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Mao Tse-tung und seine Erben Probleme der Nachfolgeschaft in Peking | APuZ 19/1961 | bpb.de

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APuZ 19/1961 Mao Tse-tung und seine Erben Probleme der Nachfolgeschaft in Peking Deutschlands weltpolitische Sonderstellung in den zwanziger Jahren

Mao Tse-tung und seine Erben Probleme der Nachfolgeschaft in Peking

HANS-JÜRGEN EITNER

Mehr noch als das politische Geschehen im Kreml bleiben die Vorgänge in der Chung-kuo Kung-chang-tang, der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), dem westlichen Beobachter verborgen. Auf dem im Oktober 1960 in Tokio abgehaltenen Dritten Internationalen Sowjetologenkongreß hieß es dazu, man wolle „die Bewegungen schwarzer Katzen in einem verdunkelten Raum studieren". In dieser Untersuchung sollen einige Aspekte der Nachfolgeschaft Mao Tse-tungs analysiert werden. Eine Feststellung vorweg: Keiner von Maos engsten Mitarbeitern kommt den Führerqualitäten, der Autorität und dem Prestige des ins 68. Lebensjahr eingetretenen roten Kaisers auch nur annähernd nahe. Das hätte der stets eifersüchtig um seine seit dem 13. Januar 1935 (Parteikonferenz vonTsun-yi Provinz Kweichow) stabilisierte Alleinherrschaft besorgte „Chu-hsi“ (Vorsitzende) Mao natürlich auch niemals gefördert. Alle in Frage kommenden Männer um Mao, die als Erben gelten dürfen, sind zweifellos fähige Köpfe, aber von keinem könnte Mao behaupten, dieser oder jener Prätendent sei der vorgesehene Nachfolger.

Andererseits möchte Mao zweifellos die nach Stalins Tod ausgebrochenen Krisen und Machtkämpfe der Diadochen im Pekinger Chung-yan yang wei-yüan-hui, dem Zentralkomitee (ZK) der KPCh, vermieden sehen. In Artikel 37 der neuen, auf dem VIII. Parteikongreß der KPCh vom 15. bis 27. September 1956 verabschiedeten Parteiverfassung wurde die Wahl eines „Ehrenvorsitzenden" vorgesehen. Das einleuchtendste Motiv für diesen im kommunistischen Rituell ungewöhnlichen Schritt ist, daß der „große Buddha“ Mao diesen Posten für sich selbst geschaffen hat: vielleicht möchte er auf diese Weise aus olympischer Höhe den Machtübergang in der Hand behalten. Der Schachzug mit dem neugeschaffenen Posten des Partei-Ehrenvorsitzenden deutet auf ein freiwilliges, „staatsmännisches“ Rückzugsmanöver Maos zugunsten des Partei-Kronprinzen Liu Shao-chi hin (Liu hatte die Ehre, den Pekinger Diktator auf der Moskauer „Gipfelkonferenz“ im November 1960 zu vertreten). Ebenso könnte aber einmal der alternde Mao, ohne für die Massen die Gloriole des Abgottes zu verlieren, auf dieses „Ehrenamt“ abgeschoben werden. Der an sich Ende dieses Jahres fällige IX. Parteikongreß der KPCh bringt vielleicht hierüber mehr Klarheit.

Struktur der Führungsgruppe

Den Apex der Parteipyramide bildet der erst auf dem VIII. Parteikongreß geschaffene „Ständige Ausschuß des Politbüros“. Dieses Spitzen-direktorium der Partei legt die „Generallinie“ (Tsung-ti lu-hsien) fest; seine Beschlüsse werden jenen des vollen Politbüros gleichgesetzt. Seit dem fünften ZK-PIenum des VIII. Parteikongresses vom 25. Mai 1958 gehören ihm unter dem Vorsitz Maos folgende sechs Männer an (Reihenfolge = Rangfolge): Liu Shao-chi, Chou En-lai, Chu Teh, Chen Yün, Lin Piao und Teng Hsiao-ping. Diese sechs Spitzenfunktionäre können als potentielle Mao-Erben gelten; die fünf erstgenannten Führer haben als stellvertretende Parteivorsitzende eine Sonderstellung inne. Grundsatzbeschlüsse werden meist nach Konsultation — angeblich auf Grund von Mehrheitsentscheiden — mit dem unregelmäßig zusam-mentretenden vollen Politbüro getroffen. Dem Politbüro nachgeordnet ist das ZK-Sekretariat, das höchste administrative Parteiorgan zur Koordinierung und Überwachung der Parteiarbeit. In Sonderfällen beruft das Politbüro gelegentlich auch das aus 97 Vollmitgliedern und 96 Alternativmitgliedern (Kandidaten) bestehende ZK-Plenum ein; es sollte satzungsgemäß zweimal im Jahr zusammentreten, von 1945 bis 1956 fanden jedoch nur sieben Plenarsitzungen statt. Der aus rund tausend Delegierten der (Ende 1958) rund 14 Millionen Parteimitglieder-gebildete Parteikongreß ist nominell das „höchste Führungsgremium“ der Partei, hat aber nur die jeweils beschlossene Generallinie zu bestätigen und wurde seit 1945 erst 1956 wieder zusammengerufen.

Atter, regionale und soziale Herkunft

Die persönliche Verbundenheit der obersten Führer geht auf den Beginn der dreißiger Jahre zurück, als Mao mit der Schaffung des „Gegen-ZK" in seiner eigenmächtig gegründeten „Sowjetrepublik Kiangsi“ allmählich in die Führung der KPCh aufrückte. Sie sind durch Bande der Treue, des Egoismus oder des Opportunismus Mao verpflichtet, dessen „Charisma“ sie sich offenbar unterwarfen. Von den „Großen Sieben" traten die vier ranghöchsten Führer bereits 1921/1923 der gerade in der französischen Konzession Schanghais gegründeten KPCh bei, die übrigen 1924/25. Von den ZK-Vollmitglie-dem sind 71 Prozent vor 1927 Parteimitglieder geworden. Die sieben Spitzenfunktionäre sind im Durchschnitt 62 Jahre alt (nach chinesischem Standard gilt ein Mann über 50 als „alt“; diese „Pensionsreife" gilt indessen nicht für Politiker). Im ZK stehen 55 Prozent der Vollmitglieder zwischen 50 und 60 Jahren. Maos Männer haben also mindestens dreißig, wenn nicht vierzig Jahre ihres Lebens subversiven Aktivitäten, der kommunistischen Revolution und dem Bürgerkrieg gewidmet, ehe sie 1949 die Macht übernehmen konnten.

Auffallend, aber im Vergleich mit früheren revolutionären Bewegungen der chinesischen Geschichte nicht ungewöhnlich, ist die landsmannschaftliche Verbundenheit der Führer. Die Politbüro-Vollmitglieder stammen mehrheitlich aus dem inneren Zentralchina und nicht aus der verwestlichten Küstenregion: allein sieben kommen aus der Provinz Hunan, der „Wiege der Revolutionäre“, vier aus der Provinz Szetchuan. Von den 97 ZK-Vollmitgliedern kommen 30 aus Hunan und 12 aus Szetchuan. Mao dürfte sich in den Kampfjahren, als er seine „Partei der Berufsrevolutionäre" schmiedete, auch diese landsmannschaftlichen Bindungen zunutze gemacht haben. Über die soziale Herkunft der obersten Führer liegen bemerkenswerterweise nur spärliche Informationen vor. Der Grund dafür wird klar, wenn man die nach ihrer „Klassenzugehörigkeit“ identifizierbaren zehn Politbüro-Vollmitglieder betrachtet: je zwei stammen von Großbauern, Mittelbauern und Lehrern ab — je einer hatte einen Unternehmer, Aristokraten und Arbeiter zum Vater ...

Mythen und Säuberungen

Im Westen ist nur recht wenig über Maos engste Mitkämpfer bekannt geworden. Jahrzehntelang wurden ihre Lebensläufe durch schwer verifizierbare, gesteuerte Mythen ersetzt. Lebensweg und Privatleben der sechs Männer um Maos Thron sind selbst in China nur wenig bekannt. Alle Nebengötter des Parteigottes sind das Produkt abgelegener Landstriche, ihrer konspirativen Mentalität, einer einzigartigen Kampferziehung bis zum politischen Mord (wie ihn die Internationale Polizei Schanghais 1930 etwa Chou En-lai nachsagte) und des unerbittlichen, zwanzigjährigen Bürgerkrieges gegen die regierende Kuo-min-tang Chiang Kai-sheks. Jene Altkommunisten, die schon langjährig dem Politbüro der KPCh angehörten, als Mao seit Gründung der Hunan-KP am 10. Oktober 1921 nur ein über die Achsel angesehener regionaler bäuerlicher Partisanenführer war — er wurde im September 1927 sogar aus dem Politbüro entfernt —, sind spätestens 1935 zu ihm übergegangen. Die heute vom Kandidaten des ZK-Sekretariats Hu Chiao-mu offerierte Parteigeschichte schweigt sich über manche Phasen des Aufstiegs Maos zum unangefochtenen Führer während der zwanziger Jahre aus. Wuchs ihm die Autorität „natürlich" zu, auf Grund seiner »charismatischen" Persönlichkeit? Wohl kaum.

Aus verstreuten Hinweisen in Verbindung mit gewissen, nicht in die Parteigeschichte übernommenen Worten Maos ist zu rekonstruieren, daß zwischen Februar 1929 und Dezember 1930 erbitterte Machtkämpfe um Mao im Kiangsi-Sowjet tobten. Das 20. Armeekorps meuterte offen gegen Mao, der hierüber sagte: „Vom Ausgang dieses Kampfes hing das Schicksal der Revolution ab.“ Diese heute nur selten als „Futien-Zwi-schenfall" erwähnte Spaltung vermochte Mao nur mit einer mörderischen Liquidierungswelle für sich zu entscheiden. Nach 1935 erwies sich nur eines der zwölf Gründungsmitglieder der KPCh von 1921, der fähige Organisator Chang Kuo-tao, als Maos gefährlichster, weil einflußreichster Rivale. Auf der Parteikonferenz von Lo-chuan im Oktober 1937 formierten sich die Mao-Opponenten unter Changs Führung, der noch im März 1937 zum Chef der Shensi/Kansu/Ninghsia-Sowjetregierung aufgestiegen war. Darauf brach Mao die Diskussion ab und stellte Chang unter Hausarrest. Diesem gelang im April 1938 eine abenteuerliche Flucht in das Kuomintanggebiet; seine Anhänger wurden erschossen. Der jetzt als Emigrant in Hongkong lebende Chang mußte sich — wie der Verfasser feststellen konnte — aus Gründen persönlicher Sicherheit unter den Schutz von Freunden begeben, die ihn nach außen abschirmen und seinen Aufenthalt bis heute strikt geheimhalten; Chang Kuo-tao will Attentaten entgehen und nicht das Schicksal Leo Trotzkys teilen . . .

In der seit 1938 auf ihn ausgerichteten Führerpartei konnte Mao bei äußerlich geringerem Drude eine viel größere Einheitlichkeit und Konsistenz der Parteispitze erzielen als dies Lenin oder Stalin seinerzeit in der KPdSU möglich war. Ein Vergleich mit der vormaoistischen Parteiführung: In den neun Jahren seit Partei-gründung am 1. Juli 1921 bis 1930 wurden drei Parteichefs als „Trotzkisten-Putschisten“ verbraucht; sie stehen heute als mehr oder minder abgestufte „Geister der Finsternis“ im kommunistischen Götterhain: Chen Tu-hsiu (Juli 1921 bis Juli 1927), Chü Chiu-pai (August 1927 bis August 1928) und Li Li-san (September 1928 bis Dezember 1930). In den vier Jahren bis 1934 wechselten sich im Gefolge der sehr gefährlichen Spaltung von 1930 sogar drei Parteichefs ab: Wang Ming = Chen Shao-yü (Januar 1931 bis Sommer 1932), Po Ku = Chin Pang-hsien (Sommer 1932 bis Januar 1934) und Chang Wen-tien = Lo Fu bzw Ssu Mei (Januar 1934 bis Januar 193 5). Die erbitterten innerparteilichen Fraktionskämpfe zwischen 1921 und 1934 spiegelten den Zickzackkurs ihres Befehlsorgans, der Stalinschen Kominternzentrale wider Sie führten fast zur Selbstvernichtung der KPCh. Maos frühere Gegenspieler Li Li-san, Wang Ming, Chang Wen-tien und Wang Chia-hsiang behielten auf dem VII. Parteikongreß 1945 ihren Sitz im ZK und übten bzw. üben heute gewisse Funktionen im Partei-oder Staatsapparat aus (Li Li-san etwa von 1949 bis 1959 als Arbeitsminister) — sie sollen durch Übernahme begrenzter Kompetenzen zeitlebens „reformiert werden.

Pekings „parteifeindliche Fraktion'7

Die KPCh konnte unter Maos Führung jene von der KPdSU her bekannten Schismen und spektakulären Säuberungen innerhalb der obersten Führung im großen und ganzen vermeiden. Die Zusammensetzung des ZK zwischen dem VII. und dem VIII. Parteikongreß zeigt eine auffallende Kontinuität, wie man sie beim ZK der KPdSU zwischen dem XVIII. Parteikongreß 1939 und dem XIX. Parteikongreß 1952 vergeblich sucht. Eine im Westen kaum gewürdigte sensationelle Säuberung erschütterte indessen den obersten Führungskern und die gesamte Parteiorganisation in den Jahren 1953 bis 1955. Vom 6. bis 10. Februar 1954 trat das damals 44köpfige ZK-Plenum nach fast vierjähriger Unterbrechung erstmals wieder zur vierten Sitzung nach dem VII. Parteikongreß zusammen. Es wurde für den „in Ferien befindlichen" Mao von Liu Shao-chi geleitet und war der „Verbesserung der Parteidisziplin''gewidmet. Spätere Dokumente enthüllten, daß auf dieser Tagung die „parteifeindliche Gruppierung um Kao Kang und Jao Shu-shih" entmachtet wurde. Jao Shu-shih war Parteichef von Schanghai und Ostchina sowie Leiter des-ZK-Orgbüros (er wurde aus der KPCh ausgestoßen; sein Schicksal ist unbekannt). Der Kleinbauernsohn Kao Kang war in den dreißiger Jahren der berühmte, von Mao unabhängige, kommunistische Partisanenführer in seiner Heimatprovinz Shensi. Seit 1945 rangierte dieser radikale, unabhängige Feuerkopf — der „Pekinger Trotzky" — an sechster Stelle in Maos Politbüro. Als Parteichef und Gouverneur der Mandschurei sowie als Chef der Staatsplan-

kommission entfaltete der selbstherrliche Kao Kang große Macht. Sein geheimnisumwitterter „Selbstmord“ im Gefängnis wurde offiziell erst ein Jahr später, im März 1955, bekanntgegeben.

Als parteiamtliches Motiv seiner Verdammung galt sein (von Stalin unterstütztes) Streben nach größtmöglicher regionaler Autonomie.

Entscheidend für seinen Sturz und Tod war aber Kaos Unterliegen im gefährlichsten Spaltungsvorgang der KPCh seit der Machtergreifung 1949. Denn Kao Kang — nach Mao „der Führer, der stets korrekt denkt und handelt“ — forderte bereits im Frühjahr 1952 die sofortige Zwangskollektivierung und eine schnelle Industrialisierung nach dem Vorbild des ersten Sta-linschen Fünfjahresplans. Er ging so weit, alle jene, die sich diesem Programm widersetzten — damals auch Mao —, des Verrats am Kommunismus zu beschuldigen. Diesen Angriff gegen das innere Gefüge der Parteispitze und gegen die damalige Generallinie konnte Mao nur mit stalinistischen Methoden abschlagen und überwinden, Aber Kao Kang siegte nach der Exekution: Seit 1955 (Konferenz der Provinz-Parteiführer mit Mao 31. 7. /1. 8. 195 5 an unbekanntem Ort) und seit 1958 (Sitzung des Politbüros vom 17. bis 30. 8. 1958 in Peitaiho) erhob Mao in zwei gewaltigen Anläufen Kao Kangs Programmatik, nach orthodox-marxistischem Denken ebenso wie Li Li-sans Kurs eine »linkstrotzkistische Abweichung“, zur neuen Generallinie. Das ist Maos Begriff von „Pu-tuan ko-ming" oder „permanenter Revolution“. Diese das gesamte Führerkorps erfassende Säuberung enthüllte einen keineswegs „monolithen* Block, sondern gab den Blick auf eine von heftigen Machtkämpfen geschüttelte Partei frei. Ein Vergleich der parteiamtlichen Protokolle zwischen April 195 5 und September 1956 ergab weitere, im Gefolge der Kao Kang-Krise durchgeführte, aber nie von Peking publizierte Degradierungen innerhalb der Führungsgruppe. So rutschte Peng Chen vom siebenten auf den elften Rang ab; Chang Wen-tien wurde vom zehnten Platz des Politbüros zum Politbüro-Kandidaten mit der Nummer 22 zurückgestuft; Kang Sheng wurde sogar vom sechsten Rang des Politbüros zum vorletzten Politbüro-Kandidaten degradiert. Seit 1957 gibt es bis heute laufende umfangreiche Umbesetzungen und Degradierungen zwar nicht in der Spitze, aber im höheren Führer-korps auf Provinzebene — alles Altkommunisten — im Zuge der nie endenden „Cheng Feng-Reform“ aller Kader der KPCh.

Interessen-Kolisionen im Politbüro

Welche aktuellen und potentiellen Störfaktoren können wir in der Parteiführung diagnostizieren? Die Verfolgung der gemeinsamen Grund-ziele des obersten Führungsgremiums dürfte zunehmend durch Interessen-Kollisionen gestört werden. Diese sind in den funktionellen Verflechtungen der Parteiführer und der durch sie repräsentierten Apparate begründet. In der Sowjetunion existieren heute fünf ausgebildete Machtträger, nämlich Partei, Staat, Wirtschaft, Armee und Polizei, deren Exponenten nach dem Tode des Autokraten Stalin in scharfe Machtkämpfe verstrickt waren. In China ist diese differenzierte Aufteilung noch nicht so weit gediehen. Das Problem der in China bestehenden drei Machtinstrumente (Parteiapparat, Staats-und Wirtschaftsbürokratie, Armee), die Tendenzen zu einer gewissen funktionellen Autonomie zu zeigen beginnen, wird vermutlich im nächsten Jahrzehnt an Gewicht gewinnen. Denn schon heute dürfen diese drei Apparate im Politbüro als separate „pressure groups" gelten. Kraft seines Prestiges gelang es Mao bisher, in seiner Hand die erforderliche Integration durchzuhalten. Wird diese zentrale Führungsausgabe der Ausbalancierung und Koordinierung der drei Machtträger Maos Nachfolger in gleicher Form möglich sein? Diese Frage ist nicht ohne weiteres zu bejahen. Im Politbüro besteht derzeit zwischen Partei, Staat und Armee ein „Gleichgewicht der Kräfte“. Nach dem Abgang Maos wird man versuchen, die potentiell zentripetalen Kräfte mit Hilfe einer Art Kollektivführung zu meistern. Wie weit und wie lange das erfolgreich sein wird, steht dahin.

Kontroversen um die Generallinie

Als zweiter Spannungsfaktor innerhalb der nachmaoistischen Führungsspitze könnten sich die 1955/56 ausgebrochenen, im Mai 1958 von Liu Shao-chi eingestandenen und bis heute nicht entschiedenen Kontroversen über die Generallinie in der Wirtschaftspolitik erweisen. Trotz Maos autoritativer Präsenz hat sich hier in den letzten Jahren eine deutliche Frontenbildung herauskristallisiert. Es dreht sich um jene Grundfrage, mit deren Lösung oder Nichtlösung das kommunistische System in China steht oder fällt: In welchem Tempo, mit welchen Mitteln und unter welchen Formeln soll der Industrie-aufbau und — vor allem — die Kollektivierung der Bauernschaft vorangetrieben werden? Den „linken“ Flügel bilden die „idealistischen Utopisten" oder „Schocktherapeuten“, repräsentiert durch Mao und Liu Shao-chi. Diese Gruppe gab und gibt den subjektiven, willensmäßigen und dogmatischen Faktoren beim Wirtschaftsumbau, die ja gleichzeitig Seinsveränderung sein solt den Vorrang. Auch die Idee der Volkskommunen als dem „Kurzweg“ zum Kommunismus wurde im Zeichen des „Großen Sprungs nach vorwärts“ in dieser Zirkel geboren. Unter dem Leitmotiv, politisches Einpeitschen sei wichtiger als wirtschaftliche Planung, erklärte Liu auf dem VIII. Parteikongreß 1956 unter anderem: „Es ist der Mensch, der zählt, die subjektive Initiative der Massen ist eine mächtige Antriebs-kraft.“

Den „rechten“ Flügel bilden die „materialistischen Pragmatisten“ oder „Homöopathen“, repräsentiert durch Chou En-lai und Chen Yün. Diese Gruppe unterstrich und unterstreicht das Primat der objektiven, administrativen und praktischen Bedingungen. So warnte Chou Enlai bei der Vorlage des zweiten Fünfjahresplans auf dem VIII. Parteikongreß nach der Rede Lius zweimal vor „blindem Vorgehen". Er erklärte, die Kampagne zur vorfristigen Erfüllung des ersten Fünfjahresplans habe zur finanziellen Zerrüttung und zur Vergeudung von Rohstoffen und Menschenkraft geführt. Die „Pragma-tisten" hielten sich bei der Propagierung der Volkskommunen zurück und sammeln sich unter dem Slogan: „Das Land muß unter Gesamt-analyse der objektiven Bedingungen wie ein koordiniertes Schachspiel geleitet werden." Die bisher voll und ganz in die Partei integrierte Armee scheint sich in diesem Grundsatzstreit unentschieden zu verhalten. Da etwa vier Fünftel der Soldaten vom Lande stammen, dürfte das Offizierskorps aus disziplinarisdien Gründen eher „den Pragmatisten“ als den „Utopisten“ zuneigen. Die Stärke der „Utopisten“ zeigte sich als Verteidigungsminister Marschall Peng Te-huai im September 1959 abgelöst wurde, weil er gegen den Arbeitsdienst der Truppen in den Volkskommunen opponiert hatte. Diese Richtungskämpfe konnten bisher unter Mao durch immer wieder neu ausgehandelte Kompromisse beider Flügel notdürftig verschleiert und „beigelegt“ werden. Der im September 1960 proklamierte relative Kurswechsel in der Planwirtschaft mit der stärkeren Betonung der Landwirtschaft, angesichts der Erntekatastrophen von 1959 und 1960, deutet darauf hin, daß gegenwärtig die „Pragmatisten“ nach dem Festlaufen des früheren Kurses Oberwasser bekommen haben. Nadi dem Ausscheiden des Integrationsfaktors Mao dürften diese im Kommunismus system-immanenten Fraktionskämpfe um die zukünftige „richtige“ Generallinie eine Verschärfung und Zuspitzung erfahren.

Aspekte der Allianz mit Moskau

Ein drittes Moment innerparteilicher Auseinandersetzungen kann sich auf Form und Natur des Bündnisverhältnisses mit der Sowjetunion konzentrieren. Hier sollen nicht die kohäsiven und disjunktiven Elemente in der Allianz Chinas mit der Sowjetunion analysiert werden. Ohne von westlichem Wunschdenken inspirierten Hypothesen nachzujagen, kann man vereinfacht sagen: 1. Die beiderseitigen Beziehungen werden seit Abschluß des 30jährigen Freund-sdiafts-, Bündnis-und Beistandspaktes vom 14. Februar 1950 nicht durch einen ideologischen Automatismus geregelt. 2. In Sicht Pekings dreht es sich vielmehr und vorrangig um zwingende konkrete wirtschafts-, militär-und machtpolitische Interessen und Ambitionen, deren Erfüllung nur mit Hilfe des Seniorpartners möglich ist. Mit einem Wort: China kann nur durch das Bündnis mit der Sowjetunion Großmacht werden.

Für die nächsten mindestens zehn bis fünfzehn Jahre bedeutet das eine fundamentale industrielle, wissenschaftlich-technische und militärische Abhängigkeit Pekings von Moskau. Diese Abhängigkeit übt jedoch gegenüber dem „Großen Bruder“ eine eigenartige Hebelfunktion der Erpressung aus. Das ist im Licht der beiderseitigen, zwingend gebotenen Interessen-Verknüpfung die spezifische „Stärke der Schwäche“ des ehrgeizigen Juniorpartners. Aber auch der Kreml hat es natürlich in der Hand, durch Gewährung oder Verweigerung substantieller Hilfsprogramme indirekt Einfluß auf die inneren Auseinandersetzungen in Peking zu nehmen. Unter Maos Erben dürfte es eine Gruppe geben, die dafür eintritt, den Sowjets im eigenen Lande weniger Kontroll-und Mitspracherechte zu gewähren als bisher. In einer Nachfolgekrise oder unter einem weniger fähigen Nachfolger als Mao könnten die taktischen Differenzen, verbunden mit den oben skizzierten beiden Kontroversproblemen, für ein stärkeres China vielleicht einmal strategische Bedeutung gewinnen.

Gelber „Bonapartismus"?

Könnte der nachmaoistischen Parteiführung dereinst vielleicht die Gefahr des „Bonapartis-mus" drohen? Alle Mitglieder des Politbüros waren während des Bürgerkrieges entweder Armeeführer oder Chefs der Politabteilungen der Truppen. Keiner der zehn im September 1955 zu Marschällen beförderten Bürgerkriegs-Generale (Chu Teh, Lin Piao, Lo Jung-huan, Chen Yi, Peng Te-huai, Lui Po-cheng, Ho Lung, Nieh Jung-chen, Hsü Hsiang-chien, Yeh Chien-ying) ist der KPCh später als 1928 beigetreten. Ein Bruch zwischen Armee-und Parteiführung ist daher wegen der engen personellen bzw. politisch-militärischen Verzahnung schwer vorstellbar. Aber Mao weiß aus der Geschichte Chinas nur zu gut, daß regionale Kriegsherren oft in der Lage waren, separatistische Ziele zu verfolgen oder die Zentralregierung zu stürzen. Eine historische Reminiszenz: Die meisten Gründer der Dynastien seit 221 v. Chr., als Kaiser Shih Huang-ti die zweihundertjährige „Periode der kämpfenden Reiche" mit der Errichtung des Kaiserreiches beendete, waren Generale; seit dem Sturz der Mandschu-Dynastie 1911 war politische Macht in China identisch mit militärischer Macht gewesen.

Lim die Jahreswende 1953/54, also bei der Erschütterung durch die Spaltung um Kao Kang, war Mao genötigt, gewisse Autonomie-Tendenzen der seit 25 Jahren (Kiangsi/Yenan-Periode) auf ihn eingeschworenen Provinz-Militärchefs scharf zu kritisieren, die damals in Personal-union auch Verwaltungschefs ihrer riesigen Territorien waren. Mao zeigte sich entschlossen, die potentielle politische Macht der Militärgouverneure, die ihm gefährlich zu werden drohte, zu beschneiden. Im Juni 1954 wurden eine zen-tralistische Kontrolle der Streitkräfte eingerichtet, die Verschmelzung militärischer und administrativer Befehlsgewalt abgeschafft und alle Politbüro-Mitglieder nach Peking zurückbeordert. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich Unabhängigkeitsbestrebungen der führenden, dann in Spitzenfunktionen einrückenden Nachwuchs-Militärs nach dem Abgang Maos stärker als bisher zur Geltung bringen werden.

Folgen des Generationenwechsels

Um 1970 wird der unvermeidliche Prozeß der Verjüngung und damit der Teil-und Gesamter-neuerung der Führungsgruppe abgeschlossen sein oder doch vor dem Abschluß stehen. Schon 1956 standen bereits 67, 5 Prozent der damals 10, 7 Millionen zählenden Mitgliedschaft der KPCh im Alter von 26 bis 45 Jahren; nur 7, 6 Prozent waren über 46 Jahre alt. Zu Beginn des nächsten Jahrzehnts werden die „zweiten Erben“ Maos, die heute für uns erst in unprofilierten Konturen zu erkennen sind, die Schlüsselpositionen in einer sich mehr und mehr differenzierenden Gesellschaftsordnung besetzt haben. Vielleicht wird dann — wie in Moskau — das ZK-Sekretariat zum Führungsinstrument aufsteigen mit dem Ziel, neuer kollektiver Integrationsfaktor zu werden. Es ist zu erwarten, daß im Laufe der nächsten Jahre die mit einer Ausnahme sämtlich in den Fünfzigerjahren stehenden ZK-Sekretäre, ob sie gegenwärtig dem Politbüro angehören oder nicht, an Einfluß gewinnen werden. Als aufstrebender Kopf aus dem ZK-Apparat sei hier noch der aus der Provinz Hunan stammende An Tzu-wen genannt; er ist Chef des ZK-Orgbüros, jener Plattform zum Aufstieg Stalins und Liu Shao-chis.

Im nächsten Jahrzehnt wird der (lebende oder tote) Parteigott Mao für seine Nachfolger — gleich Lenin für die Elite der KPdSU der dreißiger Jahre — nur noch eine verehrungswürdige, nahezu legendäre „nationale Institution" sein. Die Männer der zweiten Führergeneration rekrutieren sich aus der Peripherie des weitver-zweigten ZK-Apparates und aus den Partei-organisationen der 25 Provinzen und autonomen Gebiete. Dazu gehören auch die zwölf wichtigsten Großstadt-Parteisekretäre, die auf der Beförderungsliste stehen und dazu ausersehen sind, später einmal eine zentrale Rolle zu spielen. Niemand indessen vermag zu prognostizieren, welcher ehrgeizige „Mann von übermorgen“ in den Kulissen schon auf sein Stichwort für das Auftreten im künftigen machtpoli-tischen Drama wartet. Diese „kanpu (Kader) neuen Typs“ werden trotz angestrebter Fortführung der Kontinuität andere Erfahrungen und Anschauungen haben als die Begründer der Revolution. Der forcierten Industrialisierung und der damit verbundenen weitgehenden Aufteilung der gesellschaftlichen Funktionen wohnt eine Eigengesetzlichkeit inne. Diese Tatsache wird auch im Lande der „blauen Ameisen“ innerparteiliche Konsequenzen haben.

Die Zukunft der KPCh

Stößt man zum Kern der chinesischen Grund-gegebenheiten vor, so sehen sich die Erben und Nacherben Maos letztlich jener zentralen Aufgabe gegenüber, welche die chinesische Geschichte allen kaiserlichen Dynastien gestellt hat. Will die KPCh überleben, so muß sie, wie jedes frühere Regime Chinas, ob kaiserlich-autokratisch oder nationalistisch-autoritär, es erreichen, Chinas drei gesellschaftliche Hauptkräfte — die Bauern, die Soldaten und die Intelligenz — auf Dauer in das Systemgefüge zu integrieren. In klarer Erkenntnis dieser Aufgabenstellung beschloß Mao zuerst im Februar 1932, dann verstärkt im August 1937, nach Ausbruch des Japanisch-Chinesischen Krieges, neben und hinter der herrschenden Kuomintang-Regierung seine nationalrevolutionär drapierte Koalition Bauer-Soldat-Intellektueller aufzubauen. Dieser Entschluß erwies sich neben den inneren Schwächen und taktischen Fehlern der Nationalregierung als Schlüssel zum schließlichen Triumph des Kommunismus in China.

Das Bündnis von Soldaten, Bauern und Intellektuellen führte auch 1926/27 die damals vom ganzen Volk getragene nationalistische Kuomintang-Revolution unter General Chiang Kai-schek, dem Erben Dr. Sun Yat-sens, zur siegreichen Wiedervereinigung des im Chaos auseinandergebrochenen republikanischen China. Und wie verlief die von dem großen Reform-Idealisten Sun Yat-sen (1886 bis 1925) inspirierte republikanische Revolution von 1911, die mit dem Untergang der Mandschu-Dynastie das unwiderrufliche Ende des konfuzianischen Universalstaates brachte? Sie war das Werk einiger im Westen erzogener Männer und wurde unter nur passiver Duldung der breiten Massen durchgeführt. Dieser Revolution ermangelte, abgesehen von den Geldspenden der „nationalen Kapitalisten“, nicht einige militärische Unterstützung. Aber der aktive Beistand der Bauern fehlte; zudem vermochten sich die Republikaner nicht die ursprünglich vorhandene Sympathie der Intelligenz zu erhalten.

So schlug diese Revolution fehl: sie endete in der Militärtyrannei der Jahre 1916 bis 1925, als das Reich und die politische Macht eine Beute der Banditen-Generale und räuberischen „Chün-fa“ (warlords) wurden. Diese bei uns weithin unbekannten historischen Parallelen sind dem sich in der Geschichte auskennenden Mao wohlbekannt. Chu Teh sprach nach seiner Vereinigung mit Maos Bauernbataillon in der Banditen-Bergfestung des Ching-Kang-shan (Grenze der Provinzen Hunan und Kiangsi) im April 1928, die den Grundstein zum Aufbau der späteren Roten Bauernarmee legte, das berühmt gewordene Wort: „Das Volk ist das Meer, wir sind die Fische. Solange wir in diesem Meer schwimmen können, werden wir leben!“ Hier schlägt wieder unverkennbar das Fundamental-prinzip chinesischer Staatskunst durch. Daß Mao aus gutem Grund niemals öffentlich zugegeben hat, die Integration der Bauern, Soldaten und Intellektuellen sei sein und seiner Nachfolger Problem, spielt keine Rolle. Denn auch der heute zum Gott überhöhte rote Kaiser weiß nur zu genau, daß dieses Grundgesetz chinesischer Geschichte auch und gerade für seine Erben unverminderte Geltung behalten wird.

Fussnoten

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