Ohne Kriterien ist die normative Basis für Urteilsbildung nicht gegeben, kann also auch keine Urteilsbildung stattfinden. Von daher ist der expliziten Entwicklung von fallbezogenen Kriterien der Urteilsbildung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Wie funktioniert eine solche Entwicklung von Urteilskriterien? Auch hier ist wiederum darauf zu achten, dass die Erkenntnis von Wirklichkeit (Was-Ist-Fragen) keine hinreichende Basis für die Inkraftsetzung von Urteilskriterien ist. Urteilskriterien geben immer eine Antwort auf die Frage: Was soll sein, worauf sollen wir achten, wenn faktische Verhältnisse beurteilt werden sollen. Es ist ein folgenschwerer Irrtum, Urteilsbildung als Erkenntnisproblem aufzufassen.
Am Anfang moderner Denkweise steht die Maxime: "Durch die Erkenntnis dessen was ist, lässt sich nicht begründen, was sein soll." Die Trennung von Sein und Sollen ist eine Basis, um zum Kern der Urteilsbildung vorzustoßen. Gerade der kritische Rationalismus (K.R. Popper und H. Albert) hat wiederholt darauf hingewiesen, dass durch empirisch-analytische Wissenschaft die normative Basis von Entscheidungen nicht begründet werden kann. Ein Beispiel aus dem juristischen Alltag möge diese These untermauern: Kein Gericht, kein Richter kann ohne eine rechtliche Basis auch nur ein Urteil fällen. Willkürakte lassen sich nur dadurch überwinden, dass der Richter sich an das geltende Recht hält. Die normativen Gesichtspunkte sind zur Erkenntnisgewinnung über die Wirklichkeit unverzichtbar, denn sie steuern gleichsam wie Scheinwerfer die (wissenschaftliche) Erkenntnis der Wirklichkeit und die Wahrnehmung. Sie sind Relevanzgesichtspunkte für die empirisch-analytische Erkenntnis.
Typische Fehler bei der Gewinnung normativer Kriterien:
Einseitigkeit bei der Auswahl der normativen Gesichtspunkte
Falsche Gewichtung der normativen Kriterien
Undifferenzierte Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem
Verzicht auf die Durchführung des Verallgemeinerungstests bei der Inkraftsetzung der normativen Kriterien