I.
Politische Bildung ist für unser Gemeinwesen und für seine Bürgerinnen und Bürger ein Gebot der Selbsterhaltung. Eine freiheitliche Demokratie ohne politische Bildung zerfällt, und dann werden aus Bürgern Untertanen oder gar Rechtlose. Darum geht politische Bildung alle an. Darum ist die Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung wichtig, und darum bin ich heute gern gekommen, um mit Ihnen das fünfzigjährige Bestehen der Bundeszentrale zu feiern und um allen Dank zu sagen, die in und für sie arbeiten.
II.
Was heißt und zu welchem Ende lehrt und erwirbt man "politische Bildung"? Der Begriff ist aus zwei anderen zusammengesetzt, die je für sich schon schwer genug zu fassen sind. Politisch ist, was das Gemeinwesen als Ganzes betrifft. Politisch sind die Regeln, die Einstellungen, die Verhaltensweisen und die gemeinsamen Aufgaben, die das Zusammenleben in der Bürgerschaft prägen und gestalten. Politisch ist auch der Bereich demokratischer Willensbildung und staatlichen Handelns. Freilich macht er nur einen Teil des Politischen aus. Vieles von dem, was für die Allgemeinheit wichtig ist, leisten die Bürger aus eigenem Recht und aus eigener Verantwortungsbereitschaft. Das Politische ist in einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung eben kein Vorrecht der Parlamente und Regierungen und kein staatliches Monopol, sondern Sache aller Bürgerinnen und Bürger und ein Anliegen der ganzen Gesellschaft.
"Bildung" ist, sehr allgemein gesprochen, ein Ensemble von Wissen, Fähigkeiten und Haltungen, das lebenstüchtig und gemeinschaftsfähig macht. Das Wort steht zugleich für den Vorgang des Bildens, der zur Bildung führt und der vor allem ein Vorgang des Sich-selber-Bildens ist, denn so groß das Bildungsangebot auch sein mag, gebildet wird nur, wer sich bildet. Mit dem Wort Bildung kann außerdem schließlich noch die äußere Gestalt gemeint sein, etwa wenn Goethe von der lieblichen Bildung eines Mädchens oder wenn Winckelmann von der Bildung griechischer Statuen spricht.
"Politische Bildung" hat es also mit dem Bestand an Kenntnissen, Fähigkeiten und Haltungen zu tun, der nötig ist, um die Angelegenheiten des Gemeinwesens und die politischen Fragen des Zusammenlebens zu verstehen, mitzugestalten und mitgestalten zu wollen. "Politische Bildung" bedeutet zugleich die Vermittlung dieses Bestandes und seine Aneignung durch alle, die sich politisch bilden. Wo von "politischer Bildung" die Rede ist, da schwingt die Frage mit, welches Bild ein Gemeinwesen abgibt, in welcher politischen Verfassung es sich befindet. Politische Bildung soll den Bürgerinnen und Bürgern und ihrem Zusammenleben in Staat und Gesellschaft dienen. Darum muss sie auf die praktische Anwendbarkeit ihrer Erkenntnisse achten und auf breite Anwendung drängen – auf verständiges Beobachten, auf vernünftiges Auswählen und auf das Mittun möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger in den gemeinsamen Angelegenheiten.
Das bedeutet auch, dass politische Bildung nicht vom Hier und Jetzt abstrahieren kann, denn sie soll ja der Teilhabe an einer konkreten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung dienen. Natürlich gibt es einen großen Vorrat an Gemeinsamkeiten im Fundus der politischen Bildung aller freiheitlichen Demokratien, und dieser Vorrat wächst dank der europäischen und der internationalen Einigung. Es gibt aber auch Unterschiede. Sie trennen uns nicht von unseren Partnern und Freunden im Ausland, aber sie unterscheiden uns. Sie liegen vor allem in den unterschiedlichen Verfassungsordnungen, in den unterschiedlichen Nationalgeschichten und in den Unterschieden dessen, was man die "politische Kultur" nennt. Das beginnt übrigens schon damit, dass es in vielen anderen Sprachen gar kein Äquivalent für unseren Begriff "politische Bildung" gibt.
Politische Bildung in und für Deutschland ist darum immer Bildung im Zeichen des Grundgesetzes und vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte mit ihren guten, aber auch mit ihren schrecklichen Kapiteln.
III.
Politische Bildung findet überall statt, wo die politische Meinung der Bürger und ihr Wissen um die Angelegenheiten des Gemeinwesens beeinflusst werden. Parlamentsbeschlüsse und Behördenbescheide, Fernsehnachrichten und Zeitungskommentare, Erfahrungen am Arbeitsplatz und Gespräche mit Nachbarn, Diskussionen in der Bürgerinitiative und Gespräche am Stammtisch – sie alle können Beiträge zur politischen Bildung sein (wenn auch nicht immer erbauliche). Dazu kommen noch das reiche und von Vielen genutzte Angebot der politischen Parteien und Stiftungen und der breite Strom politischer Literatur, die ja durchaus auch ihre Käufer und Leser findet.
Was rechtfertigt da eigentlich zusätzliches staatliches Handeln? Wozu brauchen wir da noch der Anstrengungen der Bundeszentrale und der Landeszentralen für politische Bildung, wozu den einschlägigen Unterricht in den allgemeinbildenden Schulen, bei der Bundeswehr und in den Zivildienstschulen? Droht da nicht eine Indoktrination der Bürger durch den Staat?
Man sollte die Frage nicht zu leicht abtun. Schon Wilhelm von Humboldt wandte sich, freilich vor allem Monarchien vor Augen, dagegen, "dass der Staat der Meinung der Bürger auch nur auf irgendeine Weise eine gewisse Richtung geben wolle." Die Weiße Rose geißelte in einem ihrer Flugblätter die "Weltanschauliche Schulung" der Nazis als eine "verächtliche Methode, das aufkeimende Selbstdenken und Selbstwerten in einem Nebel leerer Phrasen zu ersticken", und Steffi Spira wünschte sich in ihrer Rede bei der Demonstration auf dem Alex am 4. November 1989 für ihre Urenkel, "dass sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde".
In Westdeutschland rangierte 1984 bei einer Umfrage zu den Feldern staatlicher Verantwortung das Thema "moralische Vorstellungen und Leitbilder der Menschen" ganz am Schluss. Nur 30 Prozent der Befragten wollten dem Staat hier eine Zuständigkeit zusprechen, während 47 Prozent für die Erfüllung dieser Aufgabe auf gesellschaftliche Gruppen und Einrichtungen und 22 Prozent auf private Kräfte wie etwa die elterliche Erziehung verwiesen.
Gerechtfertigt ist das staatlich organisierte Angebot politischer Bildung durch die demokratisch legitimierte Entscheidung dafür, also durch den Willen des Volkes. Diese Entscheidung ist Ausdruck einer Überzeugung und einer Erkenntnis:
Die Überzeugung lautet: Die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes ist es wert, für ihren Bestand zu werben und für die bewahrt zu bleiben, die nach uns kommen. Aus dieser Überzeugung spricht Zuneigung: zu den Nachkommenden und zu unserer Verfassung. Schon bei Montesquieu steht, die Tugend der Republiken und Demokratien sei "die Liebe zu den Gesetzen und zum Vaterland".
Die Erkenntnis hinter der Entscheidung für staatlich organisierte politische Bildung lautet:
Bewahrt werden kann unsere freiheitliche Ordnung auf Dauer nur dann, wenn ihre Bürgerinnen und Bürger es als eigene Aufgabe erkennen und auf sich nehmen, diese Ordnung zu erhalten. Mit den mittlerweile längst klassischen Worten von Wolfgang Böckenförde gesprochen: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann."
Er ist für seine Freiheitlichkeit auf das Engagement seiner Bürger für das friedliche, für das gute Miteinander und für den Bestand des Gemeinwesens angewiesen, aber er kann dieses Engagement nicht anordnen oder gar erzwingen, ohne eben diese Freiheitlichkeit aufzugeben. Darum ist staatliche politische Bildung unter dem Grundgesetz ihrem Wesen nach nicht Gebot, sondern Angebot, nicht Indoktrination, sondern die Aufforderung, auch in politischen Angelegenheiten selber zu denken, sich sachkundig zu machen und sich kräftig in die eigenen Angelegenheiten einzumischen. Nicht blinden Gehorsam und erzwungene Gefolgschaft will sie erreichen, sondern eigene Einsicht und den freiwilligen Beitrag möglichst Vieler zum Wohle der Allgemeinheit.
Das Ziel dieser Bildung ist nicht der "durch sieben Staatsexamina gegangene Patentpreuße", der schon Theodor Fontane zu Recht ein Graus war. Worauf es ankommt, braucht keine langwierigen Studien und formalen Abschlüsse. Nötig sind solide Grundkenntnisse und wacher Bürgersinn. Der nun wurzelt gutteils in denselben Tugenden der Gemeinsamkeit, der Rücksichtnahme und Solidarität, die auch im Familienkreis, in der Nachbarschaft, in der Dorfgemeinschaft oder im Stadtteil nötig sind und geübt werden können. Daran kann und soll politische Bildung anknüpfen, um die Bereitschaft zum Engagement zu stärken und den Sinn für das Politische zu kräftigen. Freilich fragt sich zunächst einmal, wie es denn heute um den Sinn für das Politische und um die Bereitschaft zum politischen Engagement überhaupt bestellt ist.
IV.
Eine Reihe von Untersuchungen deutet darauf hin, dass der Sinn für Politik und für Politisches zurückgeht. Das Interesse zumindest für Fragen der überregionalen, bundesweiten und internationalen Politik lässt nach. Das mag zum Teil eine Form von Luxus sein, den man sich in Schönwetterperioden glaubt leisten zu können; wenn man sich aber erst in der Krise für Politik interessiert, kann es schon zu spät sein. Zudem gibt es Anlass zur Sorge, dass besonders junge Leute beim Thema Politik abwinken: Nach den Ergebnissen der jüngsten Shell-Jugendstudie bezeichnet sich mittlerweile nur noch jeder dritte junge Mensch zwischen 12 und 24 Jahren als politisch interessiert – vor 20 Jahren war es noch jeder zweite. Laut der jüngsten OECD-Studie "Bildung auf einen Blick" geben von den deutschen Vierzehnjährigen nur zwei Drittel an, dass sie als Erwachsene wahrscheinlich zur Wahl gehen wollen – in Dänemark und Ungarn haben das neun von zehn Jugendlichen vor. Die ganz überwiegende Mehrheit der Jugendlichen hält zwar unsere Demokratie für eine gute Staatsform, aber sie sind - ganz ähnlich wie immer mehr Erwachsene - mit der politischen Praxis immer weniger zufrieden und sie haben das Gefühl, selber wenig bis gar nichts ändern zu können, selbst wenn sie wählen gehen.
Die Gründe für diese Einstellungen sind vielfältig. Zwar bescheinigt die erwähnte OECD-Studie deutschen Jugendlichen politische Kenntnisse, die dem internationalen Durchschnitt entsprechen; aber allzu viele junge und ältere Menschen finden doch die politischen Entscheidungsabläufe zu komplex, zu undurchschaubar und schon allein dadurch abschreckend.
Tatsächlich können ja selbst Fachleute in unserem kooperativen, europäisch integrierten und international ausgerichteten Bundesstaat oft nur noch mit Mühe sagen, welche staatliche Ebene und welche supra- und internationale Organisation eigentlich für was zuständig ist. Das große Thema "Reform der föderalen Ordnung" hat darum auch für das politische Interesse, Verständnis und Engagement der Bürgerinnen und Bürger eminente Bedeutung.
Freilich sind längst nicht Wissenslücken allein der Grund dafür, dass der Sinn, das Interesse und die Sympathie für das Politische schwinden. Auch Mängel der politischen Praxis tragen dazu gehörig bei. Mitunter könnte man fast glauben, die schwarzen Schafe, die es leider in allen politischen Parteien gibt, hätten sich reihum abgesprochen, damit der Republik nur ja die Skandale und Skandälchen nicht ausgehen.
Im politischen Meinungskampf und von den Medien wird allerdings auch aus mancher Mücke ein Elefant gemacht. Auch das trägt zur Politikverdrossenheit und zum Desinteresse an Politik bei.
Wohlgemerkt: Niemand leistet einen besseren Beitrag zur politischen Bildung als unabhängige, freiheitlich gesinnte, informative und kritische Medien. Wie groß ihre positive Wirkung sein kann, daran sind wir erst jüngst erinnert worden: In der sogenannten "Spiegel-Affäre" haben sich vor vierzig Jahren die politische Kultur und das demokratische Engagement der Bürger vortrefflich bewährt, und dieser Erfolg war nicht zuletzt gerade dem Beitrag zu verdanken, den "Der Spiegel" bis dahin zur politischen Bildung bereits geleistet hatte.
So positiv die Medien ihre öffentliche Aufgabe erfüllen können, so schädlich können sie aber wirken, wenn sie um der Quote und Auflage willen und aus Lust am Knalleffekt dem Publikum Politik nur noch als eine Art Panoptikum unfähiger und selbstsüchtiger Politiker präsentieren. Das liegt fernab der Wirklichkeit, das tut ungezählten Menschen Unrecht, die sich für das Gemeinwohl engagieren, und das richtet unverantwortlichen Flurschaden auf dem Feld der politischen Akzeptanz an.
Insgesamt scheinen all diese Faktoren eine Sichtweise und eine Haltung zu begünstigen, die ziemlich scharf zwischen der "Politik der Politiker" und dem eigenen gesellschaftlichen Engagement unterscheidet und trennt. Das läuft für viele Zeitgenossen auf folgende Einteilung hinaus:
- hier die beträchtliche eigene Bereitschaft zur freiwilligen Arbeit für gemeinschaftliche Ziele und für andere Menschen,
- dort die dem eigenen Einfluss weitgehend entzogen scheinende, schwer verständlich wirkende, streitbeladene und nicht immer appetitlich anzusehende "Politik der Politiker".
Immerhin steckt darin auch eine gute Nachricht: Die Bereitschaft zum zivilgesellschaftlichen Engagement ist in Deutschland stark und entwicklungsfähig. Das zeigt eindrucksvoll zum Beispiel der sogenannte Freiwilligensurvey von 1999, eine bundesweite Erhebung der Bundesregierung und der Robert Bosch Stiftung zur ehrenamtlichen Tätigkeit und freiwilligen Arbeit in Deutschland.
Die Studie ergab, dass jeder dritte Deutsche über vierzehn Jahren sich freiwillig in Kommunen, Vereinen und Initiativen, Parteien, Kirchen und Gewerkschaften aktiv engagiert, also nicht nur mitmacht – das tun sogar zwei Drittel der Bevölkerung über vierzehn Jahren – sondern freiwillig Aufgaben und Arbeiten übernimmt, für gemeinschaftsbezogene Ziele und für andere Menschen. Dafür gibt jeder dieser Aktiven durchschnittlich immerhin fünf Arbeitsstunden pro Woche. Das Potential für solches freiwilliges Engagement ist obendrein noch längst nicht ausgeschöpft: 40% derer, die noch nicht aktiv sind, sind nach eigenen Angaben bereit, sich ehrenamtlich zu engagieren – das wären nochmals 20 Millionen Menschen, die in der Gesellschaft mitarbeiten und Verant-wortung übernehmen.
Das freiwillige Engagement ist unverzichtbar für den bürgerschaftlichen Zusammenhalt. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass die positiven Wirkungen weit über die Gemeinden und Regionen hinausreichen und für die Demokratie als ganze und für alle staatlichen Entscheidungsebenen förderlich sind. Schon Tocqueville hat das eindrucksvoll geschildert, und die heutigen Erfahrungen beim Wechsel von Diktaturen zu Demokratien bekräftigen diesen Befund. Freilich darf die Bereitschaft zum freiwilligen gesellschaftlichen Einsatz nicht mit einer Entfremdung von den größeren politischen Fragen und Zusammenhängen einhergehen oder gar ein Ausdruck dieser Entfremdung sein, gewissermaßen eine "Ausweichbewegung ins Unpolitischere". Dann nämlich droht sich ein Graben zwischen eigenem Engagement und politischem Bewusstsein aufzutun, der für die gesamtstaatliche politische Integration schädlich ist.
Das wirft die Frage auf, was eigentlich die Menschen heutzutage dazu bewegt, sich freiwillig zu engagieren. Ist es der Blick auf das große Ganze des Gemeinwesens? Ist es die Tugend von Bürgerinnen und Bürgern, die mit John F. Kennedy fragen, was sie für ihr Land tun können?
Nun, die Freiwilligen von heute sehen ihren Einsatz längst nicht mehr vor allem als "Pflichterfüllung", "Opfer" und "Dienst", sondern auch als einen Weg zur Selbstverwirklichung. Das eigene Tun soll Spaß machen, man möchte sympathische Menschen kennen lernen und anderen helfen, und der Einsatz für das Gemeinwohl soll auch die eigenen Kenntnisse und Erfahrungen erweitern und eigenverantwortlich gestaltet werden können. Die Fähigkeit zum selbstlosen Einsatz ist weiter da, aber die Frage: "Was bringt mir das?" ist erlaubt, wird gestellt und verlangt Antworten.
Der Motivwandel hat Folgen: Die Bereitschaft zur langfristigen Bindung an große Organisationen mit weit gespannten Zielen und Aufgabenfeldern sinkt, das punktuelle und befristete Engagement gewinnt an Bedeutung, und es wachsen die kritischen Ansprüche der Freiwilligen an den guten Sinn und an die gute Ausführung dessen, wofür sie sich engagieren sollen.
Eine zunehmend anspruchsvollere Kundschaft also, mit der es die politische Bildung da zu tun hat:
ganz überwiegend gut demokratisch gesinnt, aber mit innerer Distanz zum politischen Betrieb, zum Engagement bereit, doch nur für überzeugend begründete Anliegen und mit dem Wunsch nach Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, nicht sonderlich geneigt, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen, aber durchaus dafür zu interessieren und zu gewinnen.
V.
Wo also beginnen? Ich meine, dass zum Fundament der politischen Bildung Klarheit darüber gehört, was Politik ist und in welchen Bahnen sie sich in unserer freiheitlichen Ordnung vollzieht.
Obenan sollte dabei die Vermittlung der Erkenntnis stehen, dass Politik ein um der Sache willen nötiges Ringen um Macht und Einfluss ist und dass weder der Zusammenprall widerstreitender Meinungen und Interessen unschicklich ist noch der Kompromiss, der den Streit beendet und die Interessen ausgleicht.
Zum Grundrüstzeug gehören auch die Einsicht in den unschätzbaren und unabdingbaren Wert des Verzichts auf Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung und der Respekt vor dem Ergebnis demokratischer Entscheidungen. Ebenso nötig ist es, die Grundzüge unserer Verfassungsordnung zu kennen und eine deutliche Vorstellung vom Gehalt der Grund- und Menschenrechte und des Rechtsstaates zu haben. Nur wer all das in seiner Bedeutung erfasst, kann wirklich schätzen und kann ermessen, wie viel Freiheit, Frieden und Sicherheit diese Ordnung allen bietet und wie sehr es sich darum lohnt, für sie einzutreten und sie jeden Tag neu mit Leben zu erfüllen.
Die Demokratie ist ein Fortsetzungsroman, von dem wir an jedem Tag ein neues Kapitel schreiben müssen.
Genauso wichtig ist es, den Menschen den politischen Alltag näher zu bringen: Was passiert eigentlich so auf einer Parteiversammlung und bei einer Sitzung des Stadtrats? Wer sind meine Wahlkreisabgeordneten? Was machen die eigentlich so im Parlament? Wen kann ich ansprechen, wenn ich Hilfe brauche? Welche Chancen habe ich überhaupt, eigene Wünsche politisch durchzusetzen – vom Zebrastreifen vor dem Haus bis zum höheren Kindergeld? Ich glaube, dass es einen sehr großen Bedarf auch an solchen ganz handfesten Informationen gibt. Auf diesem Fundament solider Kenntnisse können dann weitere Angebote aufbauen. Die politische Bildung hat auch die Aufgabe, den Bürgerinnen und Bürgern zu besonders wichtigen Politikbereichen vertiefende Informationen zu bieten: Wie geht es weiter auf dem Weg der europäischen Einigung? Vor welche Herausforderungen stellt uns der Prozess der Globalisierung? Wie gut ist die deutsche Einheit vorangekommen? Welche Chancen und Risiken birgt die Gentechnik? Was ist zu tun, damit Alteingesessene und Zuwanderer im Einwanderungsland Deutschland gut miteinander leben? Welchen Beitrag kann jeder von uns im Kampf gegen Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Extremismus leisten?
Zu allen diesen Fragen sollte die politische Bildung gut fundiertes Orientierungswissen anbieten. Politische Bildung kann aber natürlich nicht bei der reinen Wissensvermittlung stehen bleiben, so wichtig sie ist. Sie muss auch die Fähigkeiten fördern, die der mündige Bürger für die politische Teilhabe braucht. Das sind keine Spezialkenntnisse, sondern Talente, die in vielen Lebensbereichen nützlich sind:
- das Vermögen etwa, einen Streit sachlich zu bewerten und sich selber ein Urteil zu bilden;
- das Geschick, die Fülle der Medien effizient und mit dem nötigen kritischen Blick zu nutzen;
- die Fähigkeit, eigene Interessen zu definieren, sie angemessen zu begründen und dafür Zustimmung zu organisieren.
Kurzum: Es geht im Grunde darum, sich zum Denken des eigenen Kopfes zu bedienen, Meinungsverschiedenheiten mit Respekt vor dem anderen und konstruktiv auszutragen, vernünftige Kompromisse zu finden und den Grundsatz zu beherzigen: Trau, schau wem. Diese Fähigkeiten erwerben sich nicht per Frontalunterricht und auch nicht durch Abschreiben von der Wandtafel. Sie wollen praktisch eingeübt sein. Darum muss die politische Bildung hinein in die Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger, sie muss Beteiligungsmöglichkeiten schaffen und Trainingsfelder für gute Demokraten. Die Möglichkeiten dazu sind schier unbegrenzt: Sie reichen von der Ausbildung von Streitschlichtern in Schulen über den studentischen Debattierclub bis zum Lehrgang, wie man eine Bürgerinitiative organisiert. Dazu will ich mit einer Initiative beitragen, die ich vor zwei Tagen im Schloss Bellevue der Öffentlichkeit vorgestellt habe: Der Bundeswettbewerb "Jugend debattiert". Er soll junge Menschen ermutigen und in die Lage versetzen, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren. "Jugend debattiert" verbindet einen Wettbewerb, in dem Schüler nach genau fest gelegten Regeln debattieren, mit Trainingsphasen, die der sprachlichen und der politischen Bildung gelten. Teilnehmen können Schülerinnen und Schüler aus den Jahrgängen 8 bis 13 an weiterführenden und berufsbildenden Schulen.
Der Bundeswettbewerb "Jugend debattiert" steht unter meiner Schirmherrschaft und wird von mehreren großen Stiftungen getragen: der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, der Robert-Bosch-Stiftung, der Heinz-Nixdorf-Stiftung und der Stiftung Mercator. Die Kultusministerkonferenz und die Bildungs- und Kultusminister aller Länder unterstützen ihn.
Übrigens: die Idee dieses Wettbewerbs geht auf bürgerschaftliches Engagement zurück. Vor zehn Jahren hat sich ein Verein "Jugend streitet" gebildet und sich zum Ziel gesetzt, die sprachliche und politische Bildung junger Menschen zu verbessern und damit die demokra-tische Kultur unseres Landes zu beleben.
Wer für die Bürgerschaft Vortreffliches leistet, verdient Anerkennung. Darum ist es gut und richtig, dass die Bundeszentrale für politische Bildung den Preis für Verdienste um die deutsche Einheit gestiftet hat. Ich habe nachher das Vergnügen, den Preis in der Kategorie "Begegnung in der Einheit" zu überreichen.
Das Wort "Vergnügen" wähle ich mit Bedacht, denn der Preis geht an jemanden, der ein wichtiges Thema mit leichter Hand zu vermitteln weiß: Herr Döll aus Felsberg in Hessen gewinnt den Preis der Bundeszentrale für ein von ihm ins Leben gerufenes Kabarettfestival. In der Begründung der Jury heißt es "Kleinkunstfestival", doch in Wahrheit ist es eine große Kunst, die Herr Döll beherrscht: Er hat vielen Menschen aus Ost und West dazu verholfen, einander kennen zu lernen, miteinander zu lachen und ins Gespräch zu kommen. Begonnen hat alles in Thüringen und Hessen, mittlerweile sind auch Orte in Niedersachen, Sachsen-Anhalt und Bayern dabei, und nun ist das Festival sogar hier in Berlin angekommen. Herzlichen Glückwunsch, Herr Döll!
Ich habe von dem Wissen gesprochen, das politische Bildung vermitteln muss und von den Fähigkeiten, die sie fördern soll. Alles Wissen über Politik und alle politischen Fähigkeiten freilich nutzen nichts, wenn sie nicht eingesetzt werden. Entscheidend ist, wie sich die Bürgerinnen und Bürger auf Dauer verhalten, welche Haltung sie in sich ausbilden. Die politische Bildung unserer freiheitlichen Demokratie zielt auf eine Haltung, deren Zeichen Freiheitsliebe, Gerechtigkeitssinn, Solidarität, Toleranz und Verantwortungsbereitschaft für das Gemeinwesen sind; und alle diese Tugenden beweisen sich allein durch die Tat. Erich Kästner hat das einmal so ausgedrückt:
"Wenn Unrecht geschieht, wenn Not herrscht, wenn Dummheit waltet, wenn Hass gesät wird, wenn Muckertum sich breitmacht, wenn Hilfe verweigert wird – stets ist jeder einzelne zur Hilfe mitaufgerufen, nicht nur die jeweils 'zuständige' Stelle. Jeder ist mitverantwortlich für das, was geschieht, und für das, was unterbleibt. Und jeder von uns (...) muss es spüren, wenn die Mitverantwortung neben ihn tritt und schweigend wartet. Wartet, dass er handle, helfe, spreche, sich weigere oder empöre, je nachdem. Fühlt er es nicht, so muss er´s fühlen lernen. Beim einzelnen liegt die große Entscheidung."
Rede von Bundespräsident Johannes Rau Festakt zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeszentrale für politische Bildung am 23. November 2002 in Berlin
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Rede von Bundespräsident Johannes Rau. Anlass war der Festakt zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeszentrale für politische Bildung am 23. November 2002 in Berlin.
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