Auf einmal gab es Pressefreiheit
Die Entwicklung der Tagespresse in Ostdeutschland von der "Wende" bis heute
Neue Zeitungen nicht grundsätzlich chancenlos
Als Folge der Treuhandentscheidungen werden in der Medienwissenschaft für die ostdeutsche Presselandschaft "fast unüberwindbare Marktzutrittsbarrieren"[29] angenommen. Zeitungsneugründungen konnten "nicht bestehen",[30] "die Quasi-Monopole der ehemaligen SED-Riesen erdrück[t]en den publizistischen Wettbewerb weitgehend".[31]
Doch diese grundsätzliche Chancenlosigkeit entspricht der Realität nicht in Gänze. Zum einen ist es fraglich, ob Neugründungen sich eher hätten am Markt halten können, wenn sie mit einer vormaligen SED-Presse konkurriert hätten, die in kleineren Portionen an Mittelständler verkauft worden wäre. Vor allem aber konnte der Verkauf der DDR-Verlage durch die Treuhand fähige mittelständische Verleger nicht an der Etablierung neuer Zeitungen hindern: Das erfolgreiche Engagement einzelner Kleinverlage belegt, dass die im Westen seit langem bestehenden Marktzutrittsbarrieren im Osten zumindest zeitweise nicht so hoch waren, dass Neugründungen zwingend scheitern mussten.
Die Behauptung, der Verkauf "an die größten westdeutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverleger hatte zwangsläufig zur Folge, dass alle Neugründungen und die immer schon benachteiligten Zeitungen der ehemaligen Blockparteien keine Chance hatten, je über eine nachrangige Anbieterposition hinauszukommen",[32] geht darüber hinweg, dass bis heute Neugründungen sich nicht nur halten, sondern die alteingesessene Konkurrenz sogar auf den zweiten Platz verdrängen konnten (Tabelle 3).
Zeitungsneugründungen und konkurrierende Lokalausgaben von früheren SED-Bezirkszeitungen 2010 (verkaufte Auflage: IVW III/2010) | ||
Neugründung (Auflage) | Lokalausgabe(n) der Bezirksleitung (Auflage) | Marktanteil Neugründung |
Gransee-Zeitung (4.700) | Neues Granseer Tageblatt (2.800) | 63 % |
Oranienburger Generalanzeiger (11.800) | Neue Oranienburger Zeitung (9.600) | 55 % |
Döbelner Anzeiger (10.200) | Döbelner Allgemeine Zeitung (8.700) | 54 % |
Ruppiner Anzeiger (6.600) | Ruppiner Tageblatt (6.700) | 50 % |
Altmark-Zeitung (2 Ausgaben; 17.600) | Volksstimme (4 Altmark-Ausgaben; 42.700) | 29 % |
Vogtland-Anzeiger (7.700) | Freie Presse (3 Vogtland-Ausgaben; 42.700) | 15 % |

Zu den Erfolgsfaktoren für das Etablieren von Zeitungen zählen neben einem niedrigen Abo-Preis Anzeigenkooperationen sowie vor allem die lokale Verankerung der Redakteure bzw. eine besondere lokale Ausrichtung der Zeitungen, was mit einem hohen personellen Aufwand einher geht.