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Arbeitsbeziehungen und gewerkschaftliche Organisation im Wandel

Klaus Tenfelde

/ 23 Minuten zu lesen

Im Vordergrund steht die Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen ge­werkschaftlichen Organisationen und Arbeitsbeziehungen. Die Gewerkschaften mussten sich den industriewirtschaftlichen Strukturveränderungen anpassen, um handlungsfähig zu bleiben.

Einleitung

Wo immer gearbeitet wird, entwickeln sich "Arbeitsbeziehungen" - zwischen den Arbeitenden und den Nicht-Arbeitenden, zwischen denjenigen, die Arbeit als selbständige Handwerksmeister oder Bauern auf eigene Rechnung vollziehen, schließlich und vor allem zwischen denjenigen, die in abhängiger Stellung Lohn für geleistete Arbeit erhalten. In einem engeren Verständnis werden darunter die Ordnungen und Herrschaftsverhältnisse verstanden, die sich zwischen den Akteuren in modernen Lohnarbeitsverhältnissen entfalten. Man spricht dann häufig von "industriellen Beziehungen", von betrieblicher oder Unternehmens-Sozialpolitik und schließlich gar von "Unternehmenskultur", was freilich die im Zeitablauf stark zunehmende Rolle des Staats als Ordnungsmacht auch in den Arbeitsbeziehungen vernachlässigt.

Die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen und der Wandel der Arbeit lässt sich auch am Beispiel der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handwerke und Zünfte untersuchen, aber der Begriff hat seine heutige Bedeutung erst mit der Industrialisierung gewonnen. Mit der Durchsetzung der großen Maschinerie in zentralisierten Gewerbebetrieben - in England seit der Mitte des 18., in Deutschland seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts - breitete sich gewerbliche Lohnarbeit in raschen Schritten aus. Sie überholte in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts die ländlich-agrarischen Arbeitsverhältnisse und dominiert seither. Damit einhergehend, konzentrierte sich einstweilen die Entwicklung auf die industrielle Lohnarbeiterschaft, die in der Mitte der 1920er Jahre etwa die Hälfte und in stark industrialisierten Regionen wie dem Ruhrgebiet mehr als zwei Drittel der gesamten Lohnarbeiterschaft ausmachte.

Erst in der Nachkriegszeit sind die Erwerbsverhältnisse im Dienstleistungsbereich immer stärker in den Vordergrund getreten. Das hat die Arbeitsbeziehungen, mit gewisser Verzögerung auch die Formen gewerkschaftlicher Organisation, stark beeinflusst und verändert. Dieser Übergang von der dominierenden Industriearbeit zur nunmehr dominierenden Lohn- bzw. Erwerbsarbeit in dem schwer auf den Begriff zu bringenden Sektor der Dienstleistungen bezeichnet die wichtigste Veränderung in den Arbeitsbeziehungen seit Durchsetzung der großen Industrie- und der mit ihr einhergehenden Arbeitsgesellschaft. Zeichnen sich damit bereits verschiedene Phasen ab, in deren Verlauf die Arbeitsverhältnisse und die gewerkschaftlichen Organisationen in unterschiedlichen Konstellationen aufeinander wirkten, so lohnt es sich besonders, die strukturellen Entwicklungen in den einzelnen Phasen auf den Begriff zu bringen. Nachfolgend soll dabei die Frage nach den Einwirkungen der gewerkschaftlichen Organisationen auf die Arbeitsbeziehungen im Vordergrund stehen. Man wird dabei nicht von einseitiger Einflussnahme, sondern vielmehr von Wechselbeziehungen auszugehen haben. Denn unter dem Eindruck industriewirtschaftlicher Strukturveränderungen hatten die Gewerkschaften ihrerseits durch teilweise tiefgreifende organisatorische Anpassungen und Richtungsänderungen zu reagieren, um handlungsfähig zu bleiben oder zu werden. Dabei waren die Handlungsfelder nicht nur durch die betrieblichen und allgemeinen gewerblichen Beziehungen abgesteckt, in welche die Gewerkschaften zu den Arbeitgebern traten. Vielmehr nahm der Staat im Zeitablauf eine zunehmend bedeutende Rolle in der Ordnung der Arbeitsbeziehungen wahr, weshalb die Einwirkung der gewerkschaftlichen Politik auf das staatliche Ordnungsverhalten durch Gewerbeinspektion, Arbeitsschutz, Sozialversicherung und schließlich Ordnung der industriellen Beziehungen immer wichtiger wurde. Einen gewissen Höhepunkt ihres Einflusses erreichten die Gewerkschaften in Westdeutschland während der Zeit der sozialliberalen Koalition in den Jahren 1969 bis 1982.

Entstehung der Gewerkschaften

Will man nicht die Gesellenbruderschaften des Mittelalters oder örtliche Kampfkoalitionen in verschiedenen Gewerben zum Ausgangspunkt erklären, dann beginnt die Geschichte der deutschen Gewerkschaften mit der Gründung von Verbänden der Zigarrenarbeiter und der Buchdrucker in der Revolutionszeit der Jahre 1848/49. In beiden Berufen war unter gänzlich verschiedenen Voraussetzungen der klare Wille erkennbar, zu einer überörtlichen Verbandsbildung zu kommen. Die frühesten Gewerkschaftsführer standen bereits in engen Beziehungen zur frühen politischen Arbeiterbewegung, die sich als "Arbeiterverbrüderung" formierte. Dabei hatten sich im Emanzipationskampf der noch gar nicht recht vorhandenen "Arbeiterklasse" die gewerkschafts- und allgemeinpolitischen Ziele der neuen sozialen Bewegung kaum erst voneinander differenziert. Bei den Zigarrenarbeitern waren es eher die räumlichen Bedingungen ihrer gut bezahlten Beschäftigung, die sie zur Verbandsbildung veranlassten. Die Buchdrucker führten bereits Lohnkämpfe vor dem Hintergrund einer durchgreifenden Rationalisierung des Gewerbes durch die Einführung der Schnellpresse.

Man erkennt hier bereits, dass die frühe Gewerkschaftsbewegung ganz überwiegend handwerklichen Ursprungs war - das sollte noch auf Jahrzehnte so bleiben. Von den rund 500.000 vorwiegend textilindustriellen Fabrikarbeitern dürfte kaum einer bereits von Gewerkschaften gehört haben. Protestiert und gestreikt wurde freilich bereits anderweitig, so unter den hungernden Hausgewerbetreibenden und bei den temporär an wandernden Baustellen beschäftigten Eisenbahnbauarbeitern. Die Streikbewegungen hielten auch während der 1850er Jahre an, als Gewerkschaftsgründungen durch die Obrigkeit überwacht und verhindert wurden.

Solche Behinderungen waren auch in der eigentlichen Gründungsphase der modernen Gewerkschaftsbewegung in den 1860er Jahren an der Tagesordnung. Die "Neue Ära" (eingeleitet durch den Thronwechsel in Preußen) schien freiheitliche Organisationsbildung zu ermöglichen. Wieder waren es handwerkliche Gewerbe, die in der überregionalen Selbstorganisation voranschritten und nunmehr eindeutig als Gewerkschaften charakterisierbare Verbände bildeten: Erneut standen seit dem Jahr 1865 die Zigarrenarbeiter voran; die Buchdrucker hatten zuvor schon zu regionalen Verbünden gefunden und gründeten nach einer großen Streikbewegung der Leipziger Buchdrucker im Jahr 1866 ihren Zentralverband; es folgten Ende des Jahres 1867 die Schneidergesellen. Dabei war die entscheidende Rechtsgrundlage gewerkschaftlicher Organisation, das Koalitionsrecht, noch gar nicht vorhanden. Es wurde zuerst im Königreich Sachsen und im Jahr 1869 mit der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes (sie galt ab dem Jahr 1871 im gesamten Deutschen Kaiserreich) eingeführt. Freilich gab es darin scharfe Restriktionen, zumal in der strafrechtlichen Behandlung des Koalitionszwangs, und die Bestimmungen des berüchtigten Paragrafen 153 der Gewerbeordnung ("Schutz der Arbeitswilligen") haben die Gewerkschaftsbewegung bis zum Ende des Kaiserreichs schwer beeinträchtigt.

Die langwierige Debatte um das Koalitionsrecht fand nicht zufällig im Jahr 1869 einen vorläufigen Höhepunkt in der Gesetzgebung. Sie sollte während des Kaiserreichs immer wieder aufflammen und spielt bis heute in der Rechtsprechung über Streiks eine gewisse Rolle. In den 1860er Jahren stimulierte sie Gewerkschaftsgründungen, und so kann man das Jahr 1868 als "Gewerkschaftsgründungsjahr" bezeichnen: Weitere Zentralverbände entstanden nun auf handwerklicher Grundlage, und die politischen Parteien konkurrierten um Einfluss auf die Organisationsbildung. Das galt sogar für den deutschen Liberalismus, dessen fortschrittliche Kräfte mit den Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereinen eine eigenständige Gewerkschaftsbewegung anregten. Diese wagten sich mit den Waldenburger Bergarbeitern bereits im Jahr 1869 in ein riskantes Streikunternehmen, unterlagen darin und führten fortan eher ein Schattendasein im Vergleich zu den großen Zentral- und Dachverbänden, die seit dem Jahr 1890 entstehen sollten. Immerhin, es gab die liberalen Gewerkvereine bis zum Jahr 1933.

Um ihren Einfluss auf die entstehende Gewerkschaftsbewegung stritten vielmehr die beiden Arbeiterparteien, die im Zuge der allgemeinen Liberalisierung des politischen Klimas in den 1860er Jahren entstanden waren: Ferdinand Lassalles Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein seit dem Jahr 1863 und die Eisenacher Sozialdemokratie mit ihren Führungsgestalten August Bebel und Wilhelm Liebknecht seit dem Jahr 1868. Erstere hatten zunächst unter dem Einfluss von Lassalle und dessen "Ehernem Lohngesetz" die gewerkschaftliche Organisation abgelehnt; sie bekehrten sich am Ende der 1860er Jahre nur zögernd zu richtigeren Einsichten. Letztere standen unter dem Einfluss der Londoner Exilanten, Karl Marx und Friedrich Engels, die an sich ebenfalls in der politischen Bewegung eher die Vorhut des Proletariats erkannten, aber die Gewerkschaftsbewegung für eine wichtige Form der Massenorganisation, für eine Schule der proletarischen Demokratie, hielten. Es entstanden die Internationalen Gewerksgenossenschaften, die sich ebenfalls in Zentralverbänden organisierten und rasch größeren Einfluss errangen.

Allerdings widerfuhr der frühen Gewerkschaftsbewegung zunächst einmal die Reichsgründung, die der Arbeitersache wegen nationalen Überschwangs wenig förderlich war, von Marx aber als Bedingung für die Möglichkeit umfassender proletarischer Organisation begrüßt wurde. Schlimmer noch, den Gewerkschaften widerfuhr seit dem Jahr 1874 eine erste schwere Krise des deutschen Kapitalismus, in deren Verlauf der preußisch-deutsche Obrigkeitsstaat alle allenfalls noch rechtsstaatlichen Drohkulissen und Unterdrückungsmechanismen gegen die Arbeiterbewegung aufbaute. Das gipfelte im Jahr 1878, nach den beiden Attentaten auf Kaiser Wilhelm I., im Sozialistengesetz und einem Totalverbot aller jener organisatorischen Bestrebungen, denen auch nur der Ruch des Sozialismus angeheftet werden konnte.

Mit der Entwicklung der Arbeitsbeziehungen, der betrieblichen Organisation von Arbeit und dem gewerkschaftlichen Einfluss hierauf, hatte dies alles zunächst weniger zu tun. Vielmehr wird deutlich, dass und wie sehr die politischen Rahmenbedingungen die Entstehungsgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung diktierten. Das betraf das politische System, den preußischen und deutschen Konstitutionalismus im Kaiserreich, ebenso wie die programmatisch-ideologischen Entwicklungen im Sozialismus.

Dieser hatte bis zum Sozialistengesetz eine Vielfalt von Strömungen aufgewiesen - nun aber begann unter den Bedingungen von Unterdrückung und Verfolgung die Rezeption des Marxismus, die im Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie aus dem Jahre 1891 gipfelte. Erst mit dem Auslaufen des Sozialistengesetzes im Jahr 1890 sollte gewerkschaftliche Organisation wieder möglich werden. Ein zentraler Dachverband war schon vor dem Jahr 1878, im Zusammenhang mit der Vereinigung der beiden Arbeiterparteien auf dem Gothaer Kongress 1875, angestrebt worden, aber diese Ansätze fielen den Verboten unter dem Sozialistengesetz anheim.

Autoritärer Korporatismus: Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland

Nach dem Jahr 1890 wuchs die deutsche Gewerkschaftsbewegung binnen zwei Jahrzehnten zu imponierender Stärke heran. Sie stand jetzt auf anderen strukturellen Grundlagen - in gewisser Weise hat das Sozialistengesetz die organisatorische Fortbildung erleichtert und beschleunigt, wie ja auch die schwerste Verbotszeit, diejenige während der nationalsozialistischen Diktatur, längst überfällige organisatorische Anpassungen möglich machte, sogar erzwang.

Am Ende des Sozialistengesetzes war allseits zu erkennen, wie sehr die Industrialisierung die deutsche Erwerbslandschaft bereits verändert hatte. Namentlich der neue Leitsektor der Industrialisierung, die Montanindustrie, zog seit der Jahrhundertmitte zu Hunderttausenden Arbeitskräfte an sich. Bergbau, Industrie und Handwerk überrundeten spätestens um das Jahr 1900 die ländliche Erwerbstätigkeit. Hinzu kam mit bereits rund einem Viertel der Erwerbstätigen der nunmehr stärker wachsende Bereich der öffentlichen und privaten Dienstleistungen. Letztere waren für die Gewerkschaften einstweilen nur in Ausnahmefällen erreichbar, aber in den industriellen Hauptberufen verankerte sich die gewerkschaftliche Organisation rasch und nachhaltig.

Ein Teil des Aufstiegs der Gewerkschaften war sicher dem repressiven Gestus des Obrigkeitsstaates geschuldet, denn die Nichtanerkennung der gewerkschaftlichen Organisationen und die Politik der behördlich-polizeilichen Nadelstiche gegen die Verbände zwangen die Arbeiterschaften auf die Seite ihrer Organisationen. Jener Staat schuf sich gewissermaßen diejenige, scharf oppositionelle Arbeiterbewegung, die er verdiente. Umgekehrt sah sich die Arbeitgeberseite durch das Staats- und Behördenverhalten ungemein begünstigt. Diese Machtverzerrung machte es möglich, dass in den Betrieben und Unternehmen patriarchalisch-autoritäre Herrschaftsansprüche durchgesetzt werden konnten.

Dies galt namentlich für die Montanindustrie. Im Bergbau, im Hüttenwesen und auch in Teilen der Chemie- und Metallindustrie ließ sich der zeitgenössisch vielfach apostrophierte "Herr-im-Hause-Standpunkt" exekutieren, wonach der Arbeiterseite so gut wie keine Mitspracherechte in betrieblichen Angelegenheiten eingeräumt und Verhandlungen mit den Gewerkschaften strikt abgelehnt wurden. Die Arbeitgeber selbst hatten sich in Interessenverbänden überwiegend seit den 1870er Jahren organisiert. Sie ergänzten das Geflecht ihrer Organisationen nach dem Fall des Sozialistengesetzes durch Arbeitgeberverbände, denen im umfassenden Sinn die Behandlung der "Arbeiterfrage" oblag. Das führte beispielsweise im Ruhrgebiet zur Gründung des sogenannten "Zechenverbands", mit dem versucht wurde, die Arbeitsmärkte unter Kontrolle zu bekommen. Ein gleichermaßen willfähriges Instrument wurde mit Hilfe von Fabrikvereinen geschmiedet, das waren wirtschaftsfriedliche Organisationen, die von Unternehmerseite finanziell gestützt wurden und Streiks ablehnten, aber in den betriebsbezogenen Werkseinrichtungen mitwirkten.

Der "Herr-im-Hause-Standpunkt" hatte sich seit vormärzlichen Zeiten herausgebildet und in einer Reihe wichtiger Großunternehmen auch zu teilweise vorbildlichen Sozialleistungen geführt. Das berühmteste Beispiel hierfür ist die Firma Fried. Krupp in Essen. Alfred Krupp richtete frühzeitig Fabrikkassen für die Krankenpflege ein, nahm mit der Einrichtung einer Konsumanstalt Einfluss auf die täglichen Bedürfnisse der Arbeiterschaft und erweiterte das Instrumentarium der betrieblichen Sozialpolitik schon in den 1860er Jahren um einen ausgedehnten Werkswohnungsbau. Der kaum verborgene Zweck lag in der Bindung einer Stammarbeiterschaft an die Werke. Aber der Gestus, in dem dies geschah, war der des Patriarchen, des Vaters der Werksfamilie Krupp, der in der Tat keine Anstrengungen scheute, um das Wohlergehen seiner Arbeiter zu fördern - freilich nur, wenn diese sich nicht sozialistischer Bestrebungen verdächtig machten.

Dieses Vorbild fand zahlreiche Nachahmer, etwa in der Chemie-Industrie, wenn Carl Duisberg seit den 1890er Jahren in Leverkusen die Belegschaft auf dem neuen Werksgelände im Nordosten Kölns nach diesem Vorbild formte und schulte. Solche betriebliche Sozialpolitik begriff sich als "Gnadenakt", als ein Bündel von Gunsterweisen, auf das kein Rechtsanspruch bestand und das deshalb jederzeit zurückgenommen oder reduziert werden konnte. Von Mitbestimmung der Arbeitnehmer, wie sie von den Gewerkschaften längst gefordert wurde, war dabei nicht die Rede. Arbeiter saßen durchaus in den Ausschüssen der Betriebskrankenkassen und betrieblichen Rentenversicherungen, aber sie gewannen kaum Einfluss auf diese Einrichtungen.

Das war sicher nicht überall der Fall. Mit der Reichsgewerbeordnung und der Bismarck'schen Sozialversicherungspolitik der 1880er Jahre hatte der Staat deutlich gemacht, dass auch die industriellen Arbeitsverhältnisse einer öffentlichen Ordnung bedurften, dass sich der Staat - entgegen den zunächst weit überwiegenden marktliberalen Auffassungen - sehr wohl in das Arbeitsverhältnis einzumischen habe. Er tat dies mit der Unfall-, der Kranken- und der Rentenversicherung, griff jedoch zunächst nur zögernd beim Arbeitsschutz durch, also auf dem Gebiet der Arbeitssicherheit zumal in stark gefährdeten Berufen. Vor allem dem Verlangen der Arbeiter nach Mitbestimmung in den Betrieben gab der Staat nur zögernd nach. Es bedurfte großer Streiks namentlich im Bergbau, um auf gesetzlichem Weg der Arbeiterseite ein solches Mitspracherecht einzuräumen. Im Bergbau gelang dies, allerdings bei stark eingeschränkten Mitspracherechten.

In anderen, durchaus zahlreichen, weniger großbetrieblichen Gewerben konnte dies bereits anders aussehen, und auch größere Betriebe wie die Carl Zeiss AG in Jena oder die Unternehmensgruppe von Robert Bosch in Stuttgart gingen andere Wege in der Mitbestimmungsfrage. Vielfach wirkten sich darin andere, philanthropische Überzeugungen jenseits eines machtbewussten unternehmerischen Patriarchalismus aus. Von noch größerer Bedeutung dürften indessen die Marktverhältnisse gewesen sein, unter denen etwa die Unternehmen der Konsumgüterindustrien zu produzieren hatten. Sie sahen sich teilweise sehr frühzeitig zu "Friedensschlüssen" (Tarifverträgen mit den Gewerkschaften) und damit zu deren rechtlicher Anerkennung als Vertragspartner veranlasst. Diese Entwicklung hin zu Tarifverträgen nahm bereits vor dem Jahr 1914 erstaunliche Ausmaße an. Dagegen beharrten die Unternehmer in Kohle und Stahl und auch in der chemischen Industrie auf ihren unverrückbaren Grundsätzen. Sie lehnten jede Art der Verständigung mit den Gewerkschaften ab.

Diese Haltung wurde ihnen nicht nur durch den repressiven Gestus des Obrigkeitsstaats, sondern auch durch die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung und durch ein wichtiges, bis heute wirksames Strukturproblem der gewerkschaftlichen Massenorganisation - das Verhältnis der betrieblichen zur verbandlichen Selbstbestimmung - erleichtert. Einstweilen schien kein Weg zur Einheitsgewerkschaft zu führen. Die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung hatte sich schon mit den Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereinen abgezeichnet. Sie prägte sich auf andere Weise nach der Reichsgründung aus, als Bismarck und das Reich gegen das katholische Deutschland den "Kulturkampf" einläuteten: Katholische Arbeiter begannen, sich zunächst in christlich-sozialen Arbeitervereinen zu organisieren, um ihre Wertorientierungen und Interessen auch in den Arbeitsverhältnissen durchzusetzen.

Als nach dem Fall des Sozialistengesetzes die freie Gewerkschaftsbewegung stark in das Fahrwasser der Sozialdemokratie geriet und sich deren Internationalismus ebenso wie der grundsätzlichen Systemkritik am konstitutionellen Staat und der Monarchie sowie in Teilen einer religionskritischen Haltung anschloss, gründeten die christlich-katholischen Arbeiter ihre eigenen Gewerkschaften. Das begann 1894 im Ruhrbergbau und breitete sich rasch auf andere wichtige Branchen aus. Man gab sich als Dachverband den Gesamtverband christlicher Gewerkschaften Deutschlands und erreichte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beachtliche Organisationsgrade. Dabei glichen sich die gewerkschaftspolitischen Ziele der freien und der christlichen Gewerkschaftsbewegung durchaus, aber die ideologischen Gräben verhinderten vielfach ein solidarisches Zusammengehen.

Das andere grundsätzliche Problem der gewerkschaftlichen Massenorganisation lag in der Frage begründet, welche Struktur eine möglichst schlagkräftige Organisation zur Formierung der Arbeiterinteressen gegen die Unternehmerseite überhaupt annehmen sollte. Es war keineswegs selbstverständlich gewesen, dass sich die Gewerkschaften schon vor dem Sozialistengesetz in berufsverbundenen Zentralverbänden gefunden hatten. Aber es entsprach wohl dem in Deutschland in jenem Jahrhundert der Vereine längst verbreiteten Gestus der repräsentativen Vereins- und Verbandsdemokratie, wonach die Mitglieder eines Verbandes ihre Vorstände und Delegierten für regionale und nationale Gremien wählen, die ihrerseits für befristete Zeiträume die Gesamtinteressen der für den nationalen Einzugsbereich zuständigen Verbandsorganisation vertreten.

In Großbritannien oder Frankreich gewann dagegen die Alternative der Verbandsorganisation - die Bündelung der Kräfte auf der Ebene des Unternehmens und Betriebs - viel größeren Einfluss. Wenn nun die gewerkschaftlichen Verbände Mitbestimmung durch betriebliche Arbeiterausschüsse und Mitspracherechte in den Unternehmen einforderten, so bildeten sie damit gewissermaßen ihre eigene Opposition heran: demokratisch legitimierte Betriebsversammlungen, die ihre jeweils eigenen Delegierten wählten und auf diese Weise auch in einen Gegensatz zur Verbandsdemokratie geraten konnten.

Solange Mitbestimmung in den Betrieben kaum eine Rolle spielte, störte dies die organisatorische Entwicklung wenig. Immerhin gelang die endgültige Durchsetzung des Verbandsprinzips der gewerkschaftlichen Organisation seit dem Jahr 1890 nur gegen die starke Opposition der sogenannten "Lokalisten", die eine gewerkschaftliche Organisation auf lokaler und betrieblicher Ebene für sehr viel wirksamer hielten und deren Bestrebungen seit dem Jahr 1910 zu einer auch in Deutschland dann in der Revolution 1918/19 gestärkten anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsbewegung führten. Diese Gewerkschafter hielten die "direkte Aktion" ohne Differenzierung nach gewerkschaftlichen und politischen Zielen im Kampf der Arbeiter um Emanzipation für Erfolg versprechender als die Verbandsdemokratie, die, so wurde behauptet, mit schwerfälligen Entscheidungsstrukturen, Bürokratisierung und gar der Korruption von Führungsgremien der Massenorganisationen einhergehe.

Das sich darin anbahnende Strukturproblem ist durch den Organisationserfolg der deutschen Gewerkschaften, auch in ihrer christlich-katholischen Richtung, vor dem Jahr 1914 in den Hintergrund gedrängt worden. Im Jahr 1890 hatten rund 300.000 Mitglieder die neuen, größeren Verbände der freien Gewerkschaften gegründet und sich mit der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands einen Dachverband gegeben. Diesem gehörten schon im Jahre 1906 mehr als 1,6 Millionen Mitglieder an - das waren fünfmal so viele Mitglieder, wie sie die Sozialdemokratie zählte.

Ohne Zweifel ist der Mitgliederzustrom (trotz der strukturellen Probleme der Organisationsbildung) durch neue organisatorische Grundsätze beflügelt worden. Denn die Erfahrungen des Sozialistengesetzes hatten dazu verholfen, alte, eher handwerkliche Traditionen einer strikt nach Berufen gegliederten Arbeitswelt zu beseitigen. Die alten Zöpfe zunftartiger Berufsverbundenheit sollten zwar noch lange nachwirken, aber die Vorteile einer berufsübergreifenden Organisation nach Branchen spiegelten sich rasch in den organisatorischen Erfolgen der neuen Industrieverbände. Diese Verbände erwiesen sich als der modernen Organisation der kapitalistischen Industriewirtschaft sehr viel angemessener. Auch der im Jahr 1890 entstandene Fabrikarbeiterverband, der später zur Gewerkschaft der Chemiearbeiter und verwandter Berufe wurde, und der Verband der Bergarbeiter Deutschlands waren eher Industrieverbände.

Es liegt auf der Hand, dass sich gerade gegen solche Großverbände eher "basisdemokratische" Bestrebungen richten konnten. Andererseits ermöglichten erst die Zentral-, Industrie- und Dachverbandsorganisationen den Gewerkschaften, eine einheitliche Stimme auch in den parlamentarischen Gremien, in der Öffentlichkeit und gegenüber den Regierungen zu Gehör zu bringen. Erst auf diese Weise konnte allgemeines "Kampfwissen" wie statistische Daten gesammelt und wirksam verwendet werden oder ließen sich wichtige Aufgaben wie die Frauenagitation angehen.

Aufstieg, Niedergang und Zerstörung des Korporatismus

Die kriegswirtschaftlichen Bedingungen seit August 1914 lenkten den autoritären Korporatismus des späten Deutschen Kaiserreichs zunächst in die Richtung eines staatsgelenkten Korporatismus, der mit der Revolution 1918/19 umschlug in den - während der Nachkriegs- und Revolutionsjahre sowie vor allem in der Inflationszeit und der Stabilisierungskrise 1923/24 scheiternden - Versuch eines gleichberechtigten, korporativ organisierten Miteinanders von Arbeitgebern und Gewerkschaften.

Zunächst verzichteten die Gewerkschaften mit Kriegsausbruch im sogenannten "Burgfrieden" auf ihr schärfstes Instrument, die Streikwaffe. Sie gelobten Stillhalten während der Kriegsjahre und versprachen sich davon die ersehnte staatliche Anerkennung, die seit Ende des Jahres 1916 in verklausulierter Form auch vollzogen wurde. Der Verzicht auf Streiks verwies die Gewerkschaften jedoch auf den Staat als Ansprechpartner und Adressaten gewerkschaftlicher Forderungen, wobei namentlich die Militärbehörden eine zunehmende Rolle spielten. Doch der Kriegsausbruch schwächte die Gewerkschaften enorm. Zahlreiche Einberufungen und die Umstrukturierungen der Erwerbstätigkeit hin zu rüstungswirtschaftlichen Schwerpunkten ließen den Mitgliederbestand wegbrechen.

Erholung trat erst mit dem Jahr 1917 ein, als sich wachsende Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung bemächtigte und Protestbewegungen gegen unzulängliche Versorgung, rasch wachsende Lebensmittelpreise und damit nicht Schritt haltende Löhne um sich griffen und mit Friedensforderungen vermengten. In gewisser Weise schlug die Stunde der Gewerkschaften, als der Staat im Herbst 1916 Übereinstimmung mit der Wirtschaft dahingehend herstellte, dass die rüstungswirtschaftlichen Anstrengungen erheblich verstärkt werden mussten. So wurde das sogenannte "Hilfsdienstgesetz" vom Dezember 1916 zum sozialpolitischen Korrelat des rüstungswirtschaftlichen Hindenburg-Programms. Mit diesem Gesetz ging es darum, die Mobilität der Arbeitskräfte einzuschränken und zugleich durch Einrichtung von Arbeiterausschüssen in größeren Betrieben und Formen der betrieblichen Mitbestimmung rechtlich zu verankern. Das wies voraus auf die Nachkriegszeit und ließ erstmals die Gewerkschaften als politisch handlungsfähige Großorganisationen in Erscheinung treten.

Die revolutionären Ereignisse veränderten die Kräftekonstellation auf den Arbeitsmärkten grundlegend, wenn auch letztlich nur vorübergehend. Als sich spätestens im Sommer 1918 die deutsche Niederlage abzeichnete, besannen sich sogar die Arbeitgeber der Schwerindustrie auf Zugeständnisse, die sie im Falle eines deutschen Sieges sicher nicht so bald eingeräumt hätten. Mit den Ereignissen der Novemberrevolution schien (vor dem Hintergrund der russischen Revolutionen des Jahres 1917) Sozialisierung und Enteignung zu drohen. Am 16. November 1918 wurde das sogenannte Stinnes-Legien-Abkommen geschlossen, mit dem die industriellen Arbeitsbeziehungen zunächst gewissermaßen pazifiziert wurden. Die Arbeitgeberseite erkannte die Gewerkschaften nun auch in den Großindustrien als bevollmächtigte Verhandlungsführer der Arbeiterschaften an, konzedierte die Einrichtung von Arbeitsgemeinschaften mit dem Ziel regelmäßiger Tarifverhandlungen und einigte sich auf wesentliche sozialpolitische Zugeständnisse, darunter den achtstündigen Arbeitstag.

Das Abkommen hätte, zusammen mit den Verordnungen des Rates der Volksbeauftragten, für die Weimarer Republik langfristig stilbildend wirken können. Aber maßgebliche Kräfte im Arbeitgeberlager rückten davon ab, sobald ihnen dies die politischen Verhältnisse zu erlauben und die konjunkturelle Entwicklung nahe zu legen schien. Hingegen gerieten die Gewerkschaften immer stärker unter den Druck sowohl innerverbandlicher oppositioneller Kräfte als auch einer außerverbandlichen, vielfach syndikalistisch durchsetzten Massenbewegung, die den Ertrag der Revolution für die Arbeiterseite als viel zu gering interpretierte sowie eine schnelle Sozialisierung und grundsätzliche Neuordnung der politischen Verhältnisse mittels der Rätebewegung verlangte.

Zeitgleich formierten sich die linken und rechten Kräfte der noch gar nicht etablierten Weimarer Demokratie während der nachrevolutionären Wirren. Die Gewerkschaften erstarkten zwar durch einen zunächst gewaltigen Mitgliederzustrom und gaben sich mit Gründung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) im freigewerkschaftlichen Lager einen neuen Dachverband und Bundesvorstand. Auch die christliche Gewerkschaftsbewegung reorganisierte sich und formte als Dachverband den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Die wirtschaftliche Entwicklung und die sich beschleunigende Inflation versetzten die Gewerkschaften allerdings in die Defensive.

Die sozialen Auseinandersetzungen konzentrierten sich nun auf die Brandherde der Republik: Berlin und Mitteldeutschland, Sachsen und Hamburg, vor allem das Ruhrgebiet. In den schwerindustriellen Zentren des Reichs gelang es den Gewerkschaften nicht oder nur unvollkommen, die Auseinandersetzungen zwischen den politisch radikalisierten Lagern in das Gebiet des tarifpolitischen Ausgleichs zu lenken. Einen Höhepunkt erreichten diese Kämpfe mit dem zunächst erfolgreichen Widerstand der deutschen Gewerkschaftsbewegung gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch vom 13. März 1920. Damit gelang den Gewerkschaften zunächst ein wichtiger politischer Erfolg, denn der Generalstreik verhalf der gewählten Reichsregierung binnen weniger Tage zur Sicherung ihrer verfassungspolitischen Funktionen.

Indessen entfaltete sich im Ruhrgebiet im Anschluss an den Putsch der aufsehenerregende Kampf der Roten Ruhrarmee gegen eine aus Berlin dirigierte Kräfteallianz von Reichswehr und reaktionären Freikorps-Truppen. Tausende Menschen ließen in diesen Kämpfen ihr Leben. Die Gewaltförmigkeit politischer Auseinandersetzungen hatte vom Weltkrieg ihren Ausgang genommen und begleitete die politischen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik mit einem Höhepunkt während der Weltwirtschaftskrise.

Trotz der vielfach gewaltförmigen Kämpfe in der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik bis zum Jahr 1924 und der Untergangsphase von 1930 bis zur nationalsozialistischen Machtanmaßung im Jahr 1933 gelangen der ersten deutschen Demokratie sehr beachtliche sozialpolitische Ordnungserfolge. Dazu rechnete bereits das Betriebsrätegesetz zum Jahresbeginn 1920, das von erbitterten Kämpfen innerhalb und außerhalb des Reichstags zu Berlin begleitet wurde. Außerdem sind die Ergänzung der staatlichen Sozialpolitik durch die Arbeitslosenversicherung, das Arbeitsgerichtsgesetz und zahlreiche weitere Maßnahmen des Gesetzgebers zu nennen. Die Betriebsräte wurden, getrennt nach Arbeiter- und Angestelltenräten, dauerhaft in mittleren und größeren Betrieben installiert, und das Betriebsrätegesetz ist bald darauf durch allerdings noch begrenzte Maßnahmen zur Vertretung von Arbeitern in den Aufsichtsräten der großen Unternehmen ergänzt worden.

Das Reformwerk steuerte also einen Kompromiss zwischen den konkurrierenden Grundlinien der "Arbeiterdemokratie" an: Es legalisierte die Belegschafts- und Betriebsdemokratie, was übrigens durchaus im "wohlverstandenen" Interesse der Arbeitgeber hätte liegen können, und es bahnte den Gewerkschaften Einflusswege in die Betriebsräte hinein, verhalf also der Verbändedemokratie und deren Anspruch auf Wahrung der Tarifhoheit Geltung. Damit nahm die betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung einen dann erst in der zweiten Nachkriegszeit weiter beschrittenen Weg.

Das funktionierte anfänglich besser, weil den Arbeitgebern die Revolution "in den Knochen steckte", es funktionierte auch einigermaßen in der konjunkturellen Gunstlage zwischen den Jahren 1926 bis 1929, es funktionierte kaum noch während der Weltwirtschaftskrise. Insbesondere gelang es den Arbeitgebern spätestens seit dem Jahr 1923, gewisse "Errungenschaften" der Revolution zurückzudrängen, etwa die Arbeitsgemeinschaftspolitik auszuhöhlen oder Tarifdiktate durchzusetzen, die zu Streiks und Aussperrungen führten und staatliche Zwangsschlichtung erforderlich zu machen schienen.

Die Nationalsozialisten setzten ab dem 2. Mai 1933, dem Tag der Erstürmung der Gewerkschaftshäuser, ihre Auffassung von der Gestaltung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern mit unerbittlicher Härte ins Werk. Sie leugneten den grundlegenden industriegesellschaftlichen Interessenkonflikt und beendeten mit dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (1934) jegliche tarifvertragliche Verhandlungsfreiheit. An die Stelle der Gewerkschaften trat die Deutsche Arbeitsfront. Führende Gewerkschafter wurden verfolgt und ins Exil getrieben, manche wurden ermordet. Statt Konsensbildung in entscheidungsfähigen Gremien herrschte das Führerprinzip, statt Betriebsräten gab es machtlose "Vertrauensräte", und Belegschaften wurden zu "Gefolgschaften", um unter der schimärischen Vision der "Volksgemeinschaft" den Klassenkampf zu überwinden.

Schritt für Schritt wurde das Arbeitsverhältnis zum Zwangsverhältnis, gipfelnd in dem Heer von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, das seit Kriegsbeginn in die Betriebe gezwungen wurde. Der autoritäre Korporatismus der Kaiserzeit, der in den Köpfen der Arbeitgeber verständlicher Weise als vorbildlich galt und manche rückwärts gewandte Sehnsucht nach "goldenen Zeiten" wach hielt, missriet vollends in den Schrecken der Diktatur.

Entwicklung des demokratischen Korporatismus in der Bundesrepublik

Es ist viel darüber gestritten worden, ob mit dem Begriff des Korporatismus das Zusammenwirken der politischen und gesellschaftlichen Kräfte zur kontrollierten Befriedung von Konflikten und der Wandel in den jeweils bestimmenden Kräftekonstellationen angemessen beschrieben und analysiert werden kann. Unverkennbar war jedoch die Arbeitsverfassung des deutschen 20. Jahrhunderts durch einen langen und opfervollen, durch politische Systemwechsel zugleich unterbrochenen und fortgeleiteten Weg zu einer moderneren Konsenskultur markiert. Immer handelte es sich im Kern um die Kräftekonstellation zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und um die darin tunlichst wahrzunehmende Rolle des Staats, so dass gelegentlich auch vom "Tripartismus" gesprochen worden ist. Ob man nun von einem "demokratischen" oder "freiheitlichen" Korporatismus spricht, es bleibt doch unbezweifelt, dass Arbeitgeber, Gewerkschaften und Betriebsräte seit dem Jahr 1945 auf veränderten Grundlagen und in enger Symbiose mit dem Ausbau des Arbeitsrechts und des Sozialstaats dauerhafte Strukturen eines transparenten betrieblichen und überbetrieblichen Interessenausgleichs zu etablieren vermochten.

Schon während der Wirren des Zusammenbruchs etablierten sich (ganz im Westen Deutschlands schon Ende des Jahres 1944) erneut freiheitliche Zusammenschlüsse auf der Ebene der Betriebe, oftmals einhergehend mit dem zunächst lokal begrenzten Wiederaufbau von gewerkschaftlichen Organisationen. Es wurde zunächst auf die Weimarer Erfahrungen und die Rechtsformen des Betriebsrätegesetzes aus dem Jahr 1920 zurückgegriffen. Wohl um einer Sonderentwicklung in der Sowjetzone zuvorzukommen, gestatteten die Alliierten im April 1946 die Errichtung von Betriebsräten unter gewissen Abweichungen von der älteren Rechtslage. Seit dem Jahr 1947 galt außerdem in den Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie die paritätische Mitbestimmung, bei der die Hälfte der Aufsichtsräte eines Unternehmens und der Arbeitsdirektor als Vorstandsmitglied durch die Arbeiter bestellt wurden.

Nach Gründung der beiden deutschen Staaten konnten die Gewerkschaften in einer denkwürdigen politischen Konstellation diese weitreichende Form der Mitbestimmung mit dem Gesetz über die Montanmitbestimmung auch auf den Bergbau ausdehnen, während sie im Kampf um das Betriebsverfassungsgesetz aus dem Jahr 1952 eine Niederlage erlitten. Dagegen sind die Betriebsräte in der DDR sehr bald von Betriebsgewerkschaftsleitungen verdrängt worden, mit denen die zentralistischen Gewerkschaftsorganisationen des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) als verlängerter Arm der Sozialistischen Einheitspartei in den Betrieben und Unternehmen entscheidenden Einfluss nahmen.

Die neue Rechtslage in der Bundesrepublik, in der das Betriebsrätegesetz aus dem Jahr 1920 fortlebte, hatte in mancherlei Hinsicht Rückschritte bei den den Betriebsräten zustehenden Mitwirkungsmöglichkeiten gebracht, jedenfalls gegenüber den mancherorts in den Bundesländern bereits durchgesetzten Regelungen. Die Gewerkschaften beklagten vor allem ihre sehr begrenzten Einwirkungsmöglichkeiten nach dem neuen, nicht zuletzt aus der katholischen Soziallehre inspirierten Gesetz. Man befürchtete Einflussverlust durch Betriebsegoismus und baute deshalb ein früher schon in manchen Branchen etabliertes System von gewerkschaftlichen Vertrauensleuten in den Betrieben aus. Die Möglichkeit eines eventuell eskalierenden Dualismus der Interessenvertretung zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften (Betriebs- und Verbändedemokratie) bestimmte mithin die Strategie - ein alter Kernkonflikt der Gewerkschaftsorganisation.

Damit einher ging die Wahrnehmung, dass der Ausbau der gewerkschaftlichen Organisationsmacht in den 1960er Jahren zeitweise stockte. Das Düsseldorfer Grundsatzprogramm der Gewerkschaften (1963) rückte indessen die betriebliche Mitbestimmung und deren Ausbau in den Vordergrund - ein neues Betriebsverfassungsgesetz sollte erarbeitet werden. Die Arbeit der Betriebsräte war für die Gewerkschaften immer wichtiger geworden. Der demokratische Korporatismus funktionierte, auch im Reformschwung der späten 1960er und der 1970er Jahre, als etwa die Septemberstreiks des Jahres 1969 die Möglichkeit des Auflebens schwer kontrollierbarer Protestbewegungen gezeigt hatten. Das neue, im Jahr 1972 verabschiedete Betriebsverfassungsgesetz stärkte auch quantitativ die betriebliche Repräsentanz der Arbeitnehmer und erweiterte ihre Mitsprache- und Vetorechte in sozialen Angelegenheiten und bei Personalentscheidungen; es räumte vor allem den Gewerkschaften ein Zugangsrecht zu den Betrieben ein, was eine ihrer wichtigsten Forderungen gewesen war.

Während nach dem Jahr 1972 bei der überbetrieblichen Mitbestimmung noch ein Kompromiss erzielt werden konnte, blieb es in den Betrieben fast 30 Jahre lang bei der damit geschaffenen Rechtslage. Mit einer Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes wurde im Jahr 2001 auf veränderte Rahmenbedingungen reagiert. Das betraf die Rechte und Pflichten der Betriebsräte nur wenig - andere Entwicklungen schienen die Grundlagen der deutschen betrieblich-gewerkschaftlichen Kompromisskultur viel nachhaltiger zu erschüttern.

Drei neue große Herausforderungen zeichneten sich ab: die arbeitsmarktpolitische Schwächung der Arbeitnehmermacht durch Deregulierung und hohe Arbeitslosigkeit im Zuge fortschreitender Globalisierung, die deutsch-deutsche Vereinigung und die damit beschleunigte, seit langem schon erforderliche Neujustierung der gewerkschaftlichen Verbändestruktur und die Europäisierung der wirtschaftspolitischen Entscheidungsfelder, mit der auch neue, die deutsche Mitbestimmungskultur beeinflussende Rechtsformen geschaffen werden.

In manchen Wirtschafts- und Dienstleistungsbereichen widerfuhren der Tarifhoheit der Gewerkschaften empfindliche Einbußen. Die strukturelle Arbeitslosigkeit und die politischen Maßnahmen zur Flexibilisierung der Arbeitsmärkte haben wegen des Rückgangs der Mitgliederzahlen die Organisationsmacht der Verbände empfindlich geschwächt. Das scheint, bisher jedenfalls, das Niveau des betrieblich organisierten Interessenausgleichs, den demokratischen Korporatismus, weniger zu beeinträchtigen. Eher schon sind im europäischen Rahmen in Zukunft nachhaltige Maßnahmen mindestens gegen einen weiteren Ausbau, wenn nicht gegen den Bestand der überbetrieblichen Mitbestimmung zu gewärtigen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Walther Müller-Jentsch (Hrsg.), Konfliktpartnerschaft. Akteure und Institutionen der industriellen Beziehungen, München-Mering 19993; Gerald D. Feldman/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter, Unternehmer und Staat im Bergbau. Industrielle Beziehungen im Vergleich, München 1989.

  2. Vgl. Ulrich Borsdorf/Gabriele Weiden (Hrsg.), Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945, Köln 1987; Klaus Schönhoven, Die deutschen Gewerkschaften, Frankfurt/M. 1987.

  3. Vgl. Willy Albrecht, Fachverein - Berufsgewerkschaft - Zentralverband. Organisationsprobleme der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1870-1890, Bonn 1982; Klaus Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, Bonn 19812; Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Vormärz und Sozialistengesetz, Bonn 2000.

  4. Vgl. Klaus Schönhoven, Expansion und Konzentration. Studien zur Entwicklung der Freien Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland 1890 bis 1914, Stuttgart 1980.

  5. Vgl. Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1870-1914, Bonn 1992. Über die passendere Beschreibung und Analyse der Varianten von Arbeitsbeziehungen in der Zeit des späten Kaiserreichs hat die Forschung anhand des Begriffs "Paternalismus" bzw. "Patriarchalismus" gestritten, vgl. Karl Lauschke/Thomas Welskopp (Hrsg.), Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen und Machtstrukturen in industriellen Großbetrieben des 20. Jahrhunderts, Essen 1994; Thomas Welskopp, Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeits- und industrielle Beziehungen in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er Jahren, Bonn 1994.

  6. Vgl. Klaus Mattheier, Die Gelben. Nationale Arbeiter zwischen Wirtschaftsfrieden und Streik, Düsseldorf 1973.

  7. Vgl. Michael Schneider, Die Christlichen Gewerkschaften 1894-1933, Bonn 1982; Hans-Georg Fleck, Sozialliberalismus und Gewerkschaftsbewegung. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine 1868-1914, Köln 1994.

  8. Vgl. Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte in der deutschen Gewerkschaftsbewegung vor 1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Lokalismus, des Syndikalismus und der entstehenden Rätebewegung, Berlin 1984.

  9. Vgl. Hans-Joachim Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914-1920, 2 Bde., Hamburg 1981; Klaus Schönhoven (Bearb.), Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914-1919, Köln 1985. Die Quellenserie enthält zentrale Dokumente der Spitzengremien der Gewerkschaften. Sie ist mit bisher 14 Bänden bis in die Zeit der Bundesrepublik fortgesetzt worden und wird zur Zeit von Klaus Schönhoven herausgegeben.

  10. Vgl. Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft 1914-1918, Berlin 1985; ders./Irmgard Steinisch, Industrie und Gewerkschaften 1918-1924. Die überforderte Zentralarbeitsgemeinschaft, Stuttgart 1985.

  11. Vgl. Karl Christian Führer, Carl Legien 1861-1920. Ein Gewerkschafter im Kampf um ein "möglichst gutes Leben" für alle Arbeiter, Essen 2009.

  12. Für eine neue Deutung des Betriebsrätegesetzes vgl. Werner Milert/Rudolf Tschirbs, Die andere Demokratie. Betriebliche Interessenvertretung in Deutschland 1848-2008, i.E.

  13. Vgl. Johannes Bähr, Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik. Tarifpolitik, Korporatismus und industrieller Konflikt zwischen Inflation und Deflation, Berlin 1989.

  14. Vgl. Werner Abelshauser, Der Rheinische Kapitalismus im Kampf der Wirtschaftskulturen, in: Volker Berghahn/Sigurt Vitols (Hrsg.), Gibt es einen deutschen Kapitalismus? Tradition und globale Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft, Frankfurt/M. 2006, S, 186-199.

  15. Vgl. Karl Lauschke, Die halbe Macht. Mitbestimmung in der Eisen- und Stahlindustrie 1945 bis 1989, Essen 2007.

  16. Vgl. Helke Stadtland, Herrschaft nach Plan und Macht der Gewohnheit. Sozialgeschichte der Gewerkschaften in der SBZ/DDR 1945-1953, Essen 2001.

Prof. Dr. phil., geb. 1944; Direktor des Instituts für soziale Bewegungen, Clemensstraße 17-19, 44789 Bochum. E-Mail Link: klaus.tenfelde@ruhr-uni-bochum.de