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"Arabs got Talent": Populärkultur als Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen

Sonja Hegasy

/ 13 Minuten zu lesen

Im Zentrum der in diesem Beitrag skizzierten Massenkultur steht der Ruf nach individueller Ausdrucksfreiheit und Teilhabe. Sie ist nicht nur Ausdruck einer Nivellierung, sondern stellt auch überkommene Loyalitäten und Autoritäten infrage.

Einleitung

"Protests were all I had left. I wasn't part of any official political groups any more, any secret cells; shouting at the top of my lungs, getting riled up, watching a few old friends who'd become capitalists or informants or Muslim Brotherhood or spectators, that was all I had left." Mekkawi Said, Cairo Swan Song, Kairo 2006.

Um die Hintergründe der aktuellen Umbrüche in der arabischen Welt zu verstehen, ist es wichtig, kulturelle Veränderungen mindestens der vergangenen 20 Jahre zu betrachten. Dies betrifft Film, Musik, Kunst, moderne beziehungsweise postmoderne Literatur ebenso wie die Anfänge des Internets. Entgegen langjährig gehegten Annahmen, war die arabische Welt kein "schwarzes Loch" auf der Landkarte der kulturellen Globalisierung. Inzwischen nutzen etwa 33,5 Prozent der Bevölkerung das Internet. Seit 2000 ist die Anzahl der Nutzerinnen und Nutzer um das 23-fache gestiegen. Mit Erstaunen nahmen die Öffentlichkeiten außerhalb Nordafrikas Anfang 2011 eine ihr bislang unbekannte Jugend und Jugendkultur wahr, war der Islam doch bisher angeblich eine allumfassende Religion, die selbst das Privatleben junger Frauen und Männer bis in die intimsten Details regelte.

Zwar wandte man sich auch in den westlichen Staaten vehement gegen das patriarchale Verständnis einer vorgeblich wortgetreuen Auslegung des Korans, vergaß über die Beschäftigung mit den Fundamentalisten aber häufig die jungen Pragmatiker, die sich ein eigenes Weltbild zusammensetzten. Natürlich entwickeln auch junge Christen und Muslime ihre Lebensentwürfe aus verschiedenen, miteinander konkurrierenden Elementen (bricolage). Insbesondere in dem immer längeren Lebensabschnitt zwischen Schulabschuss und Familiengründung ändern sich Identitäten ständig - und zum Teil radikal. Dies kann auch bedeuten, dass man sich - nur vorübergehend - einer extremistischen Gruppe anschließt. Mit Blick auf die immer wieder postulierte Normativität muslimischer Texte aber wurden die praktischen Bruchstellen innerhalb der arabischen Gesellschaften übersehen.

In vielen Familien gelang während der 1960er Jahre in nur einer Generation der Sprung vom Analphabeten zum Universitätsabsolventen. Diese Generation konnte sowohl von Entkolonialisierung und Nationalisierung der Wirtschaft als auch von der Bildungsrevolution dieser Zeit profitieren. Ihre Studentenbewegung fand übrigens zehn Jahre später statt als in Europa (Ende der 1970er Jahre) und markiert für viele den Beginn ihrer Politisierung an den Universitäten der arabischen Welt. Der Ausbau der Bildungsinstitutionen und die demografische Entwicklung seitdem führten in Marokko, Algerien, Tunesien und Ägypten zu einem hohen Anteil arbeitsloser Akademiker, aber auch zur Migration innerhalb der Region. Immerhin verdreifachte sich die Bevölkerung zwischen 1970 und 2010 nahezu von 128 auf 359 Millionen Einwohner.

Das geringe europäische Interesse an Entwicklungen außerhalb von Religion und politischem Islam zeigt sich sowohl im Bereich der Hochkultur als auch in der Populärkultur. Die Vielfalt sufischer Bewegungen (muslimische Mystiker) und ihr Einfluss auf die Popmusik und Literatur in den arabischen Gesellschaften wurde ebenso wenig wahrgenommen wie nichtreligiöse Künstlerinnen und Künstler. Andrew Hammond vergleicht den Rückgriff auf musikalische Elemente des Sufismus in der Popkultur der vergangenen 20 Jahre mit der Vereinnahmung der jüdischen mystischen Tradition Kabbala durch die US-amerikanische Sängerin Madonna und verweist dazu auf Popstars wie den Ägypter Mohammed Mounir, die Algerier Cheb Khaled, Faudel und Rachid Taha oder den tunesischen Schlagersänger Saber Rubai, die mystischen Tanz und Gesänge erfolgreich in populäre Musik integriert haben.

Elemente der Mobilisierung

Mona El Ghobashy identifiziert für Ägypten drei Mobilisierungsgruppen, die in den Protesten Anfang 2011 zusammenfanden: Bündnisse am Arbeitsplatz, Nichtregierungsorganisationen und Nachbarschaftsgruppen. Diese Gruppen haben die gleichen Erfahrungen gemacht: Sie haben einen brutalen Polizei- und Obrigkeitsstaat kennengelernt, sie litten unter den sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit, Wohnungsmangel und rasant steigenden Lebenshaltungskosten, und sie mussten dem Aufstieg einer rücksichtslosen Wirtschaftselite um den jungen Gamal Mubarak zusehen. Der Stahlmagnat Ahmed Ezz gilt als herausragendes Symbol des korrupten und dekadenten Aufstiegs dieser sogenannten Gamal-Mubarak-Boys in Politik und Wirtschaft. Bilder, die Ezz zeigten, wie er sich nach dem Freitagsgebet an einer Moschee die Schuhe zubinden ließ, habe es seit den Zeiten König Faruks nicht mehr gegeben, empörten sich einige Ägypter. Ezz wurde am 17. Februar 2011 festgenommen und steht derzeit zusammen mit dem ehemaligen Innenminister Habib al Adly und anderen vor Gericht.

Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun beschreibt die Demonstrationen in Nordafrika als "moralische und ethische Protestbewegungen. Sie lehnen radikal und ohne Zugeständnisse Autoritarismus, Korruption und den Diebstahl staatlicher Güter ab; sie erheben sich gegen Nepotismus, Günstlingswirtschaft, Erniedrigung und illegitime Machtübernahme (...). Die Protestierenden wollen eine saubere Moral in Gesellschaften einführen, die so sehr ausgeplündert und erniedrigt worden sind. Deswegen handelt es sich nicht um eine ideologische Revolution. Es gibt keine Führungspersönlichkeiten, keine Chefs, keine Parteien, die die Revolte tragen." Auch im Vorfeld der ägyptischen Demonstrationen ist es in Kairo zu Selbstverbrennungen gekommen, welche diese Perspektivlosigkeit deutlich zeigen: Der Restaurantbesitzer Abdou Abdel Moneim Jaafar aus Ismailia zündete sich am 17. Januar 2011 vor dem ägyptischen Parlament an wie auch der Rechtsanwalt Mohammed Farouk Hassan einen Tag später. Mohammed Ashour Sorour, Angestellter der Egypt Air, starb am 18. Januar 2011 vor dem Sitz des Journalistenverbands.

Zeitungen und Widerstand

In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Medienlandschaft in der arabischen Welt stark ausdifferenziert. Insbesondere in Nordafrika wuchs der Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt in den 1990er Jahren stetig an. Trotz bis heute anhaltender politischer Einflussnahme und Fällen von Zensur wurden immer neue Printmedien gegründet. Auch wenn Oppositionsparteien in der Region nur marginal in den Parlamenten vertreten waren, so haben ihre parteieigenen Zeitungen in der Vergangenheit doch immer wieder eine wichtige Rolle für die öffentliche Debatte gespielt. Neben oppositionellen Tages- und Wochenzeitungen, die zum Teil mehrere Neugründungen durchlebten, um ihrem Verbot zu trotzen, entwickelte sich eine Boulevardpresse, die Korruption und Nepotismus ebenso deutlich aufs Korn nahm wie die Qualitätspresse. Auch das vitale Interesse junger Erwachsener an individualisierten Freizeitaktivitäten fernab von gemeinsamen Aktivitäten mit der traditionellen Großfamilie manifestiert sich im Zeitschriftenmarkt. Immer neue Frauen-, Männer-, Lifestyle-, IT-, Sport- und Kulturmagazine sind in den vergangenen 20 Jahren (neben einer Flut islamistischer Pamphlete) auf den arabischen Markt gebracht worden.

In Ägypten machten in den 1990er Jahren insbesondere vier Printmedien mit ihrer beißenden Kritik an Mubarak Furore: die Parteizeitung "Al-Schaab" ("Das Volk", gegründet 1979) unter dem ehemaligen Marxisten und anschließenden Anhänger der iranischen Revolution Adel Hussein, die Wochenzeitschrift "Rose al-Yusuf" (der Name ihrer libanesischen Gründerin 1925), "Al-Dustur" ("Die Verfassung", im Jahr 1995 gegründet von Ibrahim Eissa), und "Al-Masry al-Yawm" ("Der Ägypter heute", gegründet 2003). Unter Adel Hammouda (Chefredakteur von 1992 bis 1998) stieg die Auflage von "Rose al-Yusuf" von 8000 auf 150000 Exemplare. Zwar gehört "Rose al-Yusuf" zum weitverzweigten Imperium der Regierungsmedien, die radikal-säkulare und extrem regimekritische Haltung Hammoudas wurde aber offensichtlich unter Mubarak toleriert, um in den 1990er Jahren ein Gegengewicht zur islamistischen Presse zu halten. 2000 veröffentlichte Hammouda eine Anklageschrift mit acht Porträts korrupter Geschäftsleute unter dem Titel "Sie fliehen mit den Milliarden Ägyptens. Das Geheimnis von Rami Lakah und Mahmud Wahba". Ibrahim Eissa und Adel Hammouda wurden die enfants terribles des ägyptischen Journalismus gegen Korruption und Willkür und motivierten eine ganze Generation junger ägyptischer Journalisten (Adel Hussein starb bereits 2001). Beide veröffentlichten harsche Kritik an Mubaraks Regime, dem Einfluss seiner Familie, einer möglichen Machtübergabe an Gamal Mubarak, der herrschenden Einheitspartei NDP, der Westbindung, Korruption und Vetternwirtschaft. 1998 wurde Adel Hammouda als Kolumnist in das regierungstreue Flagschiff "Al-Ahram" zwangsversetzt. Und "Al-Dustur" (Leitspruch: "Die Gemeinschaft ist die Quelle der Macht") wurde im selben Jahr die Druckerlaubnis entzogen. Ibrahim Eissa selbst wurde mehrmals zu Geld- und Haftstrafen verurteilt, unter anderem für einen Artikel über den Gesundheitszustand des Präsidenten. 2005 gründete er "Al-Dustur" erneut. Allerdings schränkte ein neues Pressegesetz ein Jahr später die Pressefreiheit gerade in den vergangenen Jahren stark ein. Trotzdem veröffentlichte Eissa in dem alteingesessenen ägyptischen Verlag Madbouly eine Auswahl seiner Aufsätze unter dem Titel "Meine Schriften. Über Mubarak, seine Ära und sein Ägypten" (Kairo 2007). Nach der Absetzung Mubaraks gründete Eissa eine weitere Zeitung unter dem Namen "Garida al-Tahrir" ("Zeitschrift der Befreiung") sowie einen Fernsehkanal.

Schon im Sommer 2009 hatte eine Gruppe unabhängiger Journalisten in Kairo die erste Nachrichtenwebseite gegründet, die lokale Nachrichten für ein globales Publikum aufbereitet. "Bikya masr" bedeutet so viel wie "Ägypten entrümpeln". Bis heute arbeitet die Redaktion ehrenamtlich, um unabhängig von privaten Investoren und politischen Parteien zu bleiben. Nur wenige Tage vor Beginn der Proteste auf dem Tahrir-Platz kam im Januar 2011 das ebenfalls selbstfinanzierte Comic-Magazin "Toktok" heraus. Ein Jahr lang bereitete sich eine Gruppe von acht Künstlerinnen und Künstlern um den Zeichner Shennawy vor, um nach langer Zeit wieder ein reines Comic-Magazin für Erwachsene herauszubringen. "Toktok" steht für eine Reihe satirischer und humoristischer Kulturprodukte, die in den vergangenen Jahren aus der Region kamen. Auch in den Wirren der Umbrüche hat sich "Toktok" halten können; im Sommer 2011 erschien die dritte Ausgabe.

Medien, Masse und Massenkultur

Während in Deutschland Dieter Bohlen und Heidi Klum "Superstars" suchen, wird in Malaysia der beste Gemeindevorsteher oder in der Realityshow "Stars of Science" aus Katar werden die besten nahöstlichen Nachwuchswissenschaftler gesucht. 2009 gab es 5600 junge Bewerber aus der Region; ein Jahr später kamen von 7000 Bewerbern 125 in die engere Wahl. Eine Jury reiste in verschiedene Länder, um 16 Erfinder auszusuchen, die anschließend im "Qatar Science and Technology Park" die Möglichkeit bekamen, mit professioneller Unterstützung und einem üppigen Budget einen Prototypen zu entwickeln. Zwar berichtet auch hier eine TV-Show täglich aus dem Leben im Container, aber es wird nicht in der Art ähnlicher Formate 24 Stunden lang gefilmt. Nur Teile, die mit der Projektentwicklung, der Auseinandersetzung mit den Experten und Designern, Probleme und Anpassungen der Modelle zu tun haben, werden in der Sendung ausgestrahlt. Auch werden keine Kandidaten herausgewählt. Wer nicht mehr weiter kommt, hilft den übrigen bei ihren Projekten. Am Ende stellen sie ihre Erfindung als Team in einer Liveshow vor. Millionen von Fernsehzuschauer entscheiden schließlich zusammen mit der Jury, wem der erste Preis gebührt.

Insgesamt 600000 US-Dollar werden auf vier Preise verteilt. Die Palette von Ideen umfasste so unterschiedliche Erfindungen wie ein Gerät zur Bestimmung der Qualität von Speiseöl des 26-jährigen Mohammed Orsod aus dem Sudan, ein Scanner für Mobiltelefone, um die persönliche Verträglichkeit eines Lebensmittels zu testen, der 26-jährigen Wahiba Chair aus Algerien oder ein kabelloses Ladegerät für Mobiltelefone des 21-jährigen Marokkaners Yasser Ramil. In der ersten Staffel gewann der 22-jährige Libanese Bassam Jalgha mit einem automatischen Stimmgerät für arabische Saiteninstrumente.

Zu den fundiertesten Arbeiten über Massenkultur und Jugend in der arabischen Welt gehören die Publikationen des Kulturethnologen Walter Armbrust, der seit 20 Jahren über Modernität und Massenmedien forscht. In einem Beitrag über die Verbreitung von Musikvideoclips aus dem Jahr 2005 stellt Armbrust genau jene Doppeldeutigkeit dar, die Talentshows und der Popkultur im Allgemeinen innewohnt. Sicherlich ist die Zunahme dieser Art von Unterhaltung Ausdruck einer Kommerzialisierung von Entwürfen des eigenen Lebenswegs im Privaten wie im Öffentlichen. Und es gibt genug Intellektuelle in der arabischen Welt, die diese Kommerzialisierung ebenso verurteilen wie die damit verbundene "Amerikanisierung". Auf der anderen Seite thematisiert Popkultur auch für arabische Jugendliche viele ihrer gravierenden Probleme wie Ehe und Sexualität, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Autorität und Selbstbestimmung.

Popkultur kann beides: Sie bricht soziale Konventionen auf und stellt neue auf. Aber sie basiert auch auf vorgefertigten, globalen Konventionen. Popkultur verbreitet Elemente des Konformismus ebenso wie der Rebellion. Gesellschaftlicher Wandel manifestiert sich hier kulturell und bringt wiederum gesellschaftlichen Wandel hervor. Sie mag zwar in manchen Fällen aus einer Subkultur entstehen, sie ist jedoch nicht per se eine Subkultur. Es kommt jeweils auf die inhaltliche und symbolische Ausgestaltung an. Natürlich gibt es genug Shows und Clips, die soziale wie ökonomische Unterdrückungsmechanismen perpetuieren: "Videoclips will not undermine the foundations of society, but they are part of longstanding tensions over the status of youth in a patriarchal culture. Nor will video clips liberate the individual and usher in a blossoming of democracy, though there is no question that they are a powerful palette for sketching out ideas about sexuality and the body." Spielshows, Realityshows, Videoclips, Popsongs können eine Form des kulturellen Widerstands gegen den Puritanismus des saudischen Wahabismus darstellen. So ist es kein Wunder, dass konservative Religionsgelehrte in allen Ländern gegen diese Popkultur agitieren. In manchen Fällen konnten sie sogar das Verbot durchsetzen, wie 2004 bei "Star Academy" des libanesischen Senders "LBC" und bei einer Adaption von "Big Brother" auf "MBC" im selben Jahr.

Auch die Suche nach dem besten Dichter der arabischen Welt reflektiert die radikalen gesellschaftlichen Veränderungen: 2010 gewann die saudische Dichterin Hissa Hilal den dritten Platz in der Sendung "Poet of Millions" mit einem Gedicht in traditioneller Versform gegen die menschenverachtenden Gelehrtenmeinungen einiger überalterter Religionsgelehrter. Seit fünf Jahren verfolgen Millionen Zuschauer die wöchentliche Poesieshow aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Man muss die Teilnahme von Hissa Hilal auch als Teil des Kampfs um die Deutungshoheit verstehen, wie er zwar nicht nur, aber auch in der Popkultur ausgetragen wird. Schon gibt es die ersten islamistischen hetzerischen Gedichte gegen Hissa Hilal im Netz. Der Islamwissenschaftler Albrecht Hofheinz merkte 2005 an, dass "Internet is one factor that in tandem with others (satellite tv, youth culture, the 'globalization' of consumer products, social networks, and ideational configurations) is creating a dynamic of change that is helping to erode the legitimacy of traditional authority structures in family, society, culture/religion, and also the state, and thus creating pressure for reform. Slowly and not without setbacks, but in the end inexorably, young people are claiming 'private' spaces of freedom that are influencing their social attitudes. In the face of this process, ideas on the relations between state, society, and the individual that may have been generally accepted for generations are changing, and the Internet is the medium where such change is often most vigorously expressed."

Natürlich gibt es auch klassische Show-Formate, in denen junge Talente singen, tanzen, beatboxen, rappen, Ballet tanzen oder Akrobatik vorführen. So begann der von saudischen Geschäftsleuten finanzierte Sender "Middle East Broadcasting Center 4" ("MBC 4") am 14. Januar 2011 mit der Adaption einer amerikanischen Talentshow unter dem Titel "Arabs got Talent". Und Ende Juni 2011 brachte "MBC 1" den Sängerwettbewerb "Arab Idol" heraus. "MBC" wurde 1991 in London gegründet und war der erste panarabische, private und kostenlose Satellitenkanal. 2002 verlegte der Sender seinen Hauptsitz nach Dubai. Wie fast alle arabischen Medien produziert "MBC" insbesondere für den saudischen Markt. Inhalte werden dementsprechend hergestellt, zensiert, internationale Spielfilme werden gekürzt. Trotzdem ist ein Blick auf diese Formate wichtig, eben weil sie äußerst populär sind und Massen erreichen, von denen das Kino oder der Roman nur träumen kann. "MBC" spricht von 130 bis 150 Millionen Zuschauern.

Armbrust weist zu Recht darauf hin, dass die Popkultur des 20. Jahrhunderts Erfolg schon immer mit moderner Bildung verknüpft hat; dies ist keine Erfindung des Satellitenfernsehens oder der Spielshows. Trotzdem wurde in der Wissenschaft die Beschäftigung mit der Hochkultur bevorzugt. Verschiedene Wissenschaftler haben dazu angemerkt, dass auch sie das Bild von Hoch-, Massen- und Populärkultur, von Kunst und Kommerz, verzerren, da sie selbst bestimmte Vorlieben hegen. Armbrust hat dies in Bezug auf Ägypten treffend zusammengefasst: "The chief barrier to studying Egyptian popular culture is that it is commercial and oriented toward an Arabic speaking market. Commercial culture is sometimes depicted as erasing authentic non-Western cultures, and in Egypt the dilution of local culture by Western influence is, in fact, a common element in both artistic performance and critical opinion on the part of layman and expert alike. But to interpret Egyptian popular culture either as a straightforward imitation of the West or, conversely, as cryptic resistance to hegemonic power, would as often as not lead one to misunderstand the character of the art."

Individuelle Ausdrucksfreiheit durch Massenkultur

Im Zentrum der hier nur kursorisch zusammengestellten Medien vom Comic-Magazin bis zur Talentshow steht der Ruf nach individueller Ausdrucksfreiheit, nach Teilhabe und Wahlfreiheit des Individuums. Wahlfreiheit ist im Übrigen keine Erfindung des Neoliberalismus. Auch Individualismus ist zunächst ein wertfreier Begriff. Er kann positive, emanzipatorische Auswirkungen haben wie auch negative - wie zunehmender Egoismus oder die Vereinzelung des Menschen. Jahrhundertealte Loyalitäten zerbrechen im Prozess der Individualisierung ebenso wie überkommene Autoritäten.

Spielshows sind nicht allein Ausdruck einer nivellierenden, neoliberalen Massenkultur. Man darf sie nicht nur als Kopie westlicher Wirtschaftsgüter abtun, sondern sollte über die Gemeinsamkeit in der Form hinaus die spezifische Aneignung in lokalen Kontexten erkennen. Im Mittelpunkt dieser Talentshows steht die eigenständige Entscheidungs- und Meinungsbildung. In der Region nutzen verschiedene Medien Shows wie diese, um stolz über das eigene Innovations- und Kreativitätspotenzial zu berichten. Wer 2009 mit einem der 7000 Kandidaten und Kandidatinnen von "Stars of Science" gesprochen hätte, hätte vielleicht etwas mehr über die Lebenssituation einer Vielzahl junger Menschen, ihre Hoffnungen und Visionen für die Zukunft erfahren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zur arabischen Postmoderne: Angelika Neuwirth/Andreas Pflitsch/Barbara Winkler (Hrsg.), Arabische Literatur, postmodern, München 2004.

  2. So der Stand am 30. Juni 2011, online: www.internetworldstats.com/middle.htm (26.8.2011).

  3. Vgl. für eine kritische Auseinandersetzung mit der "Ethnologie des Islams": Samuli Schielke, Second Thoughts About the Anthropology of Islam, or How to Make Sense of Grand Schemes in Everyday Life, ZMO Working Papers, Berlin 2010.

  4. Vgl. Sonja Hegasy, Die Säkularisierung des arabischen Denkens, in: APuZ, (2009) 24, S. 3-8.

  5. Vgl. Andrew Hammond, Popular Culture in the Arab World. Arts, Politics, and the Media, Kairo 2006, S. 82.

  6. Vgl. Mona El Ghobashy, The Praxis of the Egyptian Revolution, in: MERIP, (2011) 258, online: www.merip.org/mer/mer258/praxis-egyptian-revolution (28.8.2011).

  7. Tahar Ben Jelloun, Arabischer Frühling. Vom Wiedererlangen der arabischen Würde, Bonn 2011 (bpb-Schriftenreihe Band 1140).

  8. Auch im Bereich der Presse leistet sich das ägyptische Regime einen aufgeblähten Staatsapparat: Ende der 1990er Jahre gab es acht staatliche Verlage, die über 50 Zeitungen und Zeitschriften herausbrachten und 28000 Angestellte beschäftigten.

  9. Vgl. Webseite des Magazins: www.toktokmag.com (28.8.2011).

  10. Walter Armbrust, What would Sayyid Qutb Say? Some Reflections on Video Clips, in: American University Cairo Press (ed.), Culture Wars: The Arabic Music Video Controversy, Kairo 2005, S. 28.

  11. Albrecht Hofheinz, The Internet in the Arab World: Playground for Political Liberalization, in: Internationale Politik und Gesellschaft, Bonn 2005, S. 95.

  12. Walter Armbrust, Mass Culture and Modernism in Egypt, Cambridge 1996, S. 3.

Dr. phil, geb. 1967; Vize-Direktorin, Zentrum Moderner Orient (ZMO), Kirchweg 33, 14129 Berlin. E-Mail Link: sonja.hegasy@rz.hu-berlin.de