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Analyse: Deutsche Kriegsreparationen an Polen? Hintergründe und Einschätzungen eines nicht nur innerpolnischen Streites | bpb.de

Analyse: Deutsche Kriegsreparationen an Polen? Hintergründe und Einschätzungen eines nicht nur innerpolnischen Streites

Prof. Dr. Stefan Garsztecki

/ 17 Minuten zu lesen

Die Forderung Polens an Deutschland, Reparaturen für die Kriegszerstörungen des NS-Regimes zu zahlen, steht auch 2018 wie ein Elefant im Raum der deutsch-polnischen Beziehungen. Was sind die Hintergründe dieser Forderungen und wie ist der Streit innen- und außenpolitisch einzuschätzen?

Eine Fotogalerie im Konzentrationslager Auschwitz I erinnert an die polnischen Opfer des Nationalsozialismus. (© picture-alliance)

Zusammenfassung

Die deutsch-polnischen Beziehungen werden auch im Jahr 2018 stark von historischen Themen und von dem streitigen Umgang mit Belastungen aus der Vergangenheit beeinflusst. Die im Jahr 2017 erneut erhobenen polnischen Reparationsforderungen an die Adresse Deutschlands sind allerdings nicht nur einer innenpolitisch motivierten Volte der aktuellen Regierung von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) geschuldet. Sie wurden in den letzten beiden Jahrzehnten im politischen Raum bereits mehrfach erhoben. Dahinter steht das in Polen weitverbreitete Gefühl, dass die NS-Vernichtungs- und Versklavungspolitik zwischen 1939 und 1945 gegenüber der Zivilbevölkerung, das enorme Maß von Kriegszerstörungen, die Deutschland Polen beigebracht hat, der Tod von fast sechs Millionen Staatsbürgern (ca. 17 Prozent der Gesamtbevölkerung) bis auf den heutigen Tag zu wenig wahrgenommen werden. Dazu kommen bis dato eher bescheidene Kompensationszahlungen des deutschen Staates. Ein bloßer Rückzug auf juristische Positionen dürfte das Problem nicht lösen. Hingegen könnte ein substantieller Beitrag Deutschlands zur Restitution polnischer Kultur zukunftsweisend sein.

Das Jahr 2015 – ein Neuanfang in den deutsch-polnischen Beziehungen?

Mit dem Regierungsantritt der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) nach den Parlamentswahlen im Herbst 2015 scheint ein neuer Abschnitt in den deutsch-polnischen Beziehungen begonnen zu haben, den viele Beobachter in Deutschland und in Polen sehr kritisch sehen. Ein großes Konfliktthema, das die Wahrnehmung Polens in Deutschland nachhaltig eintrübt, sind die von der PiS-Regierung initiierten Reformen des Justizwesens, die die Europäische Kommission veranlasst haben, ein Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit nach Artikel 7 des EU-Vertrages einzuleiten. Allerdings handelt es sich dabei letztlich um ein europäisches Thema. Anders verhält es sich bei einem anderen Problem, das seit letztem Jahr erneut die deutsch-polnischen Beziehungen belastet und das eindeutig dem bilateralen Bereich zuzuordnen ist, und zwar handelt es sich um die Frage der Kriegsreparationen.

Mehr als siebzig Jahre nach Kriegsende scheint die juristische, politische und gesellschaftliche Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges zwischen den beiden Nachbarn immer noch nicht abgeschlossen zu sein. Allerdings ist es ein Trugschluss, das erneute Aufkommen der Frage der Kriegsreparationen nur mit dem letzten Regierungswechsel in Polen zu verbinden. Zwar hat die PiS-geführte Regierung dieses Thema im Sommer 2017 auf die bilaterale Tagesordnung gesetzt und wiederholt es seitdem wie ein Mantra bei vielen bilateralen Treffen und Veranstaltungen durch Diplomaten und regierungsnahe Institutionen, tatsächlich ist dieser Sachverhalt aber im größeren Kontext der Diskussion über die deutschen Kriegsverbrechen und individuelle Entschädigungen für polnische Opfer der deutschen Terrorherrschaft in Polen seit 1990 aktuell. Die unterschiedlichen Akzentsetzungen in der jeweiligen deutschen respektive polnischen (auch in sich streitigen) Narration über den Zweiten Weltkrieg liefern dabei den Rahmen für dieses schwierige und komplexe Thema. Jede Debatte über Kriegsreparationen muss allerdings mit der deutschen Besatzungspolitik in Polen und der durch sie verursachten Schäden beginnen.

Kriegszerstörungen

Das Ausmaß der deutschen Kriegszerstörungen und der Charakter der deutschen Besatzung in Polen waren Fachhistorikern nicht nur in Polen, sondern auch in Deutschland natürlich lange bekannt, aber im gesellschaftlichen Bewusstsein beider Länder sehr unterschiedlich verankert. Während in Polen mehrere Generationen mit Erzählungen von Tadeusz Borowski über Auschwitz oder dem Buch "Medaillons" (poln. Medaliony) von Zofia Nałkowska, in dem sie Grausamkeiten der deutschen Besatzung schilderte, aufwuchsen, dominierten in Westdeutschland nach dem Ende der von den Westalliierten initiierten Entnazifizierung in den 1950er Jahren bis zu Beginn der 1960er Jahre eher Verdrängungsmechanismen, die erst die Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1966 aufbrechen sollten. Auch der genozidale Charakter der deutschen Besatzung in Polen auch gegenüber der polnischen Zivilbevölkerung wurde gesellschaftlich in größerem Umfang erst im Kontext der vom Hamburger Institut für Sozialforschung organisierten Wehrmachtsausstellung (1995–1999 und dann in einer überarbeiteten Fassung von 2001–2004) diskutiert, wobei diese in Polen erst einmal auf Unverständnis und Empörung stoßen musste, weil sich diese vor allem auf das Unternehmen Barbarossa, das heißt den Überfall auf die Sowjetunion 1941 und die damit verbundenen Verbrechen, konzentrierte und ignorierte, dass die systematischen Wehrmachtsverbrechen mit dem Überfall auf Polen schon in den ersten Septemberwochen 1939 begannen. Erst eine Ausstellung des Deutschen Historischen Instituts in Warschau aus dem Jahr 2005 nahm dann explizit die deutschen Verbrechen in Polen in den Fokus.

Die Bilanz deutscher Terrorherrschaft in Polen ist in der Tat verheerend. Zwischen fünf und sechs Millionen polnische Bürger verloren ihr Leben, darunter fast drei Millionen polnische Juden. Bei der Mehrheit handelte es sich um zivile Opfer (die überdies auch nach dem Ende der Kriegshandlungen noch ums Leben kamen), erschossen durch Einsatzgruppen, vergast in deutschen Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau, Majdanek, Chełmno, Treblinka, Sobibór und Bełżec oder umgebracht infolge von Zwangsarbeit, Lagerhaft oder damit verbundenen Entbehrungen. Dabei wurden nicht nur Juden Opfer eines Genozids, sondern auch Polen. Die Aktionen gegen die polnische Elite wie zum Beispiel die Sonderaktion Krakau, gerichtet gegen die Professoren der Krakauer Universitäten, oder die Rede Heinrich Himmlers am 4. Oktober 1943 in Posen vor SS-Gruppenführern, in der er den Völkern Osteuropas eine Sklavenrolle zuwies, belegen ebenso wie der Generalplan Ost und die Aktion Reinhardt den genozidalen Charakter der deutschen Besatzungspolitik in Polen auch gegenüber den ethnischen Polen. Das Ergebnis ist erschütternd. Nach einer unter schwierigen Nachkriegsbedingungen durchgeführten Volkszählung von 1946 lebten nach damaliger Zählung knapp 24 Millionen Menschen in dem territorial verkleinerten und westverschobenen Polen im Vergleich zu den knapp 35 Millionen im Jahr 1938. Im Jahr 1950 war die Bevölkerung dann auf 25 Millionen angewachsen.

Jenseits der Verluste von Menschen, die zwanzig Jahre Bevölkerungswachstum und Potential für die Zukunft zunichtemachten, sind auch die materiellen und immateriellen Zerstörungen enorm. Die völlige Vernichtung der polnischen Hauptstadt nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes, die Zerstörung der Infrastruktur, Wohnungen und Häuser, materieller Kulturgüter von 1000 Jahren, der Raub von polnischen Kulturgütern, die zum Teil bis heute nicht zurückgegeben wurden, all dies vernichtete unwiederbringlich polnische Kultur. Dass im Ergebnis des Krieges Polen als Siegermacht trotz des Kampfes gegen das nationalsozialistische Deutschland in das östliche Bündnissystem hineingezwängt wurde, seine politische Souveränität einbüßte und das sowjetische Modell mit totalitär-autoritären Strukturen und Planwirtschaft implementieren musste, ist ebenso wie der Verlust des für die polnische Kultur so wichtigen Ostens, der Kresy-Gebiete, direkt oder indirekt ein weiteres dramatisches Resultat des deutschen Angriffskrieges und der Besatzungsherrschaft.

Wie wurde nun angesichts dieser Kriegszerstörungen und der Menschenverluste mit legitimen polnischen individuellen und staatlichen Reparations- bzw. Entschädigungswünschen nach dem Krieg umgegangen?

Kriegsreparationen und die deutsch-polnischen Beziehungen

Bereits im Abschlussprotokoll vom 2. August 1945 am Ende der Konferenz von Potsdam (17. Juli bis 2. August 1945) hielten die Siegermächte USA, Großbritannien und Sowjetunion im Abschnitt IV eine Übereinkunft über die deutschen Reparationen fest. Danach sollten die sowjetischen Entschädigungsansprüche aus der Sowjetischen Besatzungszone bedient werden, die Sowjetunion ihrerseits daraus die Reparationsansprüche Polens bedienen. Zusätzlich sollte Moskau noch Anteile der industriellen Ausrüstung aus den westlichen Besatzungszonen erhalten, die für eine deutsche Friedenswirtschaft nicht notwendig waren. Nähere Details beispielsweise zur konkreten Aufteilung der Entnahmen wurden im Pariser Reparationsabkommen vom 14. Januar 1946 getroffen bzw. sollte sie der Alliierte Kontrollrat festlegen, der aber aufgrund des aufkommenden Kalten Krieges seine Arbeit im Februar 1948 praktisch einstellte. Auch die Alliierte Reparationskommission tagte letztmals im September 1945, während die in Paris am 14. Januar 1946 etablierte Interalliierte Reparationsagentur wiederum weder die Sowjetunion noch Polen, die beide keine Signatarmächte waren, umfasste.

Für Polen bedeutete dies, dass seine Ansprüche im Einklang mit dem Potsdamer Abkommen völlig von der Haltung Moskaus abhingen. Als die Sowjetunion schließlich am 22. August 1953 die Reparationen aus der DDR zum 1. Januar 1954 für beendet erklärte, hatte sie nach Schätzungen fast 3.000 Industriebetriebe demontiert und zudem erhebliche Mengen an Gütern aus der laufenden Produktion in der SBZ und der DDR entnommen. Aufgrund des sehr viel früheren Endes der Demontage in den westlichen Besatzungszonen leistete die DDR damit einen Großteil deutscher Reparationszahlungen. Nur einen Tag später, am 23. August 1953, folgte auch die polnische Regierung mit einer ähnlichen Erklärung und kündigte den Verzicht auf weitere Reparationen ab dem 1. Januar 1954 an. Anschließend waren Reparationen für den polnischen Staat bis zur deutschen Vereinigung kein Thema mehr.

Bereits im Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 war es der Bundesregierung gelungen, eine abschließende Regelung für die deutschen Auslandsschulden zu finden, die im Wesentlichen aus den Reparationsverpflichtungen des Ersten Weltkrieges bestanden. Es gelang Bonn, einen erheblichen Schuldenschnitt und einen günstigen Modus für die Zahlung der restlichen etwa 14 Milliarden DM zu finden. Die letzten Schulden wurden erst 2010 getilgt. Die Frage der Reparationen für den Zweiten Weltkrieg wurde hingegen bis zum Abschluss eines Friedensvertrages zurückgestellt, wozu es aufgrund des Kalten Krieges nicht kommen sollte. Da schließlich auch der Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 die Reparationsfrage nicht erwähnte, galten diese Ansprüche für die Bundesregierung als abgegolten und der Zwei-plus-Vier-Vertrag als Ersatz für den nie abgeschlossenen Friedensvertrag.

Anders sah es mit individuellen Entschädigungsleistungen aus. Anfang der 1990er Jahre schätzte der polnische Jurist Alfons Klafkowski, dass insgesamt 13,3 Millionen Polen zu Entschädigungszahlungen berechtigt seien, unter anderem Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Überlebende des NS-Lagersystems, ausgesiedelte Menschen sowie Witwen und Waisen der unterschiedlichen Opfergruppen. Aufgrund der schwierigen Situation der überwiegend älteren und zum Teil kranken Menschen entschied sich die Regierung unter Helmut Kohl (CDU/CSU – FDP) trotz der Ablehnung von Reparationszahlungen, 500 Millionen DM für Hilfsleistungen zur Verfügung zu stellen und einer noch zu gründenden Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung zu überweisen. In den Jahren 1992 bis 2004 wurde auf dieser Grundlage mehr als einer halben Million polnischer Opfer des Nationalsozialismus humanitäre Hilfe im Rahmen sogenannter Grundauszahlungen und Zusatzzahlungen in Höhe von über 732 Millionen Zloty ausgezahlt. Nach Auskunft der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung leben allerdings noch 40.000 ehemalige polnische Häftlinge von Konzentrationslagern, die keinerlei Entschädigung erhalten hätten.

Diese Leistungen waren keine Entschädigung, sondern eher eine symbolische humanitäre Hilfe aus Deutschland für Opfer von Verfolgungen. Bereits in den 1960er und 1970er Jahren hatte die Bundesrepublik Deutschland Zahlungen in Höhe von 140 Millionen DM für Opfer pseudomedizinischer Experimente geleistet. Um weitere individuelle Ansprüche zu bedienen, wurde von der Regierung von Gerhard Schröder (SPD – Bündnis 90/Die Grünen) schließlich am 17. Juli 2000 ein Abkommen mit der polnischen Regierung abgeschlossen, das Entschädigungen für ehemalige polnische Zwangsarbeiter vorsah. Für die Auszahlung der Entschädigungen wurde die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft im August 2000 gegründet. Von den dafür bestimmten 1,81 Milliarden DM wurden im Zeitraum 2001 bis 2006 fast 484.000 Menschen eine Summe von 3,5 Milliarden Zloty, etwa 975 Millionen DM, ausgezahlt. Da die polnische Regierung in einem Notenwechsel mit Deutschland bereits am 16. Oktober 1991 zugesagt hatte, keine weiteren Ansprüche polnischer Bürger im Zusammenhang mit NS-Verfolgungen zu stellen, schien das Thema individueller und gesamtstaatlicher Reparationen mit den erwähnten deutschen Zahlungen an polnische Opfer der NS-Zeit endgültig abgeschlossen zu sein.

Die aktuelle Reparationsdebatte

Die Reparationsdebatte kehrte jedoch im Kontext eines neuen deutschen Opferdiskurses und angesichts von Restitutionsforderungen deutscher Vertriebener, die diese durch die im Jahr 2000 gegründete Preußische Treuhand vortrugen, zurück.

Gegen Ende der 1990er Jahre hatte die in Deutschland geführte Debatte über deutsche Opfer des alliierten Bombenkrieges sowie von Flucht und Vertreibung für erhebliche Irritationen in Polen gesorgt. Auch Vertreter der politischen Linken in Polen hatten die Sorge, dass sich die Deutschen von ihrer Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg freimachen wollten. In diesen Kontext gehören seit 1999 auch Bemühungen des Bundes der Vertriebenen (BdV), ein Zentrum gegen Vertreibungen zu errichten und auf diese Weise an das Schicksal von Flucht und Vertreibung zu erinnern. Gerade Vertretern der älteren Generation in Polen fällt es schwer, den Heimatverlust der Deutschen vom Beginn des Krieges von den deutschen Gräueltaten in Polen zu lösen, so dass es nicht verwundert, dass das BdV-Projekt in Polen parteiübergreifend auf Ablehnung stieß.

Die Bundesregierung versuchte, den gordischen Knoten mit einer Ausstellung über Flucht und Vertreibungen mit international und historisch vergleichendem Ansatz unter dem Titel "Sichtbares Zeichen gegen Flucht und Vertreibung" zu lösen, die im Jahr 2008 als unselbständige Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in das Deutsche Historische Museums eingegliedert wurde. In die gleiche transnationale Richtung weist auch das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität, das im Jahr 2005 von den Kulturministern Deutschlands, Polens, Ungarns und der Slowakei ins Leben gerufen wurde und dem sich im Jahr 2014 auch Rumänien anschloss. Das Netzwerk thematisiert Geschichte und Erinnerungsdiskurse im 20. Jahrhundert, insbesondere in Zeiten von Unfreiheit und Diktatur, und legt Wert auf vergleichende und gemeinsame Erinnerung.

Schwieriger gestaltete sich die Diskussion rund um die Preußische Treuhand, deren Gründung im Jahr 2000 von der Landsmannschaft Ostpreußen initiiert worden war. Dieses Unternehmen versuchte nach dem Muster der Jewish Claims Conference Eigentumsansprüche ehemaliger Bewohner der deutschen Ostgebiete durchzusetzen und verklagte 2006 erfolglos den polnischen Staat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Nicht zuletzt diese Aktivitäten führten dazu, dass der damalige Stadtpräsident von Warschau, Lech Kaczyński (PiS), im Jahr 2004 ein Gutachten zur Schätzung der Verluste durch die Zerstörung Warschaus in Auftrag gab, die im Ergebnis auf 45,3 Milliarden US-Dollar beziffert wurden.

Auch der Sejm nahm sich dieses Themas an und verabschiedete am 10. September 2004 nahezu einstimmig (328 Ja-Stimmen, eine Enthaltung) eine Resolution, die erstens feststellte, dass Polen bis dato keine angemessenen Kompensationen für die Kriegsschäden erhalten habe, zweitens unterstrich, dass Polen keinerlei finanzielle Verpflichtungen gegenüber deutschen Bürgern habe, drittens die polnische Regierung zur Ermittlung der Kriegsschäden aufforderte und viertens an die deutsche Regierung appellierte, deutsche Bürger nicht in ihren Restitutionsansprüchen gegenüber dem polnischen Staat zu unterstützen. Den letzten Punkt hatte bereits vorab Bundeskanzler Gerhard Schröder aufgegriffen, als er anlässlich des 60. Jahrestages des Ausbruchs des Warschauer Aufstandes am 1. August 2004 in Warschau erklärte, dass die Bundesregierung Restitutionsansprüche deutscher Bürger nicht unterstützen werde. Die anderen Punkte des Sejm-Beschlusses fanden vorerst allerdings keinen Widerhall.

Die polnische Regierung stellte am 19. Oktober 2004 in einer Erklärung klar: "Die Erklärung vom 23. August 1953 wurde entsprechend der damaligen Verfassungsordnung unter Beachtung des Völkerrechts, welches in der UN-Charta festgelegt wurde, verabschiedet," eine Position, die noch im August 2017 von dem damaligen Vizeaußenminister Marek Magierowski auf eine Anfrage aus dem Sejm hin schriftlich bestätigt wurde.

Dies sollte sich im Spätsommer 2017 überraschend ändern, als nach Ansicht vieler Beobachter die andauernde Kritik westlicher Politiker und Medien und der Europäischen Kommission an der Reform des Justizwesens und der staatlichen Mediensteuerung den Vorsitzenden der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit, Jarosław Kaczyński, persönlich dazu veranlasste, das Thema Reparationen erneut auf die Tagesordnung zu setzen.

Ein am 29. September 2017 eingesetzter Parlamentsausschuss versucht seitdem, die Höhe der Entschädigungen zu ermitteln, die Polen aufgrund der Kriegszerstörungen seitens Deutschlands zustehen. Betont werden muss, dass sich der vom PiS-Abgeordneten Arkadiusz Mularczyk geführte Parlamentsausschuss ausschließlich aus PiS-Abgeordneten zusammensetzt. Lediglich ein Mitglied ist formal nicht Parteimitglied, aber über die PiS-Liste ins Parlament eingezogen.

Von dem Ausschuss werden Materialien, zum Teil unmittelbar aus der Nachkriegszeit, zusammengestellt, um letztlich im Frühjahr 2019 einen Bericht anzufertigen, der Grundlage für Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland sein soll. Dazu gehört ein vom Büro für Kriegsentschädigungen beim Präsidium des Ministerrates angefertigter "Bericht über Polens Verluste und Kriegsschäden in den Jahren 1939 bis 1945" aus dem Jahr 1947, der Grundlage für die aktuellen Schätzungen der Kriegsschäden in Höhe von 850 Milliarden US-Dollar ist. Versehen ist die überarbeitete Neuauflage, die durch Unterstützung der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung ermöglicht wurde, mit einem Vorwort von Mariusz Muszyński. Dieser war im Herbst 2015 von der PiS-Mehrheit im Sejm zum Richter am Verfassungsgericht gewählt worden. Im Vorwort der Neubearbeitung verurteilt Muszyński pauschal die polnischen Regierungen der Jahre 1989 bis 2005, da sie sich nicht um das Erinnern der Nation gekümmert hätten. Zugleich habe die Bundesrepublik Deutschland erfolgreich Geschichtspolitik betrieben, betrachte die Verbrechen der Vergangenheit als erledigt und stelle nun das deutsche Leiden in den Vordergrund. Ziel des Berichtes sei es allerdings nicht, so Muszyński weiter, alte Wunden aufzureißen, sondern die historische Wahrheit ans Licht zu bringen. Tatsächlich ist der über 70 Jahre alte Bericht eine Lektüre wert, trotz mancher Korrekturen, die an den Zahlen in der Zwischenzeit vorgenommen wurden. Zudem dürfte er keine vollständige Einschätzung der Polen zugefügten Kriegsschäden enthalten. Er zeigt aber aus polnischer Feder das Ausmaß des deutschen Besatzungsterrors in Polen in Zahlen.

Des Weiteren findet man auf der Homepage des genannten Parlamentsausschusses eine Publikation von Wojciech Kowalski von Anfang der 1990er Jahre über eine mögliche Restitution zerstörter polnischer Kulturgüter durch Ersatz aus deutschen Sammlungen. Interessant wird diese Publikation auch durch die Zusammenstellung zahlreicher zeitgenössischer Quellen nach dem Krieg und durch die Dokumentation der Tätigkeit des polnischen Büros für Kriegsentschädigungen.

Schließlich enthält die Webseite des Parlamentsausschusses noch einige juristische Einschätzungen zu den Chancen polnischer Reparationsforderungen. Während auf den Abschlussbericht des Parlamentsausschusses noch einige Monate gewartet werden muss, geht die Debatte in Polen weiter, unterstützt auch durch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des polnischen Parlamentes (Biuro Analiz Sejmowych – Büro für Sejm-Analysen) vom 6. September 2017, das die polnischen Reparationswünsche stützt. Ein zweites Gutachten stützte die Reparationsansprüche nicht und wurde für die weitere Diskussion nicht genutzt.

Das bereits am 28. August 2017 vorgelegte Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages mit dem Titel "Völkerrechtliche Grundlagen und Grenzen kriegsbedingter Reparationen unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-polnischen Situation" kommt in seinem Resümee zu dem Schluss, dass die Position der Bundesregierung, wonach keinerlei staatliche Reparationsansprüche mehr bestünden, wohl vom geltenden Völkerrecht gedeckt werde. Insbesondere wird auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag abgestellt, der zwar Reparationsansprüche gar nicht erwähnt, faktisch aber das im Londoner Schuldenabkommen enthaltene Moratorium in der Reparationsfrage beende, da er einer friedensvertraglichen Regelung gleichkomme und damit einen Friedensvertrag ersetze. Ferner wird auf die 1953 abgegebene Verzichtserklärung der polnischen Regierung, die 1970 wiederholt wurde, verwiesen und darauf, dass die polnische Regierung 1990 keinerlei Reparationsforderungen gestellt habe, was diese Angelegenheit endgültig erledige.

Auch individuelle Ansprüche sieht das Gutachten mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag als nicht mehr aktuell an, da sie nach Auffassung der Bundesregierung Bestandteil von Kriegsreparationen seien. Darüber hinaus kenne das Völkerrecht individuelle Ansprüche Einzelner an Staaten nicht.

Dem gegenüber kommt das polnische Rechtsgutachten von Robert Jastrzębski zu anderen Schlüssen und sieht polnische Reparationsforderungen als legitim an. Dafür werden vor dem Hintergrund der Kriegsschäden, die Deutschland Polen zugefügt hatte, eine Reihe von Gründen angeführt. Zunächst wird darauf verwiesen, dass die Entschädigungszahlungen an Polen beispielsweise an Opfer pseudomedizinischer Menschenversuche weniger als 1 Prozent der Summe ausmachten, die die Bundesrepublik Deutschland Bürgern anderer, westlicher Staaten und an Israel gezahlt habe. Ferner sei der vom Ministerrat der Volksrepublik Polen am 23. August 1953 ausgesprochene Verzicht auf Kriegsreparationen ungültig, da der Staatsrat für internationale Verträge zuständig gewesen sei. Auch weist das Gutachten jegliche Verjährung zurück, da dies für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht anwendbar sei. Schließlich habe der Zwei-plus-Vier-Vertrag die Frage der Reparationen überhaupt nicht berührt und könne somit diese Angelegenheit nicht abschließend regeln, zumal Polen an den Verhandlungen nicht beteiligt gewesen sei.

In der innerpolnischen Debatte, die sich seitdem entwickelt hat, werden Argumente für und gegen die von der PiS-Regierung eingenommene Rechtsposition angeführt. Insbesondere wird von den Reparationsbefürwortern immer wieder hervorgehoben, dass die Volksrepublik Polen kein souveräner Staat gewesen sei, so dass die polnische Regierung gar nicht ermächtigt gewesen wäre, einen Reparationsverzicht auszusprechen.

Selbstverständlich kann man für die These einer eingeschränkten polnischen Souveränität viele Tatsachen ins Feld führen, allerdings könnte dieses Argument weitreichende Implikationen nach sich ziehen. Dies betont Cezary Mik, der gleichfalls ein Gutachten für den Wissenschaftlichen Dienst des Sejm angefertigt hat, ohne dass dies im Jahr 2017 Erwähnung gefunden hätte. Neben dem Sejm-Beschluss vom 10. September 2004, der den polnischen Anspruch auf Reparationen betont, gab es am 20. September 2004 einen weiteren, letztlich nicht angenommen Vorschlag für einen Beschluss, der die Erklärung der polnischen Regierung vom 23. August 1953 für ungültig erklären sollte. Eine daraufhin durchgeführte Diskussionsveranstaltung legte die unterschiedlichen Bewertungen polnischer Juristen dar. Erörtert wurde unter anderem, ob der aktuelle Sejm des Jahres 2004 das Recht und die Kompetenzen habe, die Erklärung von 1953 für ungültig zu erklären, ob die damalige Regierung das Recht auf einen Reparationsverzicht gehabt habe, ob das Völkerrecht Argumente liefere, die damalige Entscheidung aufgrund des Drucks der Sowjetunion für ungültig zu erklären, ob die Erklärung von 1953 nicht einer nicht erfolgten Ratifizierung bedurft hätte und ob der Reparationsverzicht auch die Bundesrepublik Deutschland umfasse. Cezary Mik kommt als einer der befragten Experten im Jahr 2004 zu dem Schluss, dass ein Infrage­stellen der Ministerratserklärung das gesamte Rechtssystem der Volksrepublik Polen erschüttern würde und dies umfasse auch den deutsch-polnischen Grenzvertrag von 1990 oder den Beitritt zu den Vereinten Nationen, da die aktuelle Dritte Polnische Republik nolens volens Rechtsnachfolger der Volksrepublik Polen sei. Weitgehend einig sind sich die Experten, dass einseitige Erklärungen keiner Ratifizierung bedürften und völlig einig sind sie sich dahingehend, dass der Reparationsverzicht auch die Bundesrepublik Deutschland umfasst habe.

Andere Hinweise der polnischen Debatte zielen darauf ab, dass Polen seine ihm in Potsdam zugesagten Reparationsleistungen seitens der Sowjetunion nicht nur nicht erhalten habe, sondern dass die ungleichen Handelsverträge zwischen der Volksrepublik Polen und der Sowjetunion beispielsweise hinsichtlich des Verkaufs von Kohle zu einem günstigen Preis dazu geführt hätten, dass Polen kaum von den Reparationen profitiert habe. Demnach müsste Polen seine Forderungen an die Russische Föderation als Rechtsnachfolger der Sowjetunion richten.

Der in Deutschland im Zusammenhang mit der Reparationsfrage immer wieder formulierte Verweis auf die Kompensation durch den Gewinn der deutschen Ostgebiete wird von Karol Karski, einem Europa-Abgeordneten von der PiS, mit dem Verweis auf bilaterale Verträge beantwortet, die den Grenzvertrag begründen würden. Karski setzt auf Verhandlungen und Mediation, um polnische Restitutionsansprüche umzusetzen.

Von deutscher Seite wird die polnische Diskussion kaum wahrgenommen, sicherlich auch, weil man der PiS vor allem innenpolitische Motive unterstellt.

Ausblick

Trotz der kontroversen innerpolnischen Debatte bleibt zu fragen, wie dieser Konflikt endlich gelöst werden kann. Es ist auszuschließen, dass eine deutsche Regierung aufgrund der bestehenden Rechtslage Reparationsleistungen leisten wird. Erstens scheint das Argument der eingeschränkten Souveränität der Volksrepublik Polen völkerrechtlich kaum haltbar zu sein, zweitens haben polnische Verzichtserklärungen von 1953 und wiederholt bis 2017 sowie schließlich die Nichtthematisierung der Reparationsfrage multi- und bilateral 1990 einen Rechtszustand eintreten lassen, hinter den man 2018 nicht wieder zurückgehen kann, und drittens würde von deutscher Seite wohl der endgültige Verzicht auf die deutschen Ostgebiete im deutsch-polnischen Grenzvertrag von 1990 als Abgeltung von Reparationen ins Feld geführt werden. Aufgrund der unterschiedlichen Rechtspositionen scheint daher eine juristische Lösung vor nationalen oder internationalen Gerichten kaum vorstellbar und dürfte wohl keine Aussicht auf Erfolg haben. Eine juristische Behandlung des Themas würde sich zudem zum Nachteil der noch lebenden Opfer der NS-Herrschaft in Polen über Jahre hinziehen und das deutsch-polnische Verhältnis nachhaltig beschädigen.

Auf der anderen Seite ist kaum von der Hand zu weisen, dass Polen erstens als Staat keine nennenswerten Reparationszahlungen erhalten hat und dass zweitens die geleisteten individuellen Entschädigungen eher symbolische Zahlungen als reale Entsprechungen des erlittenen Unrechts oder der geleisteten Zwangsarbeit waren. Eine moralische Verpflichtung des deutschen Staates, dieses Thema aufzugreifen und einer Lösung zuzuführen, besteht daher zweifellos.

Wie könnte aber eine Lösung aussehen? Zunächst sollte versucht werden, noch bestehende individuelle Schadensersatzansprüche aus humanitären Gründen umgehend großzügig in Zusammenarbeit mit polnischen Behörden zu lösen. Hier drängt die Zeit.

Sodann ist die im kommenden Jahr zu erwartende Bilanz des polnischen Parlamentsausschusses zu prüfen und eine Diskussion über eine angemessene Kompensation dann 80 Jahre nach Kriegsausbruch zu führen. Eine aktuelle Zusammenstellung der polnischen Kriegsverluste und damit verknüpft eine Aktualisierung älterer Darstellungen hat einen historischen Wert. Darüber hinaus könnte von deutscher Seite zur Restitution polnischer Kulturgüter bzw. zu Dauerleihgaben und Schenkungen von Polonica aus deutschen Museen und Archiven beigetragen werden. Auch könnte sich Deutschland beispielsweise an dem Wiederaufbau des 1944 von Deutschen zerstörten Sächsischen Palais in Warschau, der gegenwärtig in Polen diskutiert wird, beteiligen. Ein hierfür eingerichteter und großzügig ausgestatteter Fonds würde ausschließlich der Restitution polnischer Kulturgüter dienen und wäre eine sinnvolle, wenn auch nur symbolische Kompensation für die deutsche Terrorherrschaft in Polen.

Eine Regelung der Reparationsfrage in diesem Sinne würde nicht nur die deutsch-polnischen Beziehungen entlasten, sondern könnte auch ein gutes Beispiel für die Überwindung kriegsbedingter Schäden sein, und zwar im Geiste guter Nachbarschaft.

Fussnoten

Prof. Dr. Stefan Garsztecki, Politologe und Historiker, hat seit 2010 die Professur für Kultur- und Länderstudien an der TU Chemnitz inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. die deutsch-polnischen Beziehungen, Geschichtspolitik in Ostmitteleuropa und die polnische Innenpolitik.