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Digitale Teilhabe als Voraussetzung für soziale Teilhabe (Hamburg, 11.Mai 2017) | Presse | bpb.de

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Digitale Teilhabe als Voraussetzung für soziale Teilhabe (Hamburg, 11.Mai 2017) Keynote zum DIVSI-Bucerius Forum in Hamburg

/ 17 Minuten zu lesen

Sehr geehrte Damen und Herren,

diese Tagung steht unter dem Titel „Ohne digitale Teilhabe keine soziale Teilhabe“. Lassen Sie mich zunächst letztere in den Blick nehmen. Wenn wir uns um soziale Teilhabe bemühen – dann stellt sich erstmal die Frage, an welchem Punkt wir sagen können, dass wir mit unseren Bemühungen Erfolg hatten? Wann haben wir einen Zustand erreicht, in dem jedes Mitglied unserer Gesellschaft aktiv in Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse eingebunden ist, Respekt und Anerkennung gewinnen, ein vollwertiges kulturelles und soziales Leben führen kann? Seien wir realistisch: Diesen Zustand wird es in seiner Vollendung nie geben.

Soziale Teilhabe im weiteren Sinne einer Einbeziehung von Individuen und Organisationen in gesellschaftliche Prozesse ist kein fester Zustand, der einmal erreicht wird und dann fortbesteht. Sie ist ein vielschichtiger und dynamischer Prozess, der in unterschiedliche Gesellschaftsbereiche hineinwirkt und dort immer wieder auf veränderte Rahmenbedingungen stößt. Soziale Teilhabe ermöglicht auf einer gemeinschaftlichen Ebene Beziehungen, Zusammenhalt, Integration und Solidarität.

Wenn wir auf eine Teilhabe aller hinarbeiten, setzen wir der populistischen Abwertung von Minderheitengruppen oder der Ideologie des Nationalismus das Gegenmodell einer kohäsiven, solidarischen Gesellschaft entgegen. Damit kann Ängsten vor Zerfaserung, Ausgrenzung und sozialem Abstieg begegnet werden, ohne auf eine offene Gesellschaft zu verzichten. Neue technische, ökonomische und soziale Entwicklungen stellen unsere Gesellschaft vor neue Herausforderungen. Um soziale Teilhabe zu erreichen, ist es notwendig, diese Herausforderungen zeitig zu erkennen und zu meistern.

Neue Erfindungen, Trends oder Gesetze können den Zugang von Einzelnen zum Gemeinschaftsleben erleichtern. Sie können ihn aber auch erschweren. Es ist deshalb keine Option, sich entspannt auf die positiven Versprechen neuer Entwicklungen zu verlassen. Jede neue Technologie, jedes Gesetz muss auch darauf geprüft werden, wo Barrieren aufgebaut werden, statt sie zu überwinden. Der Prozess, mit dem wir uns jetzt und in den kommenden Jahren auseinandersetzen müssen, ist die Digitalisierung. In bestimmten Bereichen und für bestimmte Personen ist sie ein massiver Fortschritt für soziale Teilhabe. In anderen Bereichen kann sie eine neue Barriere darstellen.

Es freut mich darum, dass der Aspekt der sozialen Teilhabe seinen Weg in die Debatte über Digitalisierung gefunden hat und wir uns heute im Rahmen des Forums mit dieser Frage auseinandersetzen.

Ich möchte in den kommenden Minuten die exkludierenden, aber auch die inkludierenden Aspekte der digitalen Gesellschaft aufzeigen – und erläutern, warum in einer sich digitalisierenden Gesellschaft Fragen der Teilhabe neu verhandelt werden müssen. Ich möchte herausstellen, warum soziale Teilhabe heute selbstverständlich Voraussetzung für digitale Teilhabe ist – und umgekehrt. Daraus geht unmittelbar die Verantwortung hervor, uns mit Digitalisierungsfragen im Hinblick auf gesellschaftliche Inklusion zu beschäftigen.

Warum ist das auch ein Thema, das die politische Bildung seit Jahren beschäftigt? Nicht nur, weil sich Orte, Instrumente und Formate des Politischen und damit auch unserer Profession gewandelt haben – Ohne digitale Angebote kann man heutzutage in der politische Bildung einpacken.

Sondern auch weil sich durch die Veränderungen neue Anforderungen an die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger ergeben – und damit sind wir beim Kerngeschäft der politischen Bildung.

Eckpunkte der digitalen Gesellschaft

Wir haben alle schon öfter den Begriff der “Digitalen Gesellschaft” gehört. Die Digitalisierung durchdringt nicht nur auf technischer, sondern auch auf semantischer Ebene alle Schichten und scheint überall präsent zu sein.

Der Begriff erscheint uns so axiomatisch, so „unanzweifelbar“, dass wir nur noch selten darüber sprechen, was genau wir eigentlich meinen, wenn wir von der digitalen Gesellschaft sprechen. Lassen Sie mich deshalb einen Schritt zurücktreten und versuchen, den Blick für das digitale Element unserer Gesellschaft zu schärfen. Die Digitalisierung als zunehmende Übertragung analoger Konzepte in Daten und die damit verbundene Verknüpfung und Ausschöpfung dieser Daten ändert grundlegend die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft Wert schöpfen. Der Übergang von der industriellen zur Informationsgesellschaft ist in seiner Bedeutung vermutlich ebenso groß wie der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Digitale Informationen lassen sich unendlich oft wiedergeben und können fast ohne zusätzliche Kosten kopiert werden. Daraus leiten sich völlig neue Marktmechanismen für immaterielle Güter ab. Dezentrale Kommunikation in Echtzeit über riesige Distanzen hinweg eröffnet neue Möglichkeiten der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kooperation. Die digitale Gesellschaft ist geprägt von einer stärkeren Individualisierung mit fluiden Gemeinschaften, die weniger lokal begründet sind, sondern sich in stetig wechselnden Partikularinteressen beständig neu konstituieren.

Das eröffnet neue Möglichkeiten des sozialen Miteinanders und neue Verbindungen zwischen Menschen – Aber auch Formen der Ausgrenzung und Gefahren für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Viele Menschen haben große Angst vor den technischen Veränderungen: Gerade wenn ihre Kompetenz und Routine im Umgang mit neuen Technologien ungenügend ist, haben sie das Gefühl, den Anschluss an die Gesellschaft zu verlieren. Gut ausgebildete, eigentlich fest integrierte Bürgerinnen und Bürger fühlen sich plötzlich bedroht und unzureichend, wenn sie nicht die Möglichkeit haben, souverän mit der Vernetzung umzugehen. Das Ausmaß dessen kann man erahnen, wenn man auf heutige Jugendliche schaut. Die Sinus-Jugendstudie 2016, zu deren Auftraggebern auch die bpb zählt, sagt dazu mit Blick auf die 14- bis 17-Jährigen: [Zitat] „WhatsApp, Instagram & Co sind unverzichtbare Infrastruktur für soziale Teilhabe […] Gar nicht mit anderen Jugendlichen online vernetzt zu sein, ist ungewöhnlich und wird mit Außenseitertum gleichgesetzt. Wer online nicht dabei ist, ist auch sonst ‚draußen‘. Digitale Teilhabe wird somit zur sozialen Teilhabe.” [Zitat Ende] Doch die neuen Herausforderungen an die soziale Teilhabe reichen weiter, als das „Mitreden können“ über aktuelle Memes und Netflix-Serien oder die Nutzung von Messenger-Diensten, um mit Gleichaltrigen in Kontakt zu bleiben.

Ich möchte zur Verdeutlichung den Blick vor allem auf zwei Bereiche lenken: auf die Arbeitswelt und die Politik. Warum der Fokus auf diese beiden Bereiche? Weil in einer Arbeitsgesellschaft wie der unsrigen soziale Teilhabe in erster Linie durch Teilhabe in und an der Arbeitswelt organisiert wird. Und weil Politik der Ort ist, an dem die Rahmenbedingungen des Zusammenlebens verhandelt und kodifiziert werden. Außerdem sind beides Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens, die sich gerade mitten im Prozess der Adaption des Digitalen befinden.

Fokus: Arbeitswelt

Industrie und Politik sind in ihrer Selbstreflexion bereits so weit gegangen, der Umwälzung der Arbeitswelt einen eigenen Begriff zu geben: Industrie 4.0. Seit 2011 wird er als Chiffre für die komplexen Prozesse der digitalen Umgestaltung der Arbeitswelt benutzt und ist inzwischen genauso geläufig wie das – inzwischen schon leicht angestaubt klingende – Web 2.0. Hinter dem Begriff steht aber mehr als nur eine kurzfristige Marketingstrategie. Es geht im Kern um die Frage: Wie wird die Arbeitswelt von Morgen aussehen? und als Ergänzung weitergedacht: Welchen Platz wird der Mensch darin ausfüllen? Es wird für die wenigsten hier eine Überraschung darstellen, dass die Digitalisierung den Arbeitsalltag bereits so tief durchdrungen hat, dass es heute nahezu undenkbar ist, ein erfolgreiches Unternehmen ohne Breitbandinternet zu führen. Besprechungen finden über „Voice over IP“-Systeme statt, Backup Daten werden in Cloudspeichern gehostet, Projektarbeit findet mit virtuellen Tools statt, selbst der Kaffeebedarf der Belegschaft wird durch eine datenbankbasierte Lösung erst analysiert und dann bedient. Die Zeiten, in denen die deutsche Wirtschaft adäquat durch einen rußverschmierten Minenarbeiter oder einen schraubenschlüsselbewehrten Mechaniker repräsentiert werden konnte, sind wohl unwiederbringlich vorbei. Die Arbeit der Zukunft wird sich vielmehr mit dem Design von Prozessen befassen als mit ihrer Umsetzung.

Dafür haben wir bisher noch gar keine anschauliche Darstellung, was die vielen Symbolbilder von Robotern, Tastaturen und Bildschirmen in Zeitungen belegen. Der Aufstieg von Firmen, deren Geschäftsmodell nicht mehr in erster Linie auf Rohstoffe, sondern auf Daten als Quelle angewiesen ist, bietet uns vielleicht ein gutes Anschauungsobjekt für die Veränderungen der Arbeitswelt. In Zukunft wird die nahtlose und intuitive Bedienung digitaler Schnittstellen eine ähnlich unersetzliche Kernkompetenz darstellen, wie heute das Lesen und Schreiben. In dem Maße, wie Maschinen den Menschen schwere und monotone Arbeit abnehmen, wird der klassische analoge Arbeiter immer mehr zur Ausnahme. An dieser Stelle hält die Veränderung aber nicht inne.

Wir werden nicht nur die digitale Transformation bestehender Berufsbilder erleben, sondern auch die Marginalisierung von heute bedeutenden und etablierten Berufen und Tätigkeiten.

Die datengesteuerte Automatisierung kann dafür sorgen, die soziale Ungleichheit voranzutreiben: Die sozial Benachteiligten werden ihre neu gewonnene Zeit für mehr Arbeit einsetzen müssen, um den automatisierten Fortschritt zu halten – während die Privilegierten neue Räume für die eigene Kultivierung und kreative Weiterbildung nutzen können. Wir müssen daher auch darüber reden, wie und wofür Datenverarbeitung und -sammlung in diesem Zusammenhang genutzt werden kann und sollte, um die Teilhabe aller zu gewährleisten. Die Frage, wie wir der Marginalisierung von Menschen entgegentreten, ist eine der zentralen Fragen unserer Zeit – und sie ist eilig: Denn wir richten uns zunehmend damit ein, dass Datenmonopolisten unsere Alltags- und Arbeitswelt gestalten.

Dieser Trend wird sich verschärfen, wenn es nicht gelingen sollte, Strukturen der Mitbestimmung aus der analogen in die digitale Welt zu übersetzen. Dabei geht es nicht nur um den Wandel von Berufsbildern, sondern auch um die Gestaltung humaner Arbeitsbedingungen: Damit möglichst viele von den Potenzialen der Flexibilisierung, Selbstbestimmung, Individualisierung sowie räumlichen und zeitlichen Entgrenzung von Arbeitswelten profitieren, brauchen wir ein entsprechendes Regelwerk. Was wir außerdem dringend benötigen sind Ideen, Gestaltungskraft und Visionen für alternative Modelle, die uns allen nutzen und an denen alle Menschen mitgestalten können. Ich möchte gleich auf die Mittel zu sprechen kommen, die wir zu der Beantwortung dieser Frage brauchen. Doch lassen Sie mich zunächst über den Bereich der Politik sprechen.

Fokus: Politik Wohin die Digitalisierung führen kann, lässt sich exemplarisch an etwas belegen, das der Soziologe Christoph Kucklick als „Granulare Politik“ bezeichnet hat. Granulare Politik beschreibt einen diagnostizierten Ist-Zustand, in dem der Politik – insbesondere dem einzelnen Wahlkämpfer – eine Unmenge an Daten über potenzielle Wählerinnen und Wähler vorliegen. Man kann diesem Begriff ohne große Mühe einen fluiden Charakter unterstellen, wenn man berücksichtigt, dass die Methoden und das Ausmaß der Datensammlung sich in der kommenden Zeit eher weiter- als zurückentwickeln werden. Ich möchte den Begriff also in seiner prozessualen Form verstehen und als „Granularisierung der Politik“ bezeichnen. Mit Hilfe der soeben erwähnten Daten kann eine individuelle Werbestrategie für zuvor identifizierte Gruppen von Wählerinnen und Wählern vorgenommen werden. Die Granulare Politik hat es aus diesem Grund nicht nötig, ihre Programmatik unter Slogans zu stellen, die möglichst breite Bevölkerungsteile zugleich ansprechen. Vielmehr kann man sich genau darauf konzentrieren, maßgeschneiderte Botschaften selektiv an einzelne potenzielle Wählergruppen zu senden. Die Gesellschaft wird in diesem Bild von der Politik nicht mehr holistisch als eine Gesamtgröße, sondern partikular als Ansammlung von Einzelinteressen begriffen. Weitergedacht bedeutet dies auch, dass die digitale Datenerhebung und Auswertung die Grundlage für politische Entscheidungen bildet, die dann allerdings weiterhin in einem klassischen parlamentarischen Rahmen ablaufen. Die Transparenz des Prozesses erhöht sich also vonseiten der Wählerinnen und Wähler, wohingegen er auf der Seite der Politik stagniert.

Davon abgesehen steht auch die Frage im Raum, ob die Bedienung von Partikularinteressen den Anspruch erfüllen kann, eine zusammenhängende, auf Konsens bedachte Gesamtpolitik zu liefern, der ein bestimmtes Menschen- und Weltbild unterliegt. Dieser Effekt ist nicht exklusiv in der Politik anzutreffen. Auch in anderen Bereichen der Gesellschaft lässt sich eine beständige Erosion gemeinschaftsstiftender Institutionen und Erfahrungen beobachten. Durch die Möglichkeiten der Digitalisierung ist die Bandbreite an möglichen Informationsquellen ebenso gewachsen wie die sichtbare Vielfalt an Erfahrungen. Ebenso wird es einfacher, sich mit Menschen zu vernetzen, die einen ähnlichen Hintergrund, Erfahrungs- und Erlebnishorizont haben. Was auf den ersten Blick nach einer rein positiven Entwicklung aussieht, hat einen lange unterschätzten Effekt: Während zum einen die Bestätigung der eigenen Erfahrungswelt zunimmt, nehmen gleichzeitig der Austausch und die Überschneidung mit anderen Erfahrungswelten ab. Es kommt leicht zur Bildung einer gesellschaftlichen Echokammer, in der sich das spezifische Set an Erfahrungen, Meinungen und Einstellungen der jeweiligen Gruppe so stark gegenseitig bestärkt und spiegelt, dass der Bezug zu anderen gesellschaftlichen Gruppen aus dem Blick gerät. Im schlimmsten Fall führt die Resonanz der eigenen Stimme in einer Spirale der Bestätigung zur Radikalisierung.

Sogar Fremdbezeichnungen wie “Die neue Rechte”, “Gutmenschen” und “Wutbürger” sind Attribuierungen, die eine eigene Kohäsionskraft entwickeln können, allerdings nur auf die eigene Gruppe bezogen – nicht auf die Gesamtgesellschaft. Klientelberichterstattung und gegenseitige Selbstbestätigung stärken den Partikular-, niemals aber den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Man hat es in einem solchen Fall mit einer fragmentierten oder „granularisierten“ Gesellschaft zu tun. Im Gegensatz zur räumlichen Trennung von Schichten und Milieus vergangener Zeiten, erleben wir, wie auf derselben Plattform – beispielsweise Facebook – verschiedene Gruppen mit eigenen Auffassungen, eigenen Normen und Begrifflichkeiten nebeneinander stehen, ohne sich gegenseitig zu begegnen. In der jüngsten Zeit beobachten wir, wie durch diese Prozesse sogar die Wahrheit fragmentiert wird. Annahmen über Fakten und Hintergründe variieren mit der Gruppenzugehörigkeit. Je stärker die Echokammern werden, desto schwerer wird es für die einzelnen Gruppen, miteinander zu reden, da nicht einmal mehr Einigkeit über beobachtbare oder messbare Prozesse herrscht. Jede Gruppe verfügt über eigene Statistiken, eigene Bilder, eigene Erzählungen von Geschehnissen der Gegenwart. Die Unmöglichkeit einer gesamtgesellschaftlichen Kommunikation schwächt die Zivilgesellschaft in ihrer Handlungsfähigkeit. Wer sich nicht über Geschehnisse verständigen kann, kann sich zum Beispiel auch nicht gegen den Missbrauch von Macht wehren.

Die Manipulationsmöglichkeiten in solch einem Umfeld sind enorm. Zu Propagandazwecken werden schon heute parallele Wirklichkeiten aufgebaut, gegen die kein Faktencheck mehr ankommt – weil er in seiner eigenen Subgruppe verhaftet bleibt.

All diese Beobachtungen zeigen, dass das Potenzial deliberativer Demokratieinstrumente umschlagen kann in die Beförderung einer „Meinungs-Oligarchie“.

Um aus einer Ansammlung einzelner Gruppen aber ein solidarisches Gemeinwesen zu bilden, bedarf es der Kommunikation über bestehende Grenzen hinaus. Es braucht Wege, um Brücken schlagen zu können oder um einen Dialog zu initiieren. Daneben braucht es die Fähigkeit, den Prozess als solchen zu durchschauen, um die immer kleiner, dafür aber lauter werdenden Echokammern zu erkennen und verlassen zu können. Die digitale Gesellschaft braucht – wie jede andere Gesellschaft auch – Teilnehmende, die in der Lage sind, die Regeln des Systems zu verstehen und zu gestalten. Andernfalls droht eine Verengung auf eine schmale Elite, die auf Dauer keinen glaubhaften Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Vertretung stellen kann. In den 2000er Jahren gab es bei Vielen einen großen Optimismus in Bezug auf das Internet und seine Chancen für die Demokratisierung. Wenn man nur genug Menschen eine Stimme gibt – so die Hoffnung damals – muss die Welt zu einer besseren, demokratischeren werden. Die Erfahrung lehrt uns aber anderes. Auch wenn Teilhabe sich in vielen Bereichen tatsächlich fast von allein verbessert hat, gibt es auch neue Phänomene, die gegen demokratische Prinzipien gerichtet sind. Shitstorms und Hate Speech machen Einzelnen die gleichberechtigte Teilnahme am sozialen Raum unmöglich. Gezielte und professionell koordinierte Netzwerke von Social Bots und Trollen können den Eindruck einer Mehrheit erwecken, wo keine ist. Anscheinend reicht es nicht, allen eine Stimme zu verleihen. Technisch versierte, gut vernetzte oder populistische Akteure können einfach neue scheinbare Mehrheiten bilden. Zwischenfazit

Die Transformation der Arbeitswelten, die drohende Marginalisierung ganzer Berufsgruppen, die Erosion traditioneller Teilhabe- und Mitbestimmungsstrukturen, die Konzentration ökonomischer Möglichkeiten auf wenige Akteure, die Fragmentierung des gesellschaftlichen Diskurses, die Drohung einer allumfassenden Überwachung durch große Mengen anfallender Daten – all diese Probleme benötigen zu ihrer Lösung genau die Kreativität, die intime Kenntnis unterschiedlicher Lebenswelten, die nur alle Mitglieder einer Gesellschaft gemeinsam in ihrer Interaktion aufbringen. Je komplexer Problemstellungen werden, desto komplexer muss der Apparat sein, der sie löst. Dem Problem wohnt seine eigene Lösung inne. [Handlungsfelder]

Die Digitalisierung schafft nicht nur Fragmentierung, sondern auch Vernetzung. Diese Vernetzung kann genutzt werden, um alte, durch räumliche und praktische Beschränkungen bedingte Hindernisse für Beteiligung zu überwinden. Das beginnt bei der verstärkten Einbindung jener, die nicht mobil genug sind, um an Treffen und Versammlungen teilzunehmen. Ob es Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen sind, chronisch kranke Menschen, die das Haus oder das Bett über lange Zeiträume selten verlassen können, Eltern, die an abendlichen Veranstaltungen schwer teilnehmen können, oder Menschen, die nicht das Geld oder die Freizeit aufbringen können, um zu einem Kongress zu reisen. Sie alle profitieren davon, sich gesellschaftlich und politisch über das Internet beteiligen und engagieren zu können. Es ist also durchaus möglich, die vernetzenden Aspekte der Digitalisierung zu stärken und die ausgrenzenden Aspekte zu reduzieren.

Was bedeutet das nun also zurückgespiegelt für den Einzelnen? Erstens muss jeder Einzelne in die Lage versetzt werden, die Auswirkungen seines Handelns im digitalen Raum begreifen und abschätzen zu können. Zweitens müssen Strukturen geschaffen werden, die es ermöglichen, Impulse zu setzen, die in die Gesamtgesellschaft und die Politik zurückwirken können, um das Gemeinwesen mitzugestalten.

Drittens muss der Einzelne dazu befähigt werden, diese Möglichkeiten in einem emanzipatorischen Sinne zu begreifen und seine Gestaltungschancen auch als solche zu nutzen. Das bedeutet nicht nur die Fähigkeit und das Wissen, die eigenen Daten zu verwalten und zu schützen, sondern auch selbst gestalterisch tätig zu werden. Digitale Ermächtigung erschöpft sich nicht in der Bereitstellung der technischen Infrastruktur. Klar ist: Wo es keinen und nur einen unzureichenden Anschluss gibt, können Menschen in einer digitalisierten Gesellschaft nicht partizipieren. Sowohl Datenverbindung als auch Endgeräte müssen finanziell erschwinglich sein und dürfen Menschen in prekären Bedingungen nicht ausschließen.

Es ist allerdings ein gängiges Missverständnis, dass Zugang und Teilhabe dasselbe seien. Zugang ist die notwendige Bedingung für digitale Teilhabe. Aber nicht die hinreichende. Um bei der Bedienung von Elektronik, bei Informationsverarbeitung, vor allem aber im Internet vollwertig partizipieren zu können, braucht das Individuum eine Reihe von Kenntnissen und Fähigkeiten, deren Beherrschung Teilhabe erst ermöglicht. Ähnlich wie Zugang zu Büchern und Zeitungen wertlos ist für jemanden, der nicht lesen kann, ist ein Breitbandanschluss nur bedingt hilfreich für jemanden, der nicht die Fähigkeiten erworben hat, mit digitalen Medien umzugehen. Dazu braucht es auch Medienkompetenz.

Unter Medienkompetenz verstehen wir die Fähigkeit, Geräte und Dienste grundlegend bedienen zu können, sowie das Wissen um ihren Aufbau. In diesen Bereich fällt auch die oft diskutierte Transparenz dessen, was mit Benutzerdaten passiert. Auch das Wissen um Algorithmen, den Aufbau von Netzwerken und die Funktionsweise von Geräten werden durch Medienkunde vermittelt. Zur Medienkritik gehört die zentrale Fähigkeit, in der immer größer werdenden Vielfalt an Quellen diese zu bewerten und auf ihre Vertrauenswürdigkeit zu prüfen. Das Verständnis um Geschäftsmodelle und Interessen von Diensten gehört ebenso dazu und ermöglicht, reflektierte Entscheidungen über Nutzung oder Nichtnutzung zu treffen. In der ethischen Unterdimension von Medienkritik steckt auch ein tieferes Verständnis dafür, dass auch hinter der scheinbar isolierten Beschäftigung vor einem Bildschirm echte soziale Interaktion steckt. Erst dieses Verständnis ermöglicht die Empathie, die es braucht, um mit Menschen kommunizieren zu können, deren nonverbale Reaktion man nicht sieht. In den Bereich der Mediennutzung fällt alles von der Kenntnis von sinnvollen Diensten für die jeweilige Aufgabe bis zur Fähigkeit der Automechatronikerin, ihre Werkzeuge zu bedienen. Teilhabe entsteht hier durch das Wissen, wie man eine Petition startet, aber auch, wie man mit den Enkeln in Japan Videochats führen kann. Mediengestaltung ist schließlich heute ein großer Bestandteil der Mediennutzung. Dieser Bereich beschäftigt sich vor allem mit dem innovativen und kreativen Aspekt der Nutzung, der über Alltagskommunikation hinausgeht. Wie drehe ich ein Video? Wie baue ich eine Infografik auf? Wie präsentiere ich mich am besten auf meiner eigenen Website? Wie programmiere ich ein Computerspiel? In der digitalen Welt ist die Fähigkeit zur kreativen Gestaltung medialer Inhalte Voraussetzung für den vollständigen Ausdruck der eigenen Persönlichkeit.

Es reicht aber auch nicht, Menschen fit zu machen im Umgang mit digitalen Werkzeugen. Für viele, besonders jüngere, Menschen ist die vernetzte Kommunikation intuitiv und natürlich. Das impliziert aber noch nicht, dass sie diese auch entsprechend zur Artikulation und Durchsetzung ihrer Interessen einzusetzen wissen. Die erhoffte Vitalisierung demokratischer Teilhabe ist so de facto nur selektiv und bisweilen temporär spürbar. Es bestehen bereits viele Projekte von Parteien, Kommunen oder Vereinen zur Förderung des Online-Engagements, doch die Teilnahme ist überall gleich gering.

Ein großer Teil des Desinteresses ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass die wenigsten dieser Projekte ihre Ergebnisse mit Verbindlichkeit behandelten. Kommunale Beteiligungswerkzeuge wie viele Online-Bürgerhaushalte haben Vorschlagscharakter.

Der – vielleicht zu Unrecht – erwartete Frust, dass die von der Mehrheit getragenen Vorschläge doch nicht umgesetzt werden, könnte ein Grund dafür sein, dass man sich gar nicht erst beteiligt. Nicht zuletzt fehlt es bisher auch einfach an Erfolgserlebnissen mit digitaler Beteiligung.

bpb-Angebot

An dieser Stelle möchte ich auf mein eigenes Haus verweisen: die Bundeszentrale für politische Bildung setzt an diesem Punkt unter anderem mit ihren medienpädagogischen Programmen und Informationsangeboten an – aber auch mit Projekten wie werkstatt.bpb.de, einer Ideenwerkstatt mit Redaktions- und Diskussionsportal zum Thema „Digitale Bildung in der Praxis“. Mit Blick auf die Schule und außerschulische Lernorte wird dort untersucht, wie zeitgemäße digitale Lehr- und Lernsettings aussehen und wie digitale Strukturen und Werkzeuge die Arbeit in heterogenen Lerngruppen bereichern können.

Wie Beteiligung gelingen kann, versucht die Bundeszentrale für politische Bildung bei der Unterstützung von Projekten wie “aula” von politik-digital e.V. herauszufinden. Hier werden teilweise Kompetenzen der Schulkonferenz den Schülerinnen und Schülern verschiedener Schulen vermittelt und ein technischer und didaktischer Rahmen für digitale Beteiligung geschaffen.

Das Ziel dabei ist einerseits, Schülerinnen und Schülern basale Partizipationskompetenzen zu vermitteln – etwa Ideenentwicklung, Argumentation, Kompromissfindung und Werbung einer Mehrheit –, andererseits das Erleben eines demokratischen Prozesses von der Entwicklung einer eigenen Idee, über ihre Ausarbeitung und Abstimmung bis hin zu ihrer Umsetzung; und dies in einem Raum, der ein wichtiger Bestandteil ihres täglichen Lebens ist. So soll ein Gefühl des Erfolgs und der Kompetenz durch die eigene Partizipation gestärkt werden. Man muss allerdings beachten, dass solche Projekte – obwohl wir mehr und mehr von ihnen sehen und sie wichtige erste Schritte sind – meist räumlich und zeitlich begrenzt bleiben. Neben Pilotprojekten braucht es auch von den etablierten Institutionen echte Partizipationsmöglichkeiten, die verbindlichen Charakter haben. Erst mit der Verbindlichkeit und mit der Übertragung von Verantwortung können Menschen diese Prozesse erlernen und ein Bewusstsein für die eigene Rolle in einer Gesamtgesellschaft entwickeln. Hinter diesen Projekten, nicht zuletzt aber auch hinter dem Einsatz von offenen Lizenzmodellen wie den Creative Commons steht ein Leitgedanke, der von anderen Akteuren bereits als „Digitale Souveränität“ bezeichnet wurde – also die Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln und Entscheiden im digitalen Raum in Abgrenzung zu Fremdbestimmung auf der einen Seite und Autokratie auf der anderen Seite.

„Digitale Souveränität“ bedeutet, man ist nicht hilflos den Regeln und Vorgaben von Diensten ausgeliefert. Das souveräne Individuum ist in der Lage, digitale Technologien zu verstehen, selbst zu beherrschen und zu bedienen und informierte Entscheidungen über sein Verhalten treffen zu können.

Fazit: Souveränität und Teilhabe nicht ohne Mit-Eigentum

Digitale Souveränität zieht gleichzeitig auch die Frage nach sich, wie souverän wir sein können, wenn wir nicht die Eigentümer unserer Daten sind und somit keine vollständige Kontrolle über sie haben können.

Angesichts der gewaltigen Datenmengen, die von wenigen Unternehmen gesammelt, kontrolliert und kommerziell verwertet werden, kann digitale Teilhabe nicht losgelöst von der Teilhabe an den digitalen Infrastrukturen gedacht werden – Leitmotiv ist es, aus Gesellschaften und den Menschen echte Teilhaber zu machen, statt nur Anwender, Kunden und Nutzer. Dahinter steckt die Frage, wie eine öffentliche Infrastruktur gestaltet und in Einklang mit privaten Anbieterinteressen gebracht werden kann. Unausweichlich stellen sich dabei sowohl Eigentumsfragen – wie etwa an der Infrastruktur wie auch den Daten – als auch Fragen der juristischen und politischen Regulierung.

Es ist im digitalen Raum wie anderswo: völlig ohne Mit-Eigentum und ohne Mit-Bestimmung bleibt eine Teilhabe an den digitalen Gütern und Diensten letztlich eine leere medienpädagogisch angehauchte „Beschwörung“.

Es braucht daher auch die Energie und Anstrengung von uns allen, echte Teilhabe umzusetzen. Zur tatsächlichen Umsetzung fehlt aber noch die Motivation. Und hier kommt der Paradigmenwechsel durch die Digitalisierung wirklich zum Tragen. So wie das Web 2.0 dadurch neuartig war, dass jeder nicht nur Konsument, sondern auch Produzent sein konnte, muss auch das Individuum im Informationszeitalter sich nicht nur als Konsumentin, sondern auch als Gestalterin der eigenen Gesellschaft begreifen. Erst dies gibt die Motivation, die erworbenen Kompetenzen auch zu nutzen – also die eigene Mündigkeit konkret zu praktizieren. Digitale und soziale Teilhabe sind im 21. Jahrhundert nicht voneinander zu trennen. Wenn wir eine gute infrastrukturelle Versorgung, eine umfassende Bildung im Umgang mit den neuen Medien und eine Durchlässigkeit für Veränderungen durch digitale politische Prozesse erreicht haben, ist das Streben nach sozialer Teilhabe nicht zu einem Ende gekommen.

Gehen wir dabei einen Schritt nach dem anderen, stets umsichtig, und setzen wir uns für eine Gesellschaft ein, in der jedes Mitglied vollwertig am digitalen Leben teilnehmen kann. Je mehr Menschen wir im Prozess mitgestalten lassen, desto mehr Helferinnen und Helfer haben wir auf dem Weg.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten