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Antisemitismus als soziale Praxis | Ungleichheit, Ungleichwertigkeit | bpb.de

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Antisemitismus als soziale Praxis

Isabel Enzenbach

/ 11 Minuten zu lesen

Sich öffentlich judenfeindlich zu äußern ist in Deutschland zwar tabuisiert. Trotzdem zeigt sich in Meinungsumfragen, im politischen Diskurs und in der Alltagskultur, wie weit verbreitet und aktuell antisemitische Denkmuster sind.

Einleitung

Etwa eine Viertelmillion Abstimmungsberechtigte unterschrieben die "Antisemitenpetition" (1880/1881). Vier Forderungen wurden an den damaligen Reichskanzler gerichtet: Die Einwanderung von Juden solle "wenn nicht gänzlich verhindert, so doch wenigstens eingeschränkt werden", Juden sollten "aus allen obrigkeitlichen (autoritativen) Stellungen ausgeschlossen werden", die Volksschulen dürften zwar von jüdischen Schülerinnen und Schülern besucht werden, doch ihr christlicher Charakter müsse "streng gewahrt" bleiben, daher dürften jüdische Lehrer "nur in besonders motivierten Ausnahmefällen zur Anstellung gelangen". In einer amtlichen Statistik sollte schließlich die jüdische Bevölkerung erfasst und gezählt werden. Begründet wurde der Vorstoß mit dem Bedrohungsszenario, "daß das Überwuchern des jüdischen Elementes die ernstesten Gefahren für unser Volksthum in sich birgt". Im Kern ging es darum, die im Laufe des Jahrhunderts mühsam errungene rechtliche Gleichstellung rückgängig zu machen und antisemitische Welterklärungen zu verbreiten. Zur Konsensfähigkeit des Textes trug bei, dass die antisemitische Bewegung hier auf ihre sektiererischen Gewohnheiten verzichtete und religiös motivierte Judenfeindschaft mit biologisch-rassistischen, völkischen, nationalen und wirtschaftlichen Argumentationsweisen kombinierte.

Die "Antisemitenpetition" zeigt in den Entstehungsjahren des (modernen) Antisemitismus das typische Zusammenspiel von weltanschaulichen Deutungen, Emotionen, Kommunikationsweisen und sozialer Praxis der Exklusion. Gestützt auf eine Rhetorik der Ungleichheit wird ein unversöhnlicher Widerspruch zwischen Christen und Juden beschworen, eine maximale Distanz zwischen dem "arischen deutschen Boden" und "den Juden" fabuliert, sodass sich Herkunft, Blut, deutsche Sitte und christliche Weltanschauung zu einem mythischen Ganzen verweben. Die rechtliche Gleichstellung von Juden stellt sich vor diesem Hintergrund als "höchste Gefahr" dar. Auf diese Weise bietet die "Antisemitenpetition" scheinbare Erklärungen für neue ökonomische und politische Phänomene an, schürt Neid und Hass gegen "die jüdischen Herren", in deren Händen "der größte Teil des Kapitals" liegen würden. Die Forderung nach der "Emanzipation des deutschen Volkes" stellt schließlich die Verhältnisse auf den Kopf und legt nahe, die imaginierte Fremdherrschaft der Juden tatkräftig zu bekämpfen. In einer schweren Krise der bürgerlich-liberalen Gesellschaft, an der Zäsur der antiliberalen Wende von 1878/1879 gelang dem Weltbild, das der Kampfbegriff transportierte, eine steile Karriere.

Auch das Ende der "Antisemitenpetition" nimmt das Problem der gesellschaftlichen und politischen Reaktion auf den Antisemitismus in gewisser Hinsicht vorweg. Zwar intervenierten prominente Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft im "Manifest der Berliner Notabeln gegen den Antisemitismus": Sie wiesen darauf hin, "daß im Volksbewußtsein der Deutschen das Gefühl der nothwendigen Zusammengehörigkeit den Sieg über die Stammes- und Glaubensgegensätze" schon davontragen habe und forderten "Achtung jedes Bekenntnisses, gleiches Recht, gleiche Sonne im Wettkampf, gleiche Anerkennung tüchtigen Strebens für Christen und Juden". Linksliberale Parlamentarier versuchten vergeblich im preußischen Abgeordnetenhaus eine Stellungnahme gegen die "Antisemitenpetition" zu erreichen. Doch bestätigte der Vizepräsident des preußischen Ministerrats wenigstens, dass eine Änderung der "Gleichberechtigung der religiösen Bekenntnisse in staatsbürgerlicher Beziehung (...) nicht beabsichtigt" sei. Diese Interventionen konnten die Verbreitung antisemitischer Weltanschauung nicht aufhalten. Das aus jüdischen Honoratioren bestehende, zur Bekämpfung des Antisemitismus gegründete "Comite vom 1. Dezember 1880" stellte aus Furcht, durch selbstbewusstes Auftreten die Antisemiten zu bestätigen, bald seine Tätigkeiten wieder ein. So verfestigte sich in den folgenden Jahrzehnten der Antisemitismus zu einem "kulturellen Code": Eine Vielzahl von antimodernen, anti-emanzipatorischen, geschlechterstereotypen, antidemokratischen, aggressiv nationalistischen Überzeugungen kumulierte in einem "vertrauten Bündel von Auffassungen und Einstellungen", in dem "die Juden" zum verhassten "Symbol der modernen Welt" wurden.

Theorien und Topoi

Eine systematische Erforschung des Antisemitismus, die jenes komplexe Bündel entschlüsselt, setzte zeitlich parallel mit der nationalsozialistischen Vertreibung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden ein. Die entwickelten Erklärungsmodelle waren aufgrund der Komplexität, der religiösen, kulturellen, sozialen, psychischen, historischen und politischen Dimensionen des Phänomens notwendig interdisziplinär angelegt und integrierten eine Vielzahl theoretischer Konzepte und Methoden. Angesichts der Eskalation des Feindbildes zum "Zivilisationsbruch" markierenden Massenmord und der sich permanent fortschreibenden Aktualität des Untersuchungsgegenstands ist die Forschung inzwischen mit einem kaum zu überschauenden Fundus an Erfahrungen konfrontiert. Daher war die Wissenschaft "in den letzten Jahrzehnten zurückhaltend in der Ausarbeitung 'großer Theorien' und zielte stattdessen auf die Verbreiterung und Vertiefung unseres Kenntnisstandes im Einzelnen ab. (...) Dementsprechend stellt sich das gesamte Forschungsfeld in theoretischer Hinsicht disparat dar und kann nicht in einige gut unterscheidbare Theorieschulen geordnet werden." Im Folgenden werden zentrale antisemitische Semantiken in ihrer kommunikativen und sozialen Praxis dargestellt. Unter Semantiken ist der kommunikativ konstruierte kulturelle Wissensvorrat einer Gesellschaft zu verstehen. Auch der Antisemitismus der Gegenwart greift auf diese Semantiken und das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Motivrepertoire zurück. In den Transformationen des Antisemitismus nach der Schoah und in den neuen Phänomenen, die nach der Gründung des Staates Israel, im Nahost-Konflikt, in den Auseinandersetzungen um das Leben in einer globalisierten Welt und in Einwanderungsgesellschaften zu beobachten sind, haben die alten Denk- und Sprechmuster ihre Struktur bewahrt.

Das für die gesamte Judenfeindschaft konstitutive Moment - eine "Wir"-Gruppe durch die Abgrenzung von dem Bild, das diese Gruppe von Jüdinnen und Juden zeichnet, zu konstruieren - ist fester Bestandteil antisemitischer Semantik. Das Bild von Juden hat mit der Realität jüdischen Lebens in den jeweiligen Gemeinschaften wenig gemein. Das Phänomen des "Antisemitismus ohne Juden" (das Vorhandensein von verfestigten negativen Einstellungen in Ländern, in denen quasi keine Juden leben) führt die These, ein Realkonflikt stünde hinter dem Feindbild, ad absurdum. Die Exklusion von Jüdinnen und Juden aus einem "deutschen Wir" ist in der immer noch verbreiteten sprachlichen Gegenüberstellung von "Deutschen und Juden" aktuell und auch bei Gruppen zu beobachten, die explizit Wert darauf legen, keine judenfeindlichen Einstellungen zu teilen.

Ein Medium, das die antisemitischen Topoi komprimiert visualisiert, sind Aufkleber, die seit der Entstehung des Antisemitismus als Briefschmuck, politische Propaganda und Werbematerial im Umlauf waren. Sie verdichten die verschiedenen Anschuldigungen auf engstem Raum. Visuell dargestellt ist dieser Mechanismus der Gruppenbildung beispielsweise auf einer Wohlfahrtsmarke, mit der das Umfeld des Antisemiten Wilhelm Marr 1880 zu Spenden aufrief. Die positiv besetzte Bezeichnung "Liebesgabe" steht dem unbenannten Objekt der antisemitischen Agitation gegenüber. Eine imaginäre Gemeinschaft wird zu Spenden aufgerufen - erst ihr zu bekämpfender Gegner konstituiert sie (vgl. Abbildung 1 in der PDF-Version).

Explizierter findet sich das gleiche Prinzip auf zahlreichen Aufklebern, die Zitate mit judenfeindlichen Aussagen als Briefschmuck anboten. Unabhängig von den konkreten Anschuldigungen wurde durch die Gegenüberstellung von "Juden" und einem oft unbenannten, mythischen "Wir" der Ausschluss von Jüdinnen und Juden aus dieser "Wir"-Gruppe vollzogen. Eine Serie von Textmarken, die vermutlich am Ende der Weimarer Republik von der nationalsozialistischen Bewegung in Umlauf gebracht wurden, versinnbildlicht den Ausschluss aus der Nation. Wie diese Aufkleber illustrieren, ist die Exklusion aus der nationalen Gemeinschaft umfassend, da "den Juden" jegliche nationale Zugehörigkeit abgesprochen wird (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version).

Der Rassenantisemitismus, als ein zentrales ideologisches Moment in der Vernichtungspolitik des NS-Staates, verknüpfte tradierte Judenfeindschaft mit Rassentheorien, die seit dem 18. Jahrhundert in großem Umfang in pseudo-, populärwissenschaftlichen und literarischen Werken publiziert wurden. Die auf sozialen, religiösen und wirtschaftlichen Motiven beruhende Judenfeindschaft trat nun mit wissenschaftlichem Anspruch auf. Im Kontext der Rassentheorien erschienen die als semantisches Gegensatzpaar konstruierten Begriffe "Semiten" und "Arier" als biologische Größen und damit als unabänderliche, naturgegebene Konstanten. Die Nichtzugehörigkeit von Juden und Jüdinnen erschien nicht mehr als eine umkämpfte gesellschaftspolitische Frage, sondern als wissenschaftlich begründete Tatsache. Da "Rassenmischung" notwenig zum Niedergang führe, galt es, Juden, aber auch andere zur "Rasse" erklärte Gruppen, möglichst umfassend aus den sozialen Beziehungen auszuschließen. Die Nürnberger Gesetze gossen den Gedanken der "Rasseschande" in eine juristische Form, während im Rahmen von "Prangerumzügen" jüdisch/nichtjüdische Paare öffentlich gedemütigt wurden.

Welche Rolle dem Antisemitismus beim Massenmord an den europäischen Juden genau zukommt, wird in der Holocaust-Forschung durchaus kontrovers diskutiert. "Unbestreitbar ist die Tatsache, dass im Holocaust der Antisemitismus als Ideologie in der Realität des Völkermords kulminierte." Die auch für den Antisemitismus nach 1945 charakteristische Umkehr von Opfer- und Täterrollen perpetuiert allerdings eine Praxis der nationalsozialistischen Propaganda. So kündigte Hitler am 30. Januar 1939 in einer Rede vor dem Reichstag an: "Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa!" Diese höhnische Verkehrung der Rollen findet sich ebenso auf Klebezetteln. Für die Wohnungsnot, mit der später die Deportation der Wiener Juden ins Generalgouvernement begründet wurde, wurden auf diesen in Österreich verbreiteten Spruchmarken Juden verantwortlich gemacht. Wie auf den abgebildeten farbigen Marken erscheint die Forderung "Juden hinaus" in dieser Kombination als "logische Konsequenz" aus der "Analyse" der Lage (vgl. Abbildung 3 in der PDF-Version); gleichzeitig ist sie Wegbereiter und semantische Tarnung des bald darauf begangenen Völkermords.

Transformationen nach 1945

Der Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden und die Gründung des Staates Israel sind zwei historische Tatsachen, die den Antisemitismus der Gegenwart von seinen Anfängen bis zu seiner 1945 kulminierenden Form unterscheiden. Hoffnungen, dass sich im Angesicht des Massenmords die verfestigten Einstellungen gegenüber Juden und Jüdinnen fortan von selbst verbieten würden, wurden von der Realität widerlegt. In ganz Europa, in den ehemals deutsch besetzten Ländern durch die Okkupationserfahrung verstärkt, existierte der Antisemitismus fort und transformierte sich. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt waren die Überlebenden weiterhin mit offener und gewalttätiger Feindschaft konfrontiert. "Die Erfahrung, dass Juden gleichsam 'vogelfrei' und auf die niedrigste gesellschaftliche Stufe herabgedrückt worden waren, hatte das Verhältnis zu ihnen brutalisiert." In beiden deutschen Staaten, wenn auch unter unterschiedlichen politischen Ausgangsbedingungen, lebten Elemente des Antisemitismus fort.

In der Forschung führten diese Entwicklungen zu den Begriffsbildungen "sekundärer Antisemitismus", "israelbezogener Antisemitismus" sowie "islamisierter Antisemitismus". Im Zentrum des sekundären Antisemitismus steht die auf die Schoah bezogene Schuldabwehr. Diese äußert sich in der Verharmlosung und Relativierung der deutschen Verbrechen, im Zurückweisen von Restitutionsansprüchen, in der Umkehrung von Täter- und Opferrollen sowie in Vorwürfen, Jüdinnen und Juden würden versuchen, aus dem Völkermord Vorteile zu erzielen. Auch die Verantwortungsumkehr, Juden und Jüdinnen wären aufgrund ihres Verhaltens selbst an der Judenfeindschaft schuld, gehört dazu. Die Forderung nach einem Schlussstrich unter die Erinnerungspolitik und -kultur bildet die logische Konsequenz dieser Abwehrargumentationen.

Beim israelbezogenen Antisemitismus ist die Kritik an israelischer Innen- oder Außenpolitik geprägt von Argumentationsweisen, welche die Kritik politischer, militärischer oder juristischer Handlungen des israelischen Staates auf alle seine Bürgerinnen und Bürger übertragen und mit antisemitischer Weltanschauung oder Semantik vermischen. Auch die im öffentlichen Diskurs zu beobachtende Parallelisierung israelischer Politik mit der des NS-Regimes wird in der Forschung als Charakteristikum des israelbezogenen Antisemitismus genannt. Als weitere Kriterien zur Unterscheidung von "legitimer Israelkritik" und antisemitisch gefärbter Kritik werden die Obsession herangeführt, mit der Kritik an Israel geäußert wird, sowie eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Staaten, deren Verhalten mit anderen Standards bemessen wird. Im konkreten Konfliktfall wie etwa bei den Reaktionen zur Attacke auf die Gazaflottille im Mai 2010 sind die Einschätzungen, wo legitime Kritik ihre Grenzen hat und eine antisemitische Kontaminierung beginnt, umstritten.

Der Begriff "islamisierter Antisemitismus" charakterisiert den in islamisch geprägten Gesellschaften verbreiteten Antisemitismus als ein Phänomen, das auf den Denkmustern und Motiven des in Europa entwickelten Antisemitismus aufbaut. Denn "der heute in der islamischen Welt vorzufindende Antisemitismus bezieht seine Mythen - das Image des 'jüdischen Feindes' - nur zu einem unerheblichen Teil aus der islamischen Tradition". Vielmehr nährten die Expansion des Osmanischen Reichs auf europäisches Territorium, die am europäischen Vorbild entwickelte Modernisierungspolitik der Jungtürken sowie der Palästina-Konflikt diese Form des Antisemitismus. Die heute in diesem Kontext verbreiteten Anschuldigungen sowohl gegen Juden und Jüdinnen als auch gegen den Staat Israel sind fundamental von den aus Europa importierten Denkfiguren geprägt. "Islamisierter Antisemitismus" findet sich, vor allem auf den Nahost-Konflikt bezogen, auch bei Musliminnen und Muslimen in Deutschland. Noch fehlen Studien, die eindeutige Aussagen darüber zulassen, welches Ausmaß, welche Struktur und Besonderheiten antisemitische Einstellungen in der äußerst heterogenen Gruppe der in Deutschland lebenden Muslime haben. Explorative qualitative Studien zeigen, dass "antisemitisch eingestellte muslimische Jugendliche (...) offenbar eigene diskriminierende Erfahrungen mit dem transnationalen Geschehen (verbinden). Dabei werden Juden von diesen Jugendlichen als der eigentliche Feind oder Rivale konzipiert." Stark beeinflusst scheinen diese Konstruktionen durch die von diesen Jugendlichen konsumierten Medien und ihrem sozialen Umfeld.

Veränderte Rahmenbedingungen

Trotz des Fortbestehens des Antisemitismus und seiner Transformationen haben sich die Bedingungen, unter denen Antisemitismus heute artikuliert wird, wesentlich verändert. Eine "Antisemitenpetition" würde heute auf deutlich stärkeren Widerstand der politischen Eliten, der Presse und der Zivilgesellschaft stoßen. Sich öffentlich explizit judenfeindlich zu äußern ist gesellschaftlich tabuisiert. Antisemitismus zu bekämpfen, gehört zur Staatsräson. Trotzdem zeigt sich in Meinungsumfragen, im politischen Diskurs und in der Alltagskultur, wie verbreitet und aktuell antisemitische Denkmuster nach wie vor sind.

Ob "in Deutschland lebenden Juden" die gleichen Rechte zugebilligt werden sollten wie nichtjüdischen Deutschen, verneinten 2006 in einer repräsentativen Umfrage 25 Prozent der Befragten. Gegenüber anderen Gruppen wie in Deutschland lebenden türkeistämmigen Menschen ist die Ablehnung der rechtlichen Gleichstellung noch höher (43 Prozent). Unter der Oberfläche eines gesellschaftlich geächteten Antisemitismus schwelen seine Denkmuster fort. 2010 stimmten 39,5 Prozent der Befragten der Aussage zu: "Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen"; 16,6 Prozent glaubten, Jüdinnen und Juden hätten in Deutschland zu viel Einfluss; 38,4 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu: "Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat."

Es gibt kein "geeichtes Fieberthermometer" (Werner Bergmann), um Antisemitismus zu messen. Die Zustimmung zu einer einzelnen Aussage gilt in der empirischen Sozialforschung noch nicht als Beleg für ein antisemitisches Weltbild. Erst aus der Zustimmung zu mehreren solcher Aussagen errechnet die Einstellungsforschung ihre Angaben über die Verbreitung eines verfestigten antisemitischen Weltbildes. Dabei schwanken die Ergebnisse je nach Messverfahren: Besonders hohe Zustimmungsraten finden sich in den Umfragen zum sekundären und israelbezogenen Antisemitismus. Denkt man an die gegenwärtigen politischen und sozialen Konfliktfelder, in denen der Antisemitismus virulent ist, beunruhigt dieser Zustand.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das entsprach rund zwei Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung Deutschlands, darunter 18 Prozent aller Universitätsstudenten. Vgl. Massimo Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen, Frankfurt/M. 2003, S. 197ff.

  2. Zit. nach: Karsten Krieger, Der "Berliner Antisemitismusstreit" 1879-1881, München 2004, S. 535ff.

  3. Zit. nach: ebd., S. 551ff.

  4. Zit. nach: ebd., S. 568.

  5. Vgl. Avraham Barkai, "Wehr dich!", München 2002, S. 21.

  6. Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, München 2000.

  7. Klaus Holz, Theorien des Antisemitismus, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus, Berlin 2010, S. 325.

  8. Vgl. Albert Scherr/Barbara Schäuble, "Ich habe nichts gegen Juden, aber ...", Berlin 2006, S. 10ff.

  9. Vgl. Isabel Enzenbach/Wolfgang Haney, Alltagskultur des Antisemitismus im Kleinformat, Berlin 2012.

  10. Wolfgang Benz, Holocaust, in: ders. (Anm. 7), S. 124.

  11. Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 2002, S. 117.

  12. Vgl. Heike Radvan, Antisemitismus in der DDR, Berlin 2010.

  13. Vgl. Aribert Heyder/Julia Iser/Peter Schmidt, Israelkritik oder Antisemitismus?, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 3, Frankfurt/M. 2005, S. 149.

  14. Michael Kiefer, Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften, der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes, Düsseldorf 2002, S. 9.

  15. Vgl. ders., Islamisierter Antisemitismus, in: W. Benz (Anm. 7), S. 133-136.

  16. Vgl. Wolfgang Frindte et al., Lebenswelten junger Muslime in Deutschland, Berlin 2011, S. 154ff. und S. 216ff.

  17. Jürgen Mansel/Viktoria Spaiser, Antisemitische Einstellungen bei Jugendlichen aus muslimisch geprägten Sozialisationskontexten, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 10, Berlin 2012, S. 237.

  18. Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Antisemitismus in Deutschland, Berlin 2011.

  19. Vgl. Werner Bergmann, Ergebnisse der Einstellungsforschung zum Antisemitismus in Deutschland, Juni 2010, S. 6, online: www.bmi.bund.de/DE/Themen/PolitikGesellschaft/PolitBildGesellZusammen/Expertenkreis/expertenkreis_node.htmlS (20.3.2012).

  20. Vgl. Beate Küpper/Andreas Zick, Antisemitische Mentalitäten, Berlin 2011, S. 21ff.

Dr. phil., geb. 1963; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung, Ernst-Reuter-Platz 7, 10587 Berlin. E-Mail Link: enzenbach@mail.tu-berlin.de