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Sinti und Roma als Feindbilder | Vorurteile | bpb.de

Inhalt Editorial Was sind Vorurteile? Fremde, Fremdsein - von der Normalität eines scheinbaren Problemzustandes "Fremde" in den Medien Türkische Minderheit in Deutschland Polenbilder in Deutschland seit 1945 Rassistische Vorurteile Antisemitismus Sinti und Roma als Feindbilder "Zigeuner" und Juden in der Literatur nach 1945 Vorurteile gegen sozial Schwache und Behinderte Stereotype des Ost-West-Gegensatzes Literaturhinweise und Internetadressen Autorinnen und Autoren, Impressum

Sinti und Roma als Feindbilder

Brigitte Mihok / Peter Widmann

/ 11 Minuten zu lesen

Roma-Kinder in einem Vorort von Paris, März 2010. (© picture-alliance/AP)

Einleitung

Vorurteil und Wirklichkeit tragen unterschiedliche Namen: Die Mehrheitsbevölkerung kennt diejenigen, die sich selbst als Sinti oder Roma bezeichnen, vor allem als "Zigeuner". Während über den Alltag der Sinti und Roma wenig bekannt ist, sind Klischees über "Zigeuner" weit verbreitet.

Roma-Kinder in einem Vorort von Paris, März 2010. Foto: AP

Von unheimlichen und verdächtigen Menschen ist auf der einen Seite die Rede, von Frauen in geblümten Röcken, die bettelnd in den Fußgängerzonen sitzen, von stehlenden Kindern oder Menschen, die angeblich auf anderer Leute Kosten leben. Neben solchen negativen Stereotypen verbinden viele Menschen mit dem Wort "Zigeuner" das, was ihnen in der modernen Leistungsgesellschaft fehlt: Freiheit und Naturverbundenheit, ein Leben auf der Reise, Zusammenhalt in der Gruppe, Musikalität, Magie und Geheimnis. In der Vorstellungswelt der Bevölkerungsmehrheit verkörpert der "Zigeuner" Gefahr und Idylle zugleich.

Abwehr herrscht gleichwohl vor. Den einschlägigen Umfragen seit den frühen 1960er Jahren zufolge sind "Zigeuner" in der Bundesrepublik mit Abstand die unbeliebteste aller Volksgruppen. 58 Prozent der Deutschen lehnten im Jahr 2002 "Zigeuner" als Nachbarn ab, wie das American Jewish Committee ermittelte. Auch in anderen europäischen Ländern ist die Abneigung gegen "Zigeuner" größer als die gegen Menschen anderer Herkunft. In einer Reihe von Umfragen zwischen 1996 und 2000 lehnten 87 Prozent der Slowaken Roma als Nachbarn ab. Ebenso äußerten sich 75 Prozent der Rumänen und 87 Prozent der Tschechen. Die Mitte der 1990er Jahre ermittelten Werte in Westeuropa liegen bei 65 Prozent in Großbritannien und 45 Prozent in Österreich.

Quellentext"Sinti und Roma" oder "Zigeuner"?

Den Begriff "Zigeuner" gibt es, seit diese Gruppe vor rund 600 Jahren in deutschsprachige Gebiete einwanderte. Möglicherweise leitet er sich aus dem Griechischen ab ("Die Unberührbaren"). Er wird heute mehrheitlich von den Angehörigen dieser Minderheit abgelehnt und als diskriminierend empfunden. Das ist verständlich, denn mit dem Wort "Zigeuner" wurden in Deutschland jahrhundertelang negative Zuschreibungen verbunden. In der Mehrheitsgesellschaft leitete man das Wort "Zigeuner" fälschlich von "ziehender Gauner" ab. Im Nationalsozialismus wurden Menschen als "Zigeuner" wegen ihrer angeblichen "Rassenzugehörigkeit" verfolgt und ermordet. Der Begriff ist also historisch belastet.
Seit Anfang der 1980er Jahre hat sich in der deutschen Öffentlichkeit die Bezeichnung "Sinti und Roma" eingebürgert. Die Eigenbezeichnungen "Sinti" und "Roma" sind seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nachweisbar. Mit dem Begriff "Roma" ("Rom" heißt in der Sprache Romanes "Mensch") bezeichnet man im deutschen Sprachgebiet die aus Ost- und Südosteuropa stammenden Gruppen der Minderheit. Außerhalb Deutschlands wird "Roma" als Bezeichnung für die Gesamtgruppe verwandt.
Der Begriff "Sinti und Roma" ist also aus guten Gründen an Stelle der Bezeichnung "Zigeuner" getreten. In der Auseinandersetzung um die Inschrift eines Mahnmals für den Völkermord an der Minderheit kritisierten einige Debattenteilnehmer allerdings, dass die Begriffe "Sinti" und "Roma" Gruppen wie Kale, Manusch oder Lowara nicht erfassen.

Singular (m.) Plural (m)
Sinto Sinti
Rom Roma
Singular (w.) Plural (w.)
Sintiza Sintiza
Romni Romnija

Brigitte Mihok/Peter Widmann/Rüdiger Fleiter

Hörensagen und Wirklichkeit

Die Ablehnung der "Zigeuner" dürfte kaum auf persönlicher Erfahrung beruhen. In Deutschland schätzt man die Zahl der Sinti und Roma auf etwa 70.000. Ohne besondere regionale Schwerpunkte leben sie über das ganze Land verteilt. Die Chance, Angehörige dieser kleinen Minderheit im Alltag kennen zu lernen, ist gering. Die Ablehnung fußt nicht auf realen Erlebnissen, sondern auf einer kollektiven Überlieferung. Die Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung lernen das, was sie über "Zigeuner" zu wissen glauben, aus Alltagsgesprächen, Romanen, Opern und Operetten, Filmen oder Presseberichten.

Die Vorstellungen der Bevölkerungsmehrheit haben kaum etwas mit Realität und Alltag der Volksgruppe gemein. Das zeigt schon die Verwendung des Begriffs "Zigeuner". Als homogenes Volk existieren "die Zigeuner" nicht. Sie gehören in Wirklichkeit verschiedenen Gruppen an, die in allen Ländern Europas und darüber hinaus leben. Man schätzt ihre Zahl in Europa auf sieben bis 8,5 Millionen. Jede Gruppe verfügt über eine besondere Identität, die sich in der jeweiligen Eigenbezeichnung spiegelt.

Ebenso entspricht die Vorstellung, Sinti und Roma seien heimatlose Nomaden, eher den Fantasien der Mehrheitsgesellschaft als der Wirklichkeit. Zwar lebte ein beträchtlicher Teil der Minderheit lange Zeit von mobilen Gewerben, vom Handel mit Textilien oder Kurzwaren, als Schmiede, Korb- und Siebmacher, als Musiker oder Schausteller. Der größte Teil der Sinti und Roma im deutschsprachigen Raum ist jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts sesshaft geworden. Auch Roma in Osteuropa sind seit den 1970er Jahren sesshaft. Trotzdem kursiert bis heute das Vorurteil vom "Wohnwagenzigeuner" weiter, der aufgrund seiner Lebensweise nicht in die Mehrheitsbevölkerung zu integrieren sei. So war die Ansicht eines "Spiegel"-Redakteurs typisch, der in einem Artikel vom 7. September 1992 Roma ein "nonkonformistisches Nomadenvolk" nannte, das die "wohl am schwersten integrierbare aller Zuwanderergruppen" sei. Auch das Bochumer Amtsgericht war im September 1996 der Meinung, "Zigeuner" seien für Vermieter unzumutbar, lebten sie doch "traditionsgemäß überwiegend nicht sesshaft".

So falsch wie das Stereotyp vom Nomaden ist die Vorstellung, Sinti und Roma folgten generell einer der Tradition verhafteten Lebensweise, die sie grundsätzlich von der Mehrheitsgesellschaft abhebe. Tatsächlich unterscheiden sich die Lebensstile innerhalb der Minderheit so stark wie diejenigen innerhalb der Mehrheit. Befragt man Sinti und Roma danach, was ihre Kultur ausmache, erhält man verschiedene, mitunter sich widersprechende Auskünfte. Neben der Sprache kehrt in den Antworten allenfalls die im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft höhere Wertschätzung von Familie und Verwandtschaft regelmäßig wieder. Respekt vor Älteren und familiärer Zusammenhalt sind in den Kulturen der Sinti und Roma wichtige Werte. Sie dürften im Zusammenhang mit der Verfolgungsgeschichte stehen: Weil sich Sinti und Roma auf die Hilfe aus der Mehrheitsgesellschaft nicht verlassen konnten, war die Solidarität in der Minderheit umso entscheidender.

Verfolgung und Ermordung

Aus der Sicht der Bevölkerungsmehrheit befanden sich Sinti und Roma lange Zeit außerhalb der festgefügten gesellschaftlichen Strukturen. Deshalb eigneten sie sich als Projektionsfläche für vielerlei Fantasien, Ängste und Wünsche der Mehrheitsgesellschaft. Man verdächtigte sie der Spionage ebenso wie der Kindesentführung oder der Zauberei. Dass es für die Vorwürfe keine Belege gab, verhinderte die Verfolgung der Volksgruppe nicht. Besonders intensiv wurde der Druck auf die Minderheit in Deutschland mit der Gründung des deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871. Durch den Zusammenschluss der deutschen Länder konnten die Behörden effektiver zusammenarbeiten. Ein Verwaltungskonzept bildete sich heraus, das scharfe polizeiliche Überwachung und strenge Aufenthaltsbeschränkungen mit sich brachte und damit Sinti und Roma zum ständigen Weiterziehen zwang. Die Aggressivität der Politik spiegelte sich schon in der Sprache wider: Als "Bekämpfung der Zigeunerplage" bezeichneten die Bürokraten ihr Vorgehen.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 bot die Voraussetzung, die Verfolgung der Sinti und Roma im Deutschen Reich zu verschärfen. In den ersten Jahren der Diktatur führten die Behörden zunächst die Überwachungspolitik der Weimarer Republik fort. Doch mit den Nürnberger Gesetzen von 1935 begann sich die nationalsozialistische Rassenpolitik auch gegen Sinti und Roma zu richten. Neben den Juden erklärte das NS-Regime auch die "Zigeuner" zu "Angehörigen artfremder Rassen" und verbot ihnen Ehen mit "Deutschblütigen". Ab 1935 errichteten viele deutsche Städte, etwa Berlin, Frankfurt am Main und Köln, "Zigeunerlager", in denen sie Sinti und Roma internierten. Die kommunalen Lager boten die Voraussetzung zur Deportation in Konzentrations- und Vernichtungslager. Über die Gesamtzahl der in Europa ermordeten Sinti und Roma existieren nur Schätzungen. Gesichert ist aber, dass allein in Deutschland die NS-Verfolgung rund 15.000 der 20.000 bis 25.000 als "Zigeuner" oder "Zigeunermischlinge" stigmatisierten Menschen das Leben gekostet hat. Nahezu jede Familie unter den deutschen Sinti und Roma hat Mitglieder im Völkermord verloren. Viele Sinti und Roma, die nicht ermordert wurden, ließen die NS-Behörden zwangsweise sterilisieren.

QuellentextVon der Schulbank nach Auschwitz

[...] Das entscheidende Mittel, um die deutschen Sinti und Roma endgültig aus den Schulen zu vertreiben, war der Erlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 15. Juni 1939, der bewusst nicht veröffentlicht wurde. Nach diesem Erlass konnten "Zigeunerkinder" von der Schule verwiesen werden, so weit sie in "sittlicher und sonstiger Beziehung für ihre deutschblütigen Mitschüler eine Gefahr bilden". [...]
Ein weiterer Runderlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 22. März 1941 hat die Überschrift "Zulassung von Zigeunern und Negermischlingen zum Besuch öffentlicher Volksschulen". In diesem Erlass wurde folgendes festgelegt: "Die Zulassung von Zigeunerkindern, die die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen und demgemäß nicht schulpflichtig sind, ist grundsätzlich abzulehnen." Weiter hieß es:
"Bei Zigeunerkindern, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und daher schulpflichtig sind, wird eine grundsätzliche Ablehnung der Aufnahme in die öffentlichen Volksschulen nicht angängig sein. Da die Zahl der Zigeunerkinder in der Regel hierfür nicht ausreicht, wird es auch nicht möglich sein, für sie besondere Schulen einzurichten. So weit solche Kinder in sittlicher oder sonstiger Beziehung für ihre deutschblütigen Mitschüler eine Gefahr bilden, können sie jedoch von der Schule verwiesen werden. In solchen Fällen wird es sich empfehlen, die Polizeibehörde entsprechend zu benachrichtigen. Bei der Behandlung von Negermischlingen ist nach den gleichen Grundsätzen zu verfahren. Dieser Erlass ist nicht zu veröffentlichen." [...]

Von der Gestapo aus der Schulbank geholt: Der Bericht des Sinto Herbert (Ricky) Adler
"Ich bin am 18. 12. 1928 in Dortmund geboren und bin dort fast drei Jahre zur Schule gegangen. Wir sind dann nach Frankfurt umgezogen, als mein Vater Postangestellter in Frankfurt im Postamt Süd wurde. Wir bewohnten hier eine Vierzimmerwohnung. So wurde ich in die Frankensteinerschule umgeschult und besuchte diese Schule von 1937 bis 1940.
Eines schönen Tages klopfte es an der Tür des Klassenzimmers, und wir als Lausbuben meinten, wir hätten etwas angestellt und dachten: Au, jetzt kriegste wieder eine druff. Der Rektor kam und sagte zu mir: 'Komm mal raus!' Der Lehrer fragte: 'Was ist denn los?' Der Rektor entgegnete: 'Ich muss mit dem Ricky mal sprechen.' Der Lehrer fragte: 'Was wollen Sie von ihm?' Sie gingen beide heraus, sprachen miteinander, und nach zehn Minuten kamen sie wieder herein. Der Lehrer sagte zu mir: 'Ricky, pass auf, da sind zwei Kriminalbeamte und die wollen dich mitnehmen. Du hast da was angestellt.' [...]
Wie ich raus kam, stand bereits mein Bruder Heinz, der eine Klasse höher war, unten auch mit Kriminalbeamten. Die schnappten uns, steckten uns in ein Polizeiauto. Wir wurden in die Lehrgasse gefahren. Dort hatten sie schon meinen Vater von der Post geholt sowie meine anderen Geschwister von der Freiherr-vom-Stein-Schule (früher Kaiser-Friedrich-Gymnasium). Nun waren wir in unserer Wohnung in der Lehrgasse. Dort sagten sie uns: 'Das und dies können Sie mitnehmen. Alles andere wird Ihnen morgen gebracht.' Mein Vater fragte: 'Was ist denn los, weshalb?' - 'Ich kann Ihnen nichts anderes sagen, nehmen Sie diese Sachen mit, alles andere bekommen Sie später.'
Wir wurden dann auf ein Lastauto geschmissen und in die Dieselstraße gebracht. Es war ein Zwangslager - ungefähr 200 mal 70 Meter groß. [...] Der Platz war eingezäunt und auf ihm stand eine Holzbude. In ihr saßen zwei Polizisten: Herr Müller und Herr Himmelheber. Wir mussten uns dort einzeln reinstellen und wurden aufgeschrieben. Ich bin von einer Vierzimmerwohnung in einen Wohnwagen gekommen; das war ein alter ausrangierter Möbelwagen, ohne Fenster, keine Toilette, kein Licht - gar nichts. Dort lebten wir zu neunt. Wir wussten gar nicht, was wir machen sollten. Wir waren Kinder und dachten, der Papa wird das schon regeln.
Da war ich 13 Jahre alt. Wir hatten nun den Wagen und in ihm befand sich ein Holzbett, ein Tisch und zwei Holzstühle und ein Fußboden - sonst gar nichts. Wir mussten um 18.00 Uhr dann alle zum Appell raus, dort wurde dann gezählt. So ging es eine ganze Zeit lang. Die Familien mussten sich alle einzeln melden. [...] Wir Kinder durften gar nicht mehr raus. Nur die Männer und Frauen, die Arbeit in Frankfurt hatten, durften das Lager verlassen. Ich war bis 1942 dort gewesen.
[...] Die Nazis meinten, das Lager müsse evakuiert werden, nämlich in das Lager in der Kruppstraße, das noch größer war. Dieses Lager war bewachter. Nachts lief die Polizei mit Hunden herum, damit keiner abhauen konnte, obwohl sowieso keiner raus konnte. [...]
Wir waren bis Mitte 1943 in der Kruppstraße gewesen. Dann wurde ein Transport nach Auschwitz zusammengestellt. [...] Wir wurden zum Ostbahnhof gebracht. Dort standen Viehwagen. In einen solchen Viehwagen wurden etwa 80 bis 100 Menschen eingepfercht. Es dauerte etwa drei Tage, bis wir in Auschwitz ankamen." [...]

Benjamin Ortmeyer, Schulzeit unterm Hitlerbild, Frankfurt/Main 2000, S. 132 ff.

Chancenungleichheit

Mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates und dem Ende der deutschen Okkupation Europas endete zwar die Rassenverfolgung, die Ausgrenzung der Sinti und Roma bestimmte jedoch auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Lage der Minderheit in der Bundesrepublik. Anders als gegen-über den Juden entwickelte sich gegenüber Sinti und Roma kein Bewusstsein dafür, dass die Minderheit unter dem NS-Regime ein Opfer der Rassenverfolgung geworden war. Über das Schicksal der Sinti und Roma gab es keine öffentliche Auseinandersetzung in den Medien, die Justiz erkannte sie nur zu einem kleinen Teil als berechtigte Empfänger von Wiedergutmachungsleistungen an. Selbst die Alliierten interessierten sich kaum für die Lage der Sinti und Roma. So konnte sich auch keine Auseinandersetzung mit gängigen Vorurteilen entwickeln, wie es beim Antisemitismus der Fall gewesen ist.

Die Stereotypen über "Zigeuner" wirkten weiter. Gerade auf der Ebene der Städte und Gemeinden orientierte sich die Verwaltung nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an der Praxis aus der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Das hatte Folgen für die rechtliche und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Sinti und Roma in der Bundesrepublik, vor allem aber auch für ihre wirtschaftliche Lage: Sie hatten weniger Chancen als andere Bevölkerungsteile, am wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik teilzuhaben.

Erst in den 1960er Jahren fanden sich die Kommunen damit ab, dass Sinti und Roma Nachbarn auf Dauer waren. Aus den provisorischen Unterkünften in Wohnwagen und selbstgebauten Holzhütten wurden einfache Betonbarackensiedlungen. Sie lagen weit außerhalb der städtischen Wohngebiete. Ein Beispiel dafür war etwa die Mundenhofer Siedlung in Freiburg im Breisgau. Sie befand sich unmittelbar neben dem Freiburger Rieselfeld, in dem die Abwässer der Stadt versickerten. In dieser und anderen Siedlungen wuchs ein Teil der jungen Generation wie in einem Getto heran - mit geringen Chancen auf gute Schulbildung sowie sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg.

Für die Mehrheitsbevölkerung schienen die Wohnbedingungen vieler Sinti und Roma die stereotypen Ansichten über sie zu bestätigen. Der Anblick der zum Teil verarmten, in Baracken lebenden Menschen passte zu den Vorstellungen von einem bestenfalls halbsesshaften Volk, das sich angeblich für die Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft nicht interessierte. Ein Teufelskreis war in Gang gekommen: Das Ergebnis der Ausgrenzung konnte man zur Rechtfertigung der Stereotype heranziehen, die zu weiterer Ausgrenzung führten.

Fortschritte seit Ende der 1970er Jahre

Dass es lange Zeit keine politische Vertretung der Sinti und Roma in Deutschland gegeben hat, trug zur Stabilität der Stereotype bei. Lange sprachen Vertreter der Mehrheitsgesellschaft in der Öffentlichkeit vor allem über Sinti und Roma, nicht mit ihnen. Das änderte sich erst Ende der 1970er Jahre. So besetzten zum Beispiel mehrere Sinti im April 1980 die KZ-Gedenkstätte Dachau, um auf die Verfolgung in der Vergangenheit und die Diskriminierung in der Gegenwart aufmerksam zu machen. Sie erregten mit dieser und ähnlichen Aktionen international Aufsehen und veränderten die Tonlage der öffentlichen Debatte. Äußeres Zeichen dafür war die Verbreitung der Selbstbezeichnungen "Sinti" und "Roma", die sich in den Jahren 1979 und 1980 in der Öffentlichkeit durchsetzten. Aus der Bürgerrechtsbewegung der späten 1970er Jahre ging 1982 der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hervor. Daneben entstanden andere Verbände, etwa der Rom e.V. in Köln oder die Roma-Union in Frankfurtam Main.

Die Verbände verschafften Sinti und Roma die Möglichkeit, Fälle offensichtlicher Diskriminierung zum Skandal zu machen. Es dürfte auch diese unausgesprochene Drohung gewesen sein, die in manchen Städten zu besseren Wohnbedingungen geführt hat. So trugen etwa im niederbayerischen Straubing auch die Beschwerden von Bürgerrechtsverbänden dazu bei, eine desolate Barackensiedlung im Laufe der 1980er Jahre durch Häuser nach dem Standard des sozialen Wohnungsbaus zu ersetzen.

Ähnliche Auswirkungen hatte bereits in den späten 1960er und in den 1970er Jahren die Professionalisierung der kommunalen Sozialarbeit. Eine neue Generation von Sozialarbeitern nahm die Chancenungleichheit für Sinti nicht mehr als Schicksal hin und brachte die Lage der Minderheit an die Öffentlichkeit. Das trug dazu bei, dass eine Reihe von Stadtverwaltungen Beratung, Schul- und Ausbildungshilfen für Sinti zur Verfügung stellte. Im Stadtteil Weingarten in Freiburg im Breisgau existiert zum Beispiel seit 1973 ein Gemeinschaftszentrum, dessen Mitarbeiter Schul- und Ausbildungshilfen für Sinti und andere Bevölkerungsgruppen anbieten. Das hatte seine Rückwirkungen auf die lokale Öffentlichkeit: In den Freiburger Zeitungen erscheinen Sinti seither nicht mehr als unintegrierbare Nomaden, sondern als Freiburger Bürger, als Teil der Stadtbevölkerung.

In den 1980er und 1990er Jahren haben Entwicklungen der Gesamtgesellschaft auch die Situation der deutschen Sinti und Roma geprägt. Die sozialen Lagen innerhalb von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft haben sich ausdifferenziert und sind unübersichtlicher geworden. Während ein Teil der Familien mit erheblichen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat, haben sich andere einen mittelständischen Wohlstand erarbeitet - mitunter allerdings um den Preis, dass ihre Herkunft der Umwelt verborgen bleibt. Nur ein Teil der Sinti und Roma hält heute noch an traditionellen Erwerbsformen fest, etwa am Handel mit Schrott, Antiquitäten, Musikinstrumenten oder am Schaustellergewerbe. Die flächendeckende Verbreitung von Supermärkten und die gestiegene Mobilität der Bevölkerung haben dem Haus-zu-Haus-Gewerbe weitgehend den Boden entzogen.

Manche junge Sinti und Roma hindert der Mangel an schulischer Qualifikation am Umsteigen auf Berufe außerhalb der gewohnten Gewerbe. Im traditioneller orientierten Teil der Minderheit war formale Schulbildung früher von untergeordneter Bedeutung, weil die Ausbildung innerhalb der Familien stattfand. Die Söhne lernten ihr Handwerk von den Vätern, die Töchter begleiteten ihre Mütter über die Dörfer beim Handel mit Textilien und Waren des täglichen Bedarfs.

Die Distanz zur Schule in diesem Teil der Minderheit ergab sich auch daraus, dass viele Kinder die Schule als Ort der Diskriminierung erlebten und oft ohne Überprüfung des Einzelfalls in Sonderschulen eingewiesen wurden. Zwar besuchen inzwischen auch die Kinder aus traditioneller orientierten Familien regelmäßig die Schule. Doch die rasch steigenden Qualifikationsforderungen des Arbeitsmarktes und die Jugendarbeitslosigkeit erschweren den Aufholprozess.

Auf einer Legende fußt allerdings die Ansicht, die Ablehnung formaler Schulbildung sei ein Kulturelement der Sinti und Roma. Die meisten Angehörigen der Minderheit sehen in der Schulbildung einen wichtigen Schlüssel für das wirtschaftliche Fortkommen und die gesellschaftliche Gleichberechtigung.

Für viele Familien ist die Entscheidung zwischen Tradition und den Anforderungen der modernen Konkurrenzgesellschaft eine schmerzhafte Gratwanderung, berührt sie doch gewohnte Rollenverständnisse, Kultur und Identität. Um etwa ein Angestelltenverhältnis einzugehen, muss die traditionell hohe Wertschätzung der Selbstständigkeit hintangestellt werden. Die Weichenstellungen finden in der Privatsphäre der Familien statt. Entsprechend individuell sind die Wege, die gerade die jüngere Generation einschlägt. Für die Zukunft dürfte ausschlaggebend sein, dass die Entscheidungen in einer angstfreien Atmosphäre fallen können. Das setzt voraus, dass sich die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, speziell auch die Arbeitgeber, mit den überkommenen Stereotypen auseinander setzen.

Rückschläge seit 1989

Die Bürgerrechtsarbeit konnte zwar dazu beitragen, dass traditionelle Stereotypen öffentliche Diskussionen über Sinti und Roma nicht mehr allein bestimmten. Doch seit dem Ende der 1980er Jahre zeigte sich, wie zäh gewohnte Wahrnehmungsmuster sind. Seit Öffnung der Grenzen nach Osteuropa ab 1989 hat die Angst vor dem "Zigeuner" wieder zugenommen.

Im Frühjahr 1990 wuchs etwa die Zuwanderung aus Rumänien und damit die Furcht vor einer unkontrollierten Einwanderung von "Zigeunern". Die Medien gaben bereits zu Beginn dieser Migration an, wie hoch der Anteil der Roma unter den Flüchtlingen sei. Im Mai und Juni 1990 konnte man Berliner Tageszeitungen entnehmen, dass "rund 80 Prozent der Rumänen Roma und Sinti" seien ("Tagesspiegel" vom 15. und 16. Mai sowie vom 27. Juni 1990; "Tageszeitung" vom 18. Mai 1990). Am 30. Mai 1990 meldete der "Tagesspiegel": "Die größte Gruppe der Asylbewerber, die sich in Berlin melden, sind Sinti und Roma. In diesem Monat kamen bis einschließlich Montag 3496 Asylbewerber, davon 1717 Sinti und Roma." Am 10. August 1990 folgte der Hinweis: "Der größte Teil von ihnen, nämlich 55 Prozent, seien derzeit Roma aus Rumänien."

Diese statistischen Angaben beruhten jedoch auf einem unsicheren Fundament, da den offiziellen Statistiken nur das Herkunftsland der Zuwanderer zu entnehmen war, nicht ihre ethnische Zugehörigkeit. Erst 1999 führte das Bundesamt die Erfassung der ethnischen Zugehörigkeit der Asylbewerber aus der Türkei (Türken und Kurden) und der Asylbewerber aus dem Kosovo (Albaner, Serben und Roma) ein.

Obwohl die Zahlen also nur begrenzte Aussagekraft hatten und aus anderen Ländern durchaus vergleichbar große Menschengruppen Asyl in Deutschland suchten, stießen rumänische Roma auf besondere Befürchtungen. In der Presse erschienen sie immer wieder als eine homogene Masse von Nomaden, denen Deutschland hilflos ausgeliefert sei. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen haben die in dieser Zeit regelmäßig wiederkehrenden Pauschalisierungen analysiert. Sie zeigten sich auch in der Sprache. Während Anfang des Jahres 1990 noch der Begriff "Sinti und Roma" überwog, verwandten die Journalisten ab Mitte des gleichen Jahres wieder den Begriff "Zigeuner". Die sachliche Auseinandersetzung mit der Situation der Roma trat in den Hintergrund.

Zwischen 2001 und 2004 wurden im Hinblick auf die EU-Erweiterung die alten Stereotypen wieder hervorgeholt. Viele Pressemeldungen und Fernsehberichte nährten erneut die Furcht vor einer unkontrollierten Einwanderung von osteuropäischen "Zigeunern". So zeigen diese Phasen, wie viel Geduld nötig ist, um tief in das kollektive Bewusstsein eingesunkene Vorurteile abzubauen.

QuellentextDiskriminierung in Europa

Die vom Europarat gegründete unabhängige Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) hat am 27. Januar in Straßburg fünf neue Berichte über Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Intoleranz in Belgien, Bulgarien, Norwegen, der Slowakei und der Schweiz veröffentlicht. Die ECRI stellt fest, dass sich Fortschritte in allen fünf Mitgliedsstaaten des Europarates zeigten. Im Vergleich schneidet die Schweiz wegen ihrer aktiven Politik zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit recht gut ab, auch wenn weiterhin Defizite bestehen. Zugleich aber erregen die Fälle von polizeilichem Fehlverhalten und diskriminierender Behandlung der Angehörigen von Minderheiten, vor allem Schwarzafrikanern, Besorgnis, heißt es in dem Bericht. Über das Thema Asylsuchende und Flüchtlinge werde negativ und feindlich in der Öffentlichkeit und in politischen Kreisen debattiert, und bei Asylverfahren gebe es Probleme.
In Belgien beanstandet ECRI vor allem die rassistische und fremdenfeindliche Propaganda politischer Parteien. Es seien erhebliche Anstrengungen notwendig, um sicher zu stellen, dass für Ausländer und Kinder von Immigranten echte Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt herrschten. Die gesamte belgische Gesellschaft müsse geschlossen gegen den zunehmenden Antisemitismus und die wachsende Angst vor dem Islam vorgehen.
Im Bericht zu Bulgarien werden die immer noch vorhandenen Stereotype und Vorurteile gegenüber Minderheiten und deren Diskriminierung, vor allem der Roma, von Immigranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden hervorgehoben. Ernsthafte Probleme bereite weiterhin die Gewaltanwendung der Polizei gegen Roma und der intensive Gebrauch von Schusswaffen. Besonders hebt die Kommission das Problem der Ausgrenzung von Roma-Kindern in der Schule hervor. Außerdem hebe das neue, 2002 verabschiedete Religionsgesetz nicht alle Einschränkungen der Religionsfreiheit in Bulgarien auf.
In Norwegen richtet die ECRI ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Notwendigkeit, einen angemessenen Schutz gegen rassistische Äußerungen zu gewährleisten. Es müsse noch viel getan werden, um sicher zu stellen, dass Ausländer und Kinder von Einwanderern die gleichen Chancen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt haben. Auch in anderen Bereichen des Zusammenlebens in Norwegen stellen eine Reihe von Problemen der Einwanderer und Asylsuchenden noch große Herausforderungen an die Politik.
In der Slowakei kommt es noch immer zu rassistisch motivierter Gewalt, darunter auch schwere Fälle von Brutalität seitens der Polizei. Die Minderheit der Roma wird benachteiligt, vor allem auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Nachdrücklich verlangt die ECRI eine vollständige und unparteiische Untersuchung der jüngsten Vorwürfe, Roma-Frauen seien ohne ihr Einverständnis sterilisiert worden.

Hartmut Hausmann, "Neben Lob auch viel Tadel", in: Das Parlament Nr. 7/8 vom 16. Februar 2004.