnung in Ost-Berlin.[20] Beschwerden und Bitten zum Thema Wohnungswesen waren das wichtigste Thema der Eingaben der Bürger.[21]Druck bekam die DDR-Regierung dabei von allen Seiten. Schon in den 1950er Jahren forderte Chruschtschow, dass kommunistische beziehungsweise sozialistische Länder mehr Ressourcen in den Wohnungsbau stecken sollten. Dieser sollte "besser, billiger, schneller" werden. Fordistische Fließbandtechnik und Plattenbau wurden bevorzugt.[22] Im Westen bauten moderne Architekten aus dem Bauhaus, der Architektenvereinigung CIAM (Congrès International d'Architecture Moderne) und ähnliche Gruppen schon in den frühen 1960er Jahren Plattenbausiedlungen mit staatlicher Förderung, beispielsweise die Gropiusstadt und das Märkische Viertel in West-Berlin sowie Neu-Perlach in München. In Ost-Berlin wohnten allerdings die meisten Bürger weiterhin in veralteten Wohnungen in den berüchtigten Berliner Mietskasernen. Das waren nicht nur schlechte Wohnverhältnisse, es war sozusagen eine Welt von gestern. Die Regierung hatte solche Gebäude sogar offiziell als "kapitalistisches Erbe" bezeichnet.[23] Es war ein existenzielles Problem für die DDR, dass die Arbeiter des "Arbeiter- und Bauernstaates" immer noch wie in der kapitalistischen Ära wohnten. Gemessen am selbst gestellten Anspruch der Etablierung einer "sozialistischen Lebensweise" hatte der Staatssozialismus der deutschen Arbeiterklasse kaum Verbesserungen gegenüber früheren Zeiten geboten.
Erfahrungswelten des Umzugs in eine Neubauwohnung
Im Folgenden werden einige zeitgenössische Wahrnehmungen der Wohnungssituation aus Sicht von DDR-Bürgern, die mit Methoden der Oral History erhoben wurden, exemplarisch dargestellt. Elisabeth Albrecht, eine Bibliothekarin, die mit Ihrem kleinen Sohn in einer Eineinhalbzimmerwohnung in Friedrichshain wohnte, beschrieb die Situation wie folgt:- "Das Haus war noch vom Krieg beschädigt. Der Putz bröckelte, und der Schornstein hatte Risse, nur durch Folien abgedichtet. Mein kleiner Sohn und ich litten Ende der siebziger Jahre häufig an Kopfschmerzen. Wir fühlten uns oft matt und krank [...] Bei der Messung der Luftwerte wurde ein erhöhter Kohlenmonoxid-Wert festgestellt."[24]
- "beinahe eine Ruine; dunkel und zugig, das Wasser lief die Wände hinunter, und die Toilette – eine Treppe höher gelegen – teilten wir uns mit den Nachbarn [...] Die Wohnverhältnisse waren katastrophal geworden. Das Dach kaputt, die Toiletten funktionierten nicht mehr. Die meistern Fenster durfte man nicht berühren, sonst wären sie zerplatzt [...] zu viert hausten wir in einem Zimmer.“[28]
Für diese Menschen stellte dieser Umzug mehr als eine deutliche Verbesserung ihrer materiellen Lage dar. Er war eine Zäsur ihrer räumlich-materiellen, alltäglichen Umstände und dadurch auch ein profunder Umbruch ihrer Sinnwelt und des alltäglichen Bewusstseins. Die Lebenserfahrung der Ostdeutschen, speziell in Berlin, war eng mit den Räumen ihrer alten "Kieze" verbunden. Wie Marcel Proust in "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" beschrieben hat, funktionierten physische Spuren der Vergangenheit, wie zum Beispiel Gebäude, Straßen, Bäume, Gerüche, Klänge und so weiter als Auslöser von Erinnerungen. Solche Erinnerungen sind oft sehr persönlich, aber auch mit den Erinnerungen an politisch-soziale Vorgänge in vergangenen Zeiten verwebt. Für viele Ostberliner, die immer noch in Mietskasernen wohnten, gab es nicht nur die schlechten Wohnumstände, sie waren auch von den “Gespenstern“ des Kapitalismus, des Faschismus und des Kriegs umgeben, die in solchen Umständen steckten.
Wie problematisch solche Erinnerungen für diejenigen sein konnten, die in den alten Wohnungen zurückgeblieben waren, beschrieb eindrucksvoll ein Artikel der Neuen Berliner Illustrierte im Jahre 1979. Die Zeitung stellte Luise Schmidt, Jahrgang 1904, vor. Schmidt war ihr Leben lang Bewohnerin am Teutoburger Platz im Prenzlauer Berg gewesen und Mitglied im Wohngebietsausschuss der Nationalen Front. Schmidt sprach über das "Erbe der kapitalistischen Vergangenheit", wie die "Berliner Fenster" und "Berliner Zimmer", in denen sie ihr Leben lang gewohnt hatte und die voll waren mit Erinnerungen, die leider "nicht in einem Tag gelöscht werden können."[29] Im Teutoburger Kiez hatte sie in den 1920er Jahren an Straßenkämpfen gegen nationalsozialistische SA-Verbände teilgenommen, dort wurde ihr Mann in der 1930er Jahren als antifaschistischer Widerstandskämpfer von der Gestapo gejagt, und dort wurde ihr Sohn festgenommen. Sie sah ihn nie wieder.[30] Bald, schrieb die Neue Berliner Illustrierte, würde Frau Schmidt tot sein und mit ihr würden die Erinnerungen an die schlechten Zeiten vergehen.[31] So auch bei Anna Heinze, die seit den 1920er Jahren in einer Wohnung an der Fehrbelliner Straße wohnte, ebenfalls eine Straße, in der schmerzhafte Erinnerungen an Faschismus und Krieg steckten. In derselben Küche, in der das Interview geführt wurde, hatte sie einst mit ihrem Sohn gestritten, weil er NSDAP-Mitglied werden wollte. Er fiel schließlich im Krieg. Im Nachbargebäude starb ihre Tochter, als es nach einem Bombenangriff einstürzte.[32]
Eine neue Stadt "auf der grünen Wiese"
Marzahn wurde als Großsiedlung am Stadtrand geplant, wie viele andere in der DDR und im gesamten Ostblock. Der Berliner Magistrat entschied sich unter anderem deshalb dafür, weil der Stadtbaudirektor und stellvertretende Bürgermeister Günter Peters durch die Renovierung der Wohngebäude am Arnimplatz im Prenzlauer Berg wahrgenommen hatte, dass die Sanierung von Altbauwohnungen zwar zu einer Vergrößerung beziehungsweise Verbesserung der Wohnräume führte, aber gleichzeitig eine Verminderung der Gesamtzahl an Wohnungen brachte.[33] Namentlich wurden 8000 schlechte Wohnungen zu 6000 modernen Wohnungen ausgebaut.[34] Solche Ergebnisse verdeutlichten, dass das ambitionierte Wohnungsbauprogramm außerhalb der Stadt auf die "grünen Wiesen" verlegt werden musste.Auch deswegen beschloss das Politbüro am 27. März 1973, eine Großsiedlung von 20.000 Wohneinheiten in der Gegend von Biesdorf zu bauen.[35] Im Jahr 1974 wurde der ursprüngliche Plan des Ost-Berliner Chefarchitekten Roland Korn von der Aufbauleitung – der Behörde, die für das gesamte Marzahn-Projekt zuständig war – auf 35.000 Wohneinheiten erweitert. Später wurde er um 100.000 weitere Wohneinheiten aufgestockt. Zu 90 Prozent wurde der Gebäudetyp "Wohnungsbauserie 70" (WBS 70) erstellt, aber auch die Typen QP-71 (Querwandplatte 71) und WHH GT 18 (Wohnhochhaus Großtafelbauweise) wurden in kleineren Mengen verbaut.[36]
Der WBS 70, den es in fünf-, elf- und 22-stöckigen Ausführungen gab, war eine Weiterentwicklung in der Plattentechnik. Er bot eine "Vollkomfortwohnung" mit Zentralheizung, Aufzug und gemeinsamen TV-Antennen. Jede Wohnung hatte zwei Tageslichtseiten.[37] Vom WBS 70 wurden auch für andere kommunale Gebäudetypen Varianten entwickelt, die der Plan für die neuen Ost-Berliner Plattensiedlungen forderte. Darunter waren 200 soziale Einrichtungen, 41 Oberschulen, 43 Kinderkrippen/Kindergartenkombinationen (sogenannte "KiKos"), 27 Schulturnhallen, 22 Sporteinrichtungen, neun Seniorenheime, drei Apotheken, Einkaufszentren, Restaurants und Kneipen mit 2000 Plätzen, Bibliotheken, Schwimmhalle mit Sauna, Touristenhotel und Jugendherberge, Erholungspark, und sonstige städtische Einrichtungen.[38]

Gabriele Franik zum Beispiel, die mit Zwillingen schwanger war und mit ihrem Mann 1982 eine Wohnung in Marzahn bekam, beschrieb ihre erste Fahrt nach Marzahn zur Besichtigung der neuen, noch nicht fertiggestellten Wohnung wie folgt:
- "Er fuhr und fuhr. Wir tauchten in eine riesige Baustelle ein: Kräne säumten unseren Weg. Überall standen angefangene Plattenbauten. Weit und breit gab es kein Straßennetz. Sandberge türmten sich, eine gigantische Schlammwüste, nirgends ein Baum, ein Strauch."[41]
- "Mein Herz schlug vor Aufregung bis in den Hals, meine Knie zitterten, als ich das Auto verließ und wir gemeinsam in die zweite Etage des nach Beton und Farbe riechenden Hauses stiegen. Mein Mann schloss unsere Wohnungstür auf... Ein riesiges Reich tat sich auf, genügend Raum für fünf Familienmitglieder. Zentralheizung, warmes Wasser aus der Wand und ein sechs Meter langer Balkon! So kann das Glück aussehen. Euphorisch fielen wir uns in die Arme. [...] Wir kamen wieder zu uns. Die Wohnung war rohbaufertig. Die Wände zeigten sich in schlichtem Betongrau. An einer Stelle hatte ein Bauarbeiter ein Zeichen hinterlassen: ‚Zwei Kästen Bier reichen. Gruß, Kalle.’ Na, denn Prost!"[42]
- "Dieser Baum wurde von mir gepflanzt, das war eine neue Erfahrung, eine gute Zeit, und – solange der Baum nicht stirbt beziehungsweise fällt – kommt solche schöne Erinnerungen immer vor, als ich hier bin und ihn sehe."
Gemeinsam mit ihrer Hausgemeinschaft versuchte sie drei Mal Bäume und Sträucher zu pflanzen. Doch ihr "Wohngebiet III" in der Nähe von Ahrensfelde lag auf einem Areal, dessen Boden von – seit Ende des 19. Jahrhunderts angelegten – Rieselfeldern zur Abwasserklärung vergiftet war.[43] Doch im Gesamtplan Marzahns war auch der Bau einer neuen Kläranlage in Falkenberg eingeplant, und so verbesserte sich der Boden allmählich wenigstens soweit, dass Elisabeth Albrecht und ihre Nachbarn schließlich 1983 Erfolg hatten:
- "Beim dritten Versuch schlugen die Bäume und Sträucher Wurzeln. Der Sommer wurde sehr warm. Jeder aus dem Haus ging mal mit einem Eimer Wasser hinunter und goss die Pflanzen. In jenem Jahr grillten die Mieter zusammen vor der Tür oder feierten als Hausgemeinschaft den Kindertag am 1. Juni. Die Bäume wurden groß, und wir wuchsen zusammen. Vier Jahre später war aus der kleinen Zwei-Meter-Pappel am Eingang schon ein richtiger Baum geworden."
- "Inzwischen ist mein Sohn schon lange aus dem Haus. Der Baum, den ich seinerzeit pflanzte, ragt mir nun fast zum Fenster hinein. Die Pappel ist 21 Jahre alt. Ich genieße meinen Blick ins Grüne von hier oben."[44]
Zitierweise: Eli Rubin, Amnesiopolis: Macht, Raum und Plattenbau in Nordost-Berlin, in: Deutschland Archiv, 7.9.2016, Link: www.bpb.de/233369