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Der Geschichte ins Gesicht sehen

Tobias Winstel

/ 14 Minuten zu lesen

Es gilt, den biographischen Blick als historisch-kritische Methode anzuerkennen, der Barrieren zwischen der Wissenschaft und einem Publikum jenseits der Fachwelt überschreiten kann.

Einleitung

Seit einigen Jahren ist in der Geschichtswissenschaft von einer "überraschenden Renaissance der Biographie" die Rede. Die "Rückkehr des totgesagten Subjekts" wird proklamiert, manche rufen gar einen "Biographical Turn" aus. Soweit die Experten. Und das Publikum? Das reibt sich verwundert die Augen: War die Biographie denn jemals völlig verschwunden? Natürlich nicht, denn insbesondere beim gemeinen Buchleser stand die historische Lebensbeschreibung schon immer hoch im Kurs. Bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gab es biographische Megaseller wie etwa Emil Ludwigs "Bismarck", der es in den 1920er Jahren immerhin auf 83 Auflagen und 150000 verkaufte Exemplare brachte. Andere - wie Ludwig nicht im engeren Sinne wissenschaftliche - Biographen wären zu nennen, etwa Theodor Heuss, der in den 1930er und 1940er Jahren einer breiteren Öffentlichkeit zunächst nicht aufgrund seiner politischen Arbeit, sondern dank seiner biographischen Werke bekannt geworden war.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war es häufig die außerakademische Geschichtsschreibung, die historische Themen mithilfe weithin beachteter biographischer Darstellungen auf die Tagesordnung setzte. Joachim Fests "Hitler" beispielsweise war eines der erfolgreichsten zeithistorischen Bücher in Deutschland, von dem seit 1973 in verschiedenen Ausgaben und Auflagen rund 800000 Exemplare verkauft worden sind. Und die wohl bekannteste biographische Buchreihe im deutschsprachigen Raum, "rowohlts monographien", in der seit 1958 inzwischen 640 Bändchen erschienen sind, brachte es bis auf den heutigen Tag auf die beeindruckende Gesamtauflage von 20 Millionen Exemplaren.

Auch heute stapeln sich Biographien in den Buchläden, die Lebensbeschreibungen all jener "Monster, Retter, Mediokritäten" (Hans-Peter Schwarz), die einer näheren Betrachtung wert erscheinen, werden in Rezensionen gewürdigt und für Sachbuchpreise nominiert. Historische Gestalten müssen regelmäßig ihren Kopf für die Titelgeschichten der Magazine hinhalten, und große Biographien sind nicht selten zugleich große Buchereignisse. Weltweit werden - so schätzte der "Spiegel" vor einigen Jahren - etwa 10000 Lebensbeschreibungen pro Jahr auf den Markt gebracht, und die deutschsprachigen Verlage tragen einen gehörigen Teil dazu bei. Zwar haben historische Bücher generell Konjunktur, also auch die systematischen Darstellungen zu einzelnen geschichtlichen Ereignissen oder Fragen; auch sie werden gelesen, zweifelsohne - doch Biographien werden verschlungen.

Wie ist das zu erklären? Zum einen mag dabei die "Rückkehr des Autors" eine Rolle spielen, wie Peter-André Alt meint. Renommierte Historiker oder Publizisten, von denen sich das Publikum gerne Geschichte und Geschichten erzählen lässt, erlangen schon dadurch Aufmerksamkeit, dass sie zur Feder greifen und sich einer historischen Gestalt annehmen. Der eigentliche Reiz jedoch scheint für den Leser darin zu liegen, dass er mit einer Lebensbeschreibung in Buchform gewissermaßen etwas Abgeschlossenes in der Hand hält. Der Vorhang zu und alle Fragen offen, das hat der Mensch nicht so gerne. Er liebt es, wenn sich Kreise schließen, wenn das menschliche Drama, das vor ihm ausgebreitet wird, sinnhaft endet. Hinzu kommt, dass die Biographie den Leser mitnimmt auf einen Weg von der Wiege bis zur Bahre, komfortabel kann er gewissermaßen im Sitzen ein Leben besichtigen. Die Gefahr, die freilich in dieser Verlockung liegt, hat der Soziologe Pierre Bourdieu auf den Punkt gebracht, als er mit seinem einprägsamen Begriff von der "biographischen Illusion" vor der vermeintlichen Zwangsläufigkeit einer konsistenten Lebensgeschichte gewarnt hat. Sein erstes Gebot lautet daher: Eine Biographie darf nie nur ein schlecht getarnter Entwicklungsroman sein. Der Leser soll in sie eintauchen, zugleich aber auch wieder aus ihr heraussteigen können.

Interessanterweise hat Siegfried Kracauer die Biographie schon gegen Ende der Weimarer Republik im Bewusstsein der Krise zum einen als Fluchtphänomen gedeutet, über dem der "Glanz des Abschieds" ruht, zum anderen als Versuch der Rettung des Individuums. Das mag auch ihren gegenwärtigen Boom zum Teil erklären. In unserer Lebenswelt, in der das Kohärente abwesend scheint und die Vielfalt der Möglichkeiten nicht nur Chance, sondern auch ein Problem der Lebensführung geworden ist, erwächst zudem beinahe zwangsläufig eine Sehnsucht nach prägnanten Lebensbildern, nach Orientierung im Guten wie im Schlechten, nach Lebensmustern. "Immer dann, wenn der Mensch zu zweifeln beginnt, d.h. wenn alte Werte wanken, neue aber erst noch gebildet werden müssen, ist die Regsamkeit im biographischen Bereich besonders groß." Dieser viel zitierte Satz des niederländischen Historikers und Publizisten Jan Romein findet auch heute seine Bestätigung.

Biographik in jüngerer Zeit

Gerade der Erfolg beim Publikum aber machte die Biographie als Genre für die wissenschaftlich arbeitenden Historiker lange Zeit verdächtig. Insbesondere in der deutschen zeithistorischen Fachwissenschaft hatte sie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schwer. Die biographische Methode innerhalb der Historiographie galt vielen als unreflektiert, theoretisch anspruchslos und antiquiert, ja geradezu als reaktionär. Eine "personalisierte Geschichtsauffassung" wurde zum Kampfbegriff jener Epoche, die vielzitierten "menschenleeren Strukturlandschaften" kamen in Mode. Die marxistische Theorie der 1960er und 1970er Jahre lehnte das biographische Interesse als Symptom eines autoritären Blicks auf die Geschichte ab. Das Individuum sollte nicht nur in der Realität, sondern auch in der Geschichtsschreibung in kollektivistischen Ideen oder subjektübergreifenden Diskursen aufgehen. Die Konzentration auf das Leben dagegen lenke von den Bedingungen ab, so einer der gängigen strukturalistischen Vorbehalte.

Natürlich gab es auch in jener Zeit Sozialhistoriker wie den Mitbegründer der Bielefelder Schule, Jürgen Kocka, der in seinen Forschungen zur Geschichte der Arbeiter oder des Bürgertums den Faktor Person und Persönlichkeit immer mitbedachte. Doch trotz solcher "Lebensretter" geriet die historische Biographie ins Zwielicht, denn sie stand überdies im Verdacht, unmäßig zu vereinfachen. Sie fiel schlichtweg - übrigens nicht nur unter Historikern - "unter das Verdikt politischer und intellektueller Minderwertigkeit", wie der Literaturwissenschaftler Detlev Schöttker schreibt. Noch zu Anfang des neuen Jahrtausends bezeichnete es die Zeitschrift "Literaturen" dementsprechend als "akademischen Selbstmord", wenn ein Historiker sich mit Lebensgeschichten befasste. Übrigens galt das im besonderen Maße für Deutschland, während Biographien etwa in der angelsächsischen Forschung immer Anerkennung fanden. Dort sah man, dass nicht das Genre darüber entscheidet, ob eine historische Untersuchung ausreichend differenziert oder im Gegenteil Komplexität zertrümmert, ob sie gut oder schlecht gemacht ist - sondern der Autor, wie bei jedem anderen Werk auch.

Von einer Ausgrenzung der Biographik kann heute keine Rede mehr sein - nicht nur, weil inzwischen die marxistischen Interpretamente und die strukturalistische Modernisierungstheorie als alles erklärende Meistererzählungen obsolet geworden sind, sondern auch, weil durch den Einfluss der Kulturgeschichte Begriffe wie Erfahrung, Deutung, Vorstellung und Gefühl zu anerkannten historischen Analyseinstrumenten geworden sind. Die Zeitgeschichte zahlte für das Ausblenden der Biographik aus dem Blickfeld der wissenschaftlichen Relevanz allerdings einen hohen Preis: Überzeugende theoretische Überlegungen wurden zu diesem Genre über Jahrzehnte kaum angestellt und kommen erst seit kurzem in Gang; es ist durchaus bezeichnend, dass die Biographie als historische Darstellungsform in geschichtswissenschaftlichen Einführungskompendien so gut wie nicht vorkommt.

Inzwischen jedoch interessieren sich gerade auch methodisch ambitionierte Forschungsarbeiten für die subjektive Dimension der Geschichte. Die Biographie erobert sich langsam aber sicher ihren festen Platz unter akzeptierten Zugangsweisen und Darstellungsformen der Geschichtswissenschaft (zurück). Natürlich würde auch heute kein Zeithistoriker, der ernst genommen werden möchte, den Nationalsozialismus nur aus Hitler heraus erklären, "Achtundsechzig" allein als Spielwiese Rudi Dutschkes begreifen oder die DDR mit Walter Ulbricht gleichsetzen. Doch ebenso wenig würde jemand ernsthaft bestreiten, dass diese Figuren bedeutend und wirksam für die entscheidenden Entwicklungen ihrer Zeit waren und dass eine intensive Beschäftigung mit ihrem Leben und dessen Darstellung auch in wissenschaftlicher Hinsicht lohnt.

Der biographische Blick

Wenn man nach der Zukunft der Erinnerungskultur in Deutschland fragt, dann spielt der biographische Blick, wie man die wissenschaftlich-methodische Herangehensweise vielleicht bezeichnen könnte, eine wichtige Rolle. Denn der Nutzen der Biographie besteht ja nicht nur darin, dass mit ihr individuelles Handeln ausgeleuchtet, erzählt und eingeordnet werden kann. Durch die Schilderung von Umwegen, Brüchen und Scheitern geraten auch die unweigerliche Kontingenz der Geschichte, überindividuelle treibende Kräfte, die Unfähigkeit des Menschen, sein Leben vollständig selbst zu beherrschen und zu gestalten, in den Blick. Der gute zeithistorische Biograph zeichnet nicht nur den Lebensweg nach und kleidet ihn literarisch aus, er berücksichtigt alle Facetten der Deutung, der Sinnkonstruktion, der Lebensdarstellung, der sozialen Umwelt.

Konsequenterweise werden Gefühl und Gefühle als historische Kategorie zunehmend ernst genommen. Da liegt es auf der Hand, dass auch die psychische Beschaffenheit von Figuren, die in die Weltläufte eingegriffen haben, zunehmend interessiert. Joachim Radkau etwa plädiert in seiner fundamentalen Max-Weber-Darstellung dafür, Leib und Seele nicht vom Werk und Wirken einer großen Figur zu lösen, denn auch historische Gestalten hätten wichtige Entscheidungen "aus dem Bauch heraus" getroffen. Diese Sichtweise lässt sich freilich nicht nur auf einen Säulenheiligen der zeithistorischen Zunft, sondern auch bei weniger sympathischen Gestalten der Geschichte mit großem Erkenntnisgewinn anwenden. Zu denken wäre etwa an Heinrich Himmlers krude Vorstellung von "Anstand" bzw. "Anständigkeit" und seine notorische Bindungsstörung oder an Joseph Goebbels' übersteigerten Narzissmus und seine Sucht nach Anerkennung; schnell wird durch diese Beispiele klar, dass die Frage nach dem Persönlichkeitskern und seinen Auswirkungen auf das Handeln einer Person wichtig ist.

Die so genannte Psychohistorie, konkreter: die Psychobiographie ist freilich ein noch wenig etablierter Ansatz, der in den 1970er Jahren bereits einmal Anlauf genommen hat, sich damals allerdings aufgrund vergleichsweise naiver Vorstellungen von historischen Kausalzusammenhängen nicht als Teilbereich der allgemeinen Geschichtswissenschaft etablieren konnte. Inzwischen sind die methodischen Überlegungen hierzu ausgereifter, und einige Arbeiten konnten der zeithistorischen Forschung wertvolle Impulse geben. Denn die Psychohistoriographie leuchtet das Leben auch über persönliche - mithin also auch private - Seiten aus. Glaube, Sexualität, familiäre Prägungen und Bindungen werden in den Blick genommen. Es geht dabei nicht um eine Schlüssellochperspektive, sondern darum, das gelebte und gedeutete Leben als historische Kategorie zu stärken.

Im besten Fall ist eine Biographie eine literarisch anspruchsvolle Darstellung, in der sich politische Strukturgeschichte und individuelle Lebensgeschichte miteinander verschränken - wie im "echten" Leben auch. Das historische Subjekt wird erkennbar innerhalb der bewegenden Kräfte seiner Zeit, die Wechselwirkung zwischen individuellen und überindividuellen Faktoren bekommt buchstäblich ein Gesicht. Um historische Prozesse zu verstehen, müssen das einzelne Leben aus dem geschichtlichen Ganzen herauspräpariert und zugleich die Menschen im Kontext von Gesellschaft, Machtapparaten und Institutionen gesehen werden.

Das gilt auch für die Erforschung des Nationalsozialismus, denn es geht dabei um eine Epoche extremer Personalisierung politischer Macht. So lässt sich etwa an den Machtapparaten der genannten Himmler und Goebbels ablesen, wie sehr Person und Struktur auf besonders enge, untrennbare Weise miteinander verbunden waren. Aber nicht nur, wenn wir an die Täter denken, auch wenn es um die Opfer geht, hilft der biographische Zugang. Er ermöglicht nämlich auch dann noch eine Art Geschichte in der ersten Person, wenn die unmittelbaren Erinnerung an das Erlebte nicht mehr von den Betroffenen selbst vermittelt werden kann; ein Beispiel wäre Mark Rosemans viel beachtetes Buch "In einem unbewachten Augenblick", in dem er die (Über-)Lebensgeschichte der Marianne Ellenbogen wie in einem Puzzle zusammengesetzt hat. Gerade mit Blick auf das häufig beschworene, von einigen ersehnte und von vielen befürchtete Ende der Zeitzeugenschaft zur nationalsozialistischen Vergangenheit liegt in dieser Art von Erinnerung der zweiten Ordnung eine große Chance.

Bei all dem geht es nicht darum, die Biographie als bloßes erinnerungspädagogisches Vehikel zu benutzen, denn sie bietet methodische Chancen und erfüllt auch handfeste wissenschaftlich-kritische Funktionen: Gendertheorie, Konstitution von Identität, Bruchlinien zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Erforschung kultureller Transfers, Ethnographie und interkulturelle Kommunikation, Erinnerungsdiskurse und Phänomene des Nachlebens - wenige Stichworte mögen genügen, um zu zeigen, dass es sich bei der Biographik um ein dynamisches und interdisziplinäres Forschungsfeld handelt, an der Schnittstelle zwischen Literatur-, Geschichts- und Kulturwissenschaften.

Der biographische Blick kann dabei helfen, "Handlungsspielräume und Möglichkeiten individueller Lebensführung exakter auszumessen". Die Veränderung von Sichtweisen, historische Brüche und kollektive Wendepunkte, die Zuspitzung von Ereignissen und zeitlichen Konsistenzen - all das wird auch fassbar durch das Heranzoomen an einzelne Lebenswege. Es geht also bei einer Biographie mitnichten nur um eine Persönlichkeit, sondern vielmehr um die "vermeintliche Einheit aller Handlungen eines Individuums". Dazu gehören auch abgebrochene Entwicklungen oder gescheiterte Lebensentwürfe, die für die Erforschung von historischen Übergangsprozessen besonders wichtig sind und jenseits der Biographik leider nur selten Eingang in die Geschichtsbücher finden.

Das Leben und seine Konturen

Der Mensch ist ein Verweisungsganzes, auf gut Deutsch: Zu einem Leben gehört auch immer die Welt, die es umgibt, und das ist in einer guten Biographie immer mit inbegriffen. Eine große Chance der biographischen Perspektive liegt darin, die Schnittpunkte der vielen Bezugskreise zu nutzen, die vom einzelnen Leben ausgehen. Wer etwa eine Biographie über Rudi Dutschke schreibt, der wird bei seiner Untersuchung nicht nur mit der Person und Persönlichkeit des Studentenführers konfrontiert, sondern auch auf die Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen, auf Mentalitäten der Mehrheitsgesellschaft oder auf mediengeschichtliche Phänomene stoßen. Gleichzeitig wird er Begriffe wie "Lebenswelt" und "Handeln" als historische Kategorien ernst nehmen, soziokulturelle Kontexte und Handlungsspielräume ausloten, denn auch soziale Strukturen "existieren nicht außerhalb der Akteure, sie werden durch soziales Handeln dieser Akteure erst aktualisiert". So kann man dem anonymen Fatalismus, der oftmals hinter strukturgeschichtlichen Fragen lauert, ein Schnippchen schlagen. Oder, wie Ian Kershaw rückblickend über die Arbeit an seiner Hitler-Biographie meint: "Wir gehen davon aus, dass ein Individuum Wahlmöglichkeiten hat, sich entscheiden muss."

So tritt die Offenheit der Geschichte hervor, deren Folgen die Zeitgenossen nicht kennen oder erkannten. Auch wird die Verdichtung von historischen Konstellationen darstellbar, denn der "Totalität der historischen Strukturen" stellt der biographische Blick "die lebensgeschichtliche Totalität des historischen Ausschnitts gegenüber". Gerade wenn es darum geht, historische Umbrüche zu untersuchen, kommt es darauf an, Individuen als beschleunigende oder bremsende Elemente von Transformationsprozessen in die Analyse einzubeziehen. Die technische und Kommunikationsrevolution, die demographische Explosion, die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats, die Achterbahnfahrt der Nationalstaaten, die Globalisierung, der Wandel von Sexualität und Geschlechterverhältnissen, der Kalte Krieg und seine Folgen - all diese Entwicklungen des 20. Jahrhunderts wurden nicht nur erlebt und erfahren, sondern auch betrieben von Individuen. Es ist so: Jeder einfache und klare Satz hat neben dem Prädikat und dem Objekt auch ein Subjekt. Ohne das ist es kein Satz, sondern Gestammel. Schulanfänger lernen als Erstes zu fragen: "Wer oder was?" Gute Geschichtsschreibung sollte dahinter nicht zurückfallen.

Mehr Biographie wagen

Unter dem Strich ist die Biographie also ein Genre, das wichtige wissenschaftliche Fragen aufwerfen und beantworten kann und sich zugleich beim Publikum größter Beliebtheit erfreut. Natürlich macht sie genau diese Kombination auch für Verlage besonders attraktiv, denn mit ihrer Hilfe können Gräben und Grenzen überwunden werden: Von der Wissenschaft zum sogenannten interessierten Laien, vom Forscher zum Leser, von der Fach- in die Sachbuchabteilung. Auch die Zunft der Historiker erkennt darin für sich zunehmend eine Chance. Nicht zuletzt übrigens, weil sie sich wie andere Disziplinen auch immer mehr zu rüsten hat für die visuelle und multimediale Verbreitung ihrer Forschungsergebnisse. Bedeutsame Begegnungen, denkwürdige Szenen, existentielle Krisen, fundamentale persönliche Erfolge und Niederlagen, abenteuerliche Begebenheiten, rätselhaftes menschliches Handeln - alles, was das Leben merklicher Gestalten hergibt, lässt sich eben nicht nur gut aufschreiben, sondern auch darstellen.

Das gilt natürlich in besonderem Maße für das (inzwischen nicht mehr ganz so) neue Medium Internet. Wenn ein guter Teil historischer Darstellung einmal nicht mehr über bedrucktes Papier, sondern via Hypertexte, Links und Clips vermittelt wird, dann kann die biographische Darstellung ihren reichen Verweisungscharakter ausspielen. "rowohlts monographien" hat das bereits erkannt und wird künftig mit Filmausschnitten, Textdokumenten und Landkarten angereicherte, multimediale Biographien auf den Markt bringen. Dieser Schritt mag auch eine Reaktion darauf sein, dass die kostenlose Konkurrenz aus dem Internet - namentlich Wikipedia - gerade den kurz gefassten Überblicksbiographien harte Konkurrenz bietet. Aber diese Entwicklung zeigt eben auch, welche Chancen für das Genre Biographie in der digitalen Welt liegen.

Wir sollten daher beherzt den Fuß in die Tür stellen, die sich uns hier öffnet. Wir, das sind nicht nur die Historiker, sondern auch die Verlage, die Ausstellungsmacher, die Fernsehredakteure. Wir sollten uns interessieren für das Leben der Anführer und Revolutionäre, der Unternehmer und Dichter, der Täter und Opfer. Familien, Gruppen oder gar Generationen sollten in den Blick geraten; die politischen Taten oder die intellektuell-künstlerische Einzelleistung; eine bestimmte Lebensphase oder die Zeit von der Geburt bis zum Tod. Und wir sollten nicht nur das Leben der "großen" Männer und Frauen besichtigen, sondern uns auch den Figuren der zweiten Reihe widmen, den vergessenen und aus dem großen historischen Gemälde hinausgedrängten - den Handlangern, den Spionen, den wenig bekannten Widerstandskämpfern, den Abgeordneten, den "Hexen", den Wissenschaftlern, den Berichterstattern, den Staatssekretären, den Stellvertretern. "Biographiert mich!", so meint man es manchmal aus den Tiefen der Geschichte rufen zu hören, und hier stehen wir erst am Anfang. Die Kulturhistorikerin Sabina Loriga bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt: "Il faut repeupler le passé", die Vergangenheit müsse wieder bevölkert werden, so ihre ebenso knappe wie eingängige Formel.

Auch wenn es schwer fällt, die Widersprüchlichkeit und Komplexität des Lebens, die sich in Lebensgeschichten spiegelt, fair zu bewerten; auch wenn Objektivität und Neutralität gegenüber einer Person im Grunde nicht zu erreichen sind: Es tut gut, wenn Geschichte bisweilen auch mit Herzblut und Verve geschrieben wird, wenn gelegentlich Bewunderung oder Abscheu die historischen Darstellungen durchwehen, wenn Dramen als solche ernst genommen und erzählt werden. Das gilt für alle historiographischen Genres, für die Biographie aber in besonderem Maße. Dann fällt es auch leichter, sich gegenüber der Geschichte zu verhalten, ihr ins Gesicht zu sehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Die Rückkehr des totgesagten Subjekts, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.5.2008. Vgl. außerdem den Bericht über eine Konferenz am Deutschen Historischen Institut Washington im März 2004, in: GHI Bulletin, 35 (2004), S. 147-155. Zur Biographik sind in den vergangenen Jahren wichtige Sammelbände und Aufsätze erschienen, zuletzt Simone Lässig, Die historische Biographie auf neuen Wegen?, in: GWU, (2009) 10, S. 540-553; Christian Klein (Hrsg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009; Bernhard Fetz (Hrsg.), Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin 2009.

  2. Vgl. Buchreport vom 25.3.2010, S. 11.

  3. Vgl. Peter-André Alt, Mode oder Methode? Überlegungen zu einer Theorie der literaturwissenschaftlichen Biographik, in: Ch. Klein (Anm. 1), S. 23-40.

  4. Vgl. u.a. Hans-Christof Kraus, Geschichte als Lebensgeschichte, in: ders./Thomas Nicklas, Geschichte der Politik: alte und neue Wege, München 2007, S. 311-322, hier S. 315ff.

  5. Detlev Schöttker, Der Autor lebt. Zur Renaissance seiner Biographie, in: Merkur, 780 (2008), S. 442-446.

  6. Vgl. Christian Klein (Hrsg.), Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart 2002, S. 16.

  7. Vgl .Tobias Winstel, Das Buch zum Leben. Ein Plädoyer für den biographischen Blick, in: Theresia Bauer/Elisabeth Kraus/Christiane Kuller/Winfried Süß (Hrsg.), Gesichter der Zeitgeschichte. Deutsche Lebensläufe im 20. Jahrhundert, München 2009.

  8. Vgl. Wolfgang Hardtwig, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2005, S. 11-32, hier S. 23.

  9. Vgl. etwa die neuen Forschungen von Ute Frevert und Jan Plamper, online: www.mpib-berlin.mpg.de/de/forschung/gg (13.5.2010).

  10. Vgl. z.B. Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Geschichte und Psychoanalyse, Köln 1971.

  11. Vgl. u.a. Jürgen Reulecke (Hrsg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003; zu einzelnen historischen Figuren etwa Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008; jüngst Peter Gathmann/Martina Paul, Narziss Goebbels. Eine Biographie, Wien 2009 oder Joachim Casta, Der Rote Baron. Die ganze Geschichte des Manfred von Richthofen, Stuttgart 2007.

  12. Vgl. Michael Wildt, Generational Experience and Genocide. A Biographical Approach to Nazi Perpetrators, in: Volker R. Berghahn/Simone Lässig (eds.), Biography between Structure and Agency. Central European Lives in International Historiography, New York 2008, S. 143-161.

  13. S. Lässig (Anm. 1), S. 551.

  14. Thomas Etzemüller, Die Form "Biographie" als Modus der Geschichtsschreibung. Überlegungen zum Thema Biographie und Nationalsozialismus, in: Michael Ruck/Karl Heinrich Pohl (Hrsg.), Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 71-90, hier S. 84ff.

  15. Hans Erich Bödeker, Biographie. Annäherungen an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand, in: ders. (Hrsg.), Biographie schreiben, Göttingen 2003, S. 9-63, hier S. 21.

  16. Ian Kershaw, Personality and Power. The individual's role in the history of twentieth-century Europe, in: The Historian, 83 (2004), S. 8-20, hier S. 8.

  17. H.-E. Bödeker (Anm. 15), S. 58.

  18. Vgl. Ian Kershaw, Biography and the Historian. Opportunities and Constraints, in: V. R. Berghahn/S. Lässig (Anm. 12), S. 27-39, hier v.a.S. 38.

  19. Vgl. dazu die Artikel von Christian Klein/Lukas Werner und Britt-Marie Schuster in: Ch. Klein (Anm. 1).

  20. Zuerst mit einer Biographie über Albert Einstein; vgl. Buchreport vom 25.3.2010, S. 11.

  21. Vgl. z.B.T. Bauer et al. (Anm. 7).

  22. Sabina Loriga, Le petit x. De la biographie à l'histoire, Paris 2010.

Dr. phil., geb. 1972; Zeithistoriker; Programmleiter des Siedler Verlags, Neumarkterstraße 28, 81673 München. E-Mail Link: tobias.winstel@siedler-verlag.de